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Pen-Tagung in Hamburg.
Das "Pen-Zentrum Deutschland" - die im November 1948 gebildete Gruppe des internationalen PEN - trat am 12-4-49 in Hamburg zu einer ersten Tagung zusammen.
Unser Bild zeigt die erste Arbeitssitzung im Kleinen Sitzungssaal des Hamburger Rathauses. V.r.n.l. um den Tisch sitzend: Prof. [Herbert] Friedmann - Dolf Sternberger - Axel Eggebrecht - Herbert Eulenberg - Hermann Kasack - Rudolf Schneider-Schelde (stehend) - Erich Kästner - Hanns Hennry Jahnn und Ernst Penzoldt.
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© Bundesarchiv, Bild 183-R76032 / CC-BY-SA 3.0

Tagesspiegel vom 9. Oktober 1947: Den Triumph der Willkürmeinung verhindern

Zwei Jahre nach dem Ende der Nazizeit schrieb der Politikwissenschaftler und Publizist Dolf Sternberger im Tagesspiegel über öffentliches Gespräch und öffentlichen Geist.

Der Politikwissenschaftler und Journalist Dolf Sternberger (oben im Bild ganz rechts bei einer PEN-Tagung 1949) publizierte in der Nachkriegszeit oft im Tagesspiegel. Der folgende Beitrag Sternbergers erschien am 9. Oktober 1947. Weitere Artikel aus der Frühzeit des 1945 gegründeten Tagesspiegels, unter anderem von Tagesspiegel-Gründer Erik Reger, lesen Sie hier auf dieser Themenseite. Zitate und Beiträge Regers und anderer Tagesspiegel-Autoren aus jener Zeit finden Sie hier bei X (vormals Twitter).

Die öffentliche Meinung ist, genau besehen, nichts anderes als die Gesamtheit der Meinungen aller Leute, die eine Meinung haben. Diese Gesamtheit ist nun freilich nicht als die Summe oder Addition der Meinungen von Meier, Müller, Schulze, Hinz und Kunz aufzufassen, sondern als ein vielfältiges und buntes Gewebe aus den jeweils geläufigen Gemeinplätzen und Redensarten und aus den mehr oder minder autoritativen Ansichten von Personen, auf die man hört, und von denen viele empfinden, daß sie ihnen aus dem Herzen sprechen, sobald sie gesprochen haben. Es handelt sich also um die Gesamtheit eines wogenden und immerfort währenden öffentlichen Gespräches. Dieses Moment tritt leider in dem herkömmlichen Ausdruck „öffentliche Meinung" nur wenig oder eigentlich gar nicht hervor. Deswegen erscheint es mir besser, man würde für den freien und durch gute Sitten geregelten Austrag des öffentlichen Gespräches sorgen als bloß dafür, daß private Meinungen zu öffentlichen Meinungen werden. Eine Meinung als solche ist ja auch noch nicht interessant. Sie wird es erst dadurch, daß etwas nicht nur gemeint, sondern auch wirklich getroffen wird.

Erst eine zutreffende Meinung, mit anderen Worten: eine Einsicht oder eine Wahrheit ist von öffentlichem, ist überhaupt von menschlichem Interesse. So kann zum Beispiel jemand meinen, es sei gut, wenn man alle Mitglieder irgendeiner Organisation, sagen wir: der Freien Demokratischen Partei, einsperrte; oder es sei gut, wenn alle erwachsenen Deutschen gezwungen würden, irgendeiner Partei beizutreten (und die Jugendlichen obendrein einer Jugendgruppe); aber solche Meinungen sind doch recht uninteressant, einfach deswegen, weil sie unwahr sind. Es ist, in Wahrheit, eben nicht gut, die Mitglieder der Liberalen Partei einzusperren, und es ist auch, in Wahrheit, nicht gut, alle Leute zu zwingen, einer Partei beizutreten, auch dann nicht, wenn es eine Auswahl von Parteien gibt und nicht bloß eine einzige. Dafür haben wir nämlich unser Lehrgeld bezahlt, ein Lehrgeld von mindestens zwölf Lebensjahren, daß wir wirklich wissen: dergleichen ist nicht gut, sondern gut ist die gegenseitige Achtung, und gut ist vor allen Dingen die Freiheit.

Meinungen von der Art, die ich angeführt habe, sind keine Einsichten, sondern bloße Willenskundgebungen, und zwar Kundgebungen nicht des guten, sondern des bösen Willens, das ist: der Willkür. Sie können, wie wir unter den Nationalsozialisten gesehen haben, gräßlich wirksam werden, wenn der Wille, der sie ausgebrütet hat, triumphiert. Den Triumph der Willensmeinung und der Willkürmeinung zu verhindern, ist die öffentliche Meinung im Sinne eines öffentlichen Gespräches da. Hier steht nicht nur Wille gegen Wille und Meinung gegen Meinung, sondern es wird mit gutem Willen die zutreffende Meinung, das heißt die Einsicht, gemeinsam gesucht. Im „Dritten Reich" gab es keine öffentliche Meinung, sondern wir hatten auf der einen Seite die veröffentlichte Meinung, nämlich die Willkürmeinung des Propagandaministers, und auf der anderen Seite allenfalls eine geheime Meinung im Flüsterton und im übrigen eine schwer faßbare Volksstimmung. Eine Meinung ist aber mehr als eine Stimmung, und eine Einsicht ist mehr als eine Meinung. Deshalb prägte der Philosoph Karl Jaspers in einer seiner Reden sogar den Satz: „Der Gewinn der Einsicht, die Freiheit, fordert Ueberwindung der bloßen Meinungen." Das wollen wir uns von einem Philosophen gesagt sein lassen — selbst wenn er gar keiner politischen Partei angehören sollte.

Für jeden einzelnen Angehörigen des Volkes entsteht die praktisch-politisch sehr wichtige Frage: wo und wie komme ich in diesem öffentlichen Gespräch zu Worte, wenn ich etwas dazu beizutragen wünsche? Natürlich findet dieses Gespräch alle Tage auf allen Gassen und zumal in allen Eisenbahnzügen statt. Die Wirtshäuser spielen heute offenbar nur eine geringe Rolle, und die vielverlästerten Kaffeehäuser vollends sind ganz untergegangen. Nebenbei wäre zu bemerken, daß viele von den Leuten, die in der Eisenbahn ihre sogenannte ungeschminkte Meinung sagen, sich und anderen gern einreden, dies sei gar keine öffentliche, sondern eine ganz geheime Meinung, ja eine verbotene Meinung, die sie äußern; sie strafen sich natürlich mit jedem Worte Lügen, da sie ja vernehmlich genug reden. Außerdem gibt es aber die großen Orte und Mittel der Unterrichtung und Meinungsbildung: die öffentliche Versammlung, die Presse (und die Literatur überhaupt) und das Radio. Form und Kunst der Versammlung haben sich in den zwei Jahren seit der Kapitulation nur sehr schwach entwickelt; wir haben zwar zahlreiche „Kundgebungen", meistens, nach berühmten Mustern, sogar „Groß-Kundgebungen" genannt, aber nur sehr wenige eigentliche, echte Versammlungen erlebt. Daß „Kundgebungen" nicht ein öffentliches Gespräch sind, sagt schon der Name. Die Forderung, auf die es ankommt, ist die Forderung der Einsicht, die die bloßen Meinungen überwindet. Man könnte, statt vom „öffentlichen Gespräch", auch vom öffentlichen Geiste reden. Entscheidend ist in einem Gemeinwesen der Geist, der darin herrscht, keineswegs der nackte Wille oder das brutale Interesse, sei es das Interesse einer Klasse, einer Partei, eines einzelnen, oder sei es auch selbst das Interesse eines ganzen Volkes — denn auch ein Volk ist ja nicht allein auf der Welt, sondern es muß sich mit anderen Völkern vertragen; sein Wille, der viel zitierte und viel mißbrauchte „Volkswille", bedarf selber der Läuterung, der Korrektur, wenn er nicht zur Volkswillkür entarten soll. Die Volkswillkür ist wohl nahezu immer die Willkür irgendeiner machterstrebenden, machtergreifenden oder machthabenden Gruppe, die für sich in Anspruch nimmt, „das" Volk schlechthin zu repräsentieren. Wir haben also dieser Formel vom Volkswillen gegenüber allen Grund zu äußerstem Mißtrauen. Es könnte leicht sein, daß sie nichts anderes bedeutet als einen in Worten vorweggenommenen Staatsstreich.

Ein württemberg-badischer Landtagsabgeordneter, der verlangte, die parteilose Presse solle ganz verschwinden, bot damit ein charakteristisches Beispiel nicht bloß einer reinen Willensmeinung, sondern geradezu einer Willkürmeinung. Denn er fügte hinzu, die Parteien hätten keine Möglichkeit, einen Einfluß auf die Tagespresse auszuüben. Mit anderen Worten heißt das: da ist etwas, was sich meiner Macht und meinem Einfluß entzieht, also muß es weg. Eine solche Meinung hat zwar Beweggründe, aber keine Rechtsgründe. Von der Willkürmeinung zur Willkürhandlung wäre nur ein kleiner Schritt, wenn man den Mann nur handeln ließe. Aber außer dem Machtinstinkt steht eine Art von Staatstheorie hinter jener Forderung. Es wurde ganz deutlich gesagt, die Parteizeitungen seien nötig, um die Parteien „als die Träger des demokratischen Volksstaates zur Erfüllung ihrer Aufgaben zu befähigen". Da kommt das Prinzip zum Vorschein: die Staatsgewalt liegt unveräußerlich beim Volke, aber die Parteien sind ihre Träger. Man mag darüber nachdenken, ob das Bild des „Trägers" vom Eisenträger herrührt, wie er beim Hochbau vorkommt, oder vom Lastträger oder vom Ordensträger. Aber darüber kann man, wie mir scheint, keinen Augenblick Zweifel hegen, daß diese Theorie von den Staatsträgern grundfalsch ist und zudem lebensgefährlich für denselben demokratischen Volksstaat, den die Parteien zu tragen meinen oder beanspruchen. Wenn nämlich die Parteien den Staat „tragen", so sollte und müßte er eher ein Parteienstaat als ein Volksstaat heißen. Heißt er aber zu Recht ein Volksstaat oder - mit dem griechischen Worte - eine Demokratie, so tragen ihn nicht die Parteien, sondern es trägt oder besser: es bildet und regiert ihn eben das Volk. Selbstverständlich nicht in der altertümlichen Form der Volksversammlung, sondern mittels parlamentarischer Vertretung. Selbstverständlich also auch mittels Parteien, insofern diese eben das Personal der Vertretung wie auch der Regierung beschaffen - dazu braucht man Organisationen, aber der Nachdruck liegt auf dem Wörtchen „mittels". Parteien sind Mittel und nicht Zwecke. Der Volksstaat hat und braucht noch viele andere Formen und Einrichtungen außer den Parteien und selbst außer den parlamentarischen Vertretungskörpern - andere und nicht weniger notwendige Einrichtungen.

Eine davon ist eine unabhängige Presse, die nicht nach Direktiven handelt oder schreibt, die die Nachrichten und Informationen aus allen nur verfügbaren Quellen sammelt, vergleicht und kritisch abwägt, die sich ohne die Scheuklappen des Willens und Wunsches umhört bei den Leuten, um die Meinungen aufzufangen, die tatsächlichen Verhältnisse darzustellen, das Böse aufzudecken und das Gute zu fordern. Kurz: die die Freiheit befördert, indem sie sich frei umtut und mit Freiheit redet. Mit verantwortlichem Freimut natürlich, nicht mit der raunzenden, polternden oder schreienden Stimme dessen, der sich täglich und stündlich seine Freiheit bestätigen muß, weil er sonst selber nicht daran glaubt.Eine solche unabhängige Presse ist genau in demselben Maße ein „Träger" des Volksstaates (wenn wir denn schon diesen mehrdeutigen Ausdruck beibehalten wollen), wie es die Parteien sind. Jedenfalls ist sie eine echt demokratische Einrichtung. Und sie ist eben eine Einrichtung, die das öffentliche Gespräch und den öffentlichen Geist verbürgen hilft. Parteizeitungen enthalten notwendigerweise Parteimeinungen. Meinungen obendrein, die immer bis zu einem gewissen Grade der Parteidisziplin unterliegen werden, die also kaum je mit ihren Nachbarn zu einem solchen öffentlichen Gespräch gelangen werden, worin man die Wahrheit oder das Recht zu finden sucht. Denn es ist notwendig, daß öffentlicher Geist ins Leben tritt und den Willen kontrolliert. Nur im gemeinsamen Geiste und nur mit Geist lassen sich die widerstreitenden Interessen, die feindlichen Willenskräfte und Willensmeinungen ausgleichen und auflösen, wie unter anderen das Beispiel der Familie lehrt, die ja nicht bloß ein Gegenstand des staatlichen Schutzes und also der Staatspolitik ist, sondern außerdem und zuallererst selber ein Feld der Politik des einzelnen Menschen, der menschlichen Politik, wo man streitet und sich verträgt, Krieg führt und Frieden schließt; und wenn der Mensch das Subjekt der Politik ist, so müssen politische Vorgänge und Begriffe gerade in diesem innersten und intimsten Kreise des menschlichen Lebens abgelesen und studiert werden können.

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