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In der Grenzstadt Kilis zählt die Verwaltung 93 000 Türken – und 131 000 Syrer.

© dpa

Türkei: Vom Flüchtling zum Millionär

Die syrischen Flüchtlinge schlagen Wurzeln in der Türkei – auch ohne eine staatliche Integrationspolitik.

Yaser Haddad hatte einen Traum und knapp 20 Euro in der Tasche. Als der heute 32-Jährige nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges vor sechs Jahren in die Türkei kam, nahm er jede Arbeit an, die er bekommen konnte. Vor drei Jahren hatte er genug gespart, um sich als Fremdenführer für arabische Touristen in Istanbul selbständig machen zu können; dabei setzte er stark auf Werbung in sozialen Medien, wie er der Zeitung „Hürriyet“ erzählte. Heute ist Haddad ein Reiseunternehmer, der monatlich 150 arabische Besucher in die Türkei bringt und 45 Angestellte beschäftigt – und er ist Millionär.

Haddads Erfolgsgeschichte zeugt nicht nur vom Unternehmergeist des Syrers; sie demonstriert auch, welche Wurzeln die drei Millionen syrischen Flüchtlinge während der langen Kriegsjahre in der Türkei geschlagen haben. Die meisten wollen nicht mehr zurück nach Syrien: Drei von vier Syrern in der Türkei wollen die Staatsbürgerschaft ihrer neuen Heimat annehmen.

Die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen gehört zur Geschichte der Türkei: Als nach dem Ersten Weltkrieg die Republik gegründet wurden, strömten hunderttausende Muslime aus ehemals osmanischen Gebieten auf dem Balkan und dem Kaukasus ins Land. In jüngerer Vergangenheit nahm die Türkei viele bulgarische Muslime und irakische Kurden auf. Diese historischen Erfahrungen sind Gründe dafür, warum die Türken die Ankunft von Millionen Syrern relativ gleichmütig hingenommen haben, wenn auch inzwischen Spannungen sichtbar werden.

An eine Rückkehr nach Aleppo denkt Mohammed nicht: „Da ist doch Krieg.“

Allein für die humanitäre Versorgung der Syrer hat Ankara mehrere Milliarden Euro ausgegeben und sich mit der Hilfe viel internationales Lob verdient. Im Flüchtlingsabkommen mit der EU hat sich die türkische Regierung zudem verpflichtet, die Syrer nicht mehr nach Westen weiterreisen zu lassen. Einige zehntausend Flüchtlinge sind in befriedete Gebiete in ihrem Heimatland zurückgekehrt, doch die allermeisten sind geblieben.

Angesichts der zerstörten Städte und der Gefahr durch die anhaltenden Kämpfe, die in Syrien fast jeden Tag unschuldige Zivilisten das Leben kosten, ist es kein Wunder, dass viele Flüchtlinge in der Türkei ihr Glück finden wollen. Mohammed, ein junger Mann von 20 Jahren, kam vor zwei Jahren aus der nordsyrischen Metropole Aleppo in die Türkei. In Istanbul arbeitet er im Geschäft seines Vaters, der Kühlschränke verkauft. An eine Heimkehr ins zerstörte Aleppo denkt er nicht, wie er sagt: „Da ist doch Krieg.“

Mohammed hat noch Glück gehabt, denn die allermeisten seiner Landsleute in der Türkei sind arbeitslos. Die wenigsten haben eine offizielle Arbeitsgenehmigung, viele schlagen sich als Hilfsarbeiter durch, die sich für weniger als zehn Euro am Tag auf dem Bau oder in der Landwirtschaft verdingen und sich damit bei den Türken angesichts einer Arbeitslosigkeit von zwölf Prozent sehr unbeliebt machen. „Die arbeiten für Dumpinglöhne und ohne Versicherung – da können die Türken nicht mithalten“, sagt Ibrahim, ein Istanbuler Teeverkäufer. Vielfach werden Syrer der Bettelei, des Taschendiebstahls und schlimmer Vergehen bezichtigt.

Erdogan prüft die Einbürgerung der Syrer

Aus dem Zentrum von Istanbul, wo noch vor Kurzem viele syrische Bettler auf den Straßen zu sehen waren, sind die meisten Flüchtlinge mittlerweile verschwunden – „die Leute von der Stadtverwaltung jagen sie fort“, hat Ömer beobachtet. Zudem seien so viele Syrer nach Europa weitergezogen, dass einfach nicht mehr so viele in der Türkei seien wie noch vor einigen Jahren. Dennoch leben laut Regierungsangaben rund 2,7 Millionen Syrer in der Türkei. Mancherorts sind die Flüchtlinge sogar in der Mehrheit. In der Grenzstadt Kilis zählt die Verwaltung 93.000 Türken – und 131.000 Syrer.

Offiziell sind die Syrer willkommene „Gäste“, zumal sie inzwischen mit den von ihnen gegründeten Unternehmen rund 100 000 Arbeitsplätze in der Türkei sichern. Doch im Alltag werden Syrer häufig angefeindet. In einer Umfrage der türkischen humanitären Stiftung Ingev klagte kürzlich jeder zweite syrische Flüchtling über Ausgrenzung. Nur einer von vier Syrern kann Türkisch lesen oder schreiben. Laut einer Medienuntersuchung sind die Syrer neben den Juden die Volksgruppe, die in der Türkei am häufigsten mit Hassparolen angefeindet wird. Dennoch sieht jeder zweite Syrer der Umfrage zufolge seine Zukunft dauerhaft in der Türkei, 74 Prozent wollen einen türkischen Pass.

Präsident Recep Tayyip Erdogan prüft die Einbürgerung der Syrer, was die Opposition argwöhnen lässt, die Regierung betrachte sie als ihre potenzielle Wähler. „Ich glaube nicht, dass dies zusätzliche Stimmen für Erdogan bringen würde“, sagt Behlül Özkan, Politologe an der Istanbuler Marmara-Universität. Was die Regierung potenziell an Neuwählern gewinnen könnte, werde ihr andernorts möglicherweise verloren gehen. Laut Umfragen sind die meisten Türken dagegen, den Syrern türkische Pässe zu geben. Vor allem nationalistische Wähler – ein von der Erdogan-Partei AKP umworbenes Segment – sind gegen die Masseneinbürgerung. Özkan und andere Experte fordern, Ankara solle mehr dafür tun, die Syrer in die türkische Gesellschaft zu einzugliedern.

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