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Basis für Deutschland: das Grundgesetz, in Kraft getreten am 23. Mai 1949

© Stephanie Pilick/dpdpa

Tag des Grundgesetzes: Taugt die Verfassung als Leitkultur für Deutschland?

Wer soll in Deutschland wie leben? In der Debatte um Sinn und Unsinn einer Leitkultur taucht sie immer wieder auf: die Verfassung. Zu Recht? Zum heutigen Jahrestag des Grundgesetzes ein Pro & Contra.

PRO von Christoph von Marschall:

Es gibt wenig, worauf Deutsche uneingeschränkt stolz sein dürfen. Das Grundgesetz gehört dazu. Es ist die beste Ordnung, die sich diese Gesellschaft in ihrer langen, widersprüchlichen Geschichte gegeben hat. Wenn es da überhaupt etwas auszusetzen gibt, dann vielleicht dieses: Warum ist der 23. Mai noch immer kein Feiertag?

Wäre er es, würden vielleicht mehr Menschen dieses großartige Dokument zumindest einmal im Jahr lesen und von seiner Poesie und Weisheit ergriffen werden. Es ist kein nüchterner Text, der das Funktionieren von Staatsorganen regelt. Er atmet einen Geist mit seinen Leitlinien für ein glückliches, friedvolles Zusammenleben unterschiedlicher Individuen und für das der Völker.

Individuelle Freiheit, Allgemeinwohl und die Verantwortung, beiden zu dienen, sind die Grundgedanken dieser Leitkultur. „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“, heißt es in der Präambel.

Die ersten 19 Artikel fragen zum Großteil nicht einmal danach, ob ein Mensch Deutscher ist (Ausnahmen davon sind die Freizügigkeit im Bundesgebiet, das Recht auf freie Wahl von Beruf, Ausbildung und Arbeit sowie die Regelung der Wehrpflicht; sie gelten nur für Staatsbürger). Auf die Grundrechte können sich alle berufen, die sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes aufhalten – ein Fortschritt im Vergleich zu vielen anderen Staaten, die die Grundrechte nur ihren Bürgern vorbehaltlos zugestehen, darunter sogar westliche Demokratien.

Die Verfassung als Fundament für einen modernen Patriotismus

Erst nach den Grund- und Bürgerrechten folgen die Vorgaben für den föderalen Staatsaufbau, die parlamentarische Vertretung der Bürger in Bundestag und Bundesrat, den Bundespräsidenten, die Bundesregierung, die Gesetzgebung usw. Ist da irgendetwas dabei, was Deutsche oder Zuwanderer als eine Zumutung empfinden könnten?

Der gedankliche Ansatz des Grundgesetzes war von Anfang an so überzeugend, dass bald der Gedanke aufkam, diese Verfassung könne zum Fundament für einen modernen Patriotismus werden. Deutsche mochten Vorbehalte gegen ihre Geschichte, gegen manche – nun verpönte – Strophen der Hymne, gegen nationale Traditionen haben. Das Grundgesetz bot ihnen die Chance zur Identifizierung und Loyalität. Gewiss wog das in den ersten Jahrzehnten schwerer als heute. Was konnte denn überhaupt noch als „deutsch“ und zugleich als Vorbild dienen? Von dieser Herausforderung handelt, zum Beispiel, Siegfried Lenz’ Roman „Die Deutschstunde“.

Heute ist Deutschland gewiss kein perfektes Land, aber doch eines, das den Vergleich mit anderen nicht zu scheuen braucht. Die Bundesrepublik entwickelt Anziehungskraft – gewiss auch wegen ihres wirtschaftlichen Erfolgs, aber nicht nur deshalb.

Das Grundgesetz hat Deutschland diesen Weg geebnet. Es ermöglicht ein gedeihliches und erfülltes Zusammenleben nicht nur für „Biodeutsche“, sondern auch für Zuwanderer. Jede und jeder darf seine Kultur mitbringen und hier ausleben – solange sie oder er das Grundgesetz als Leitbild akzeptiert. Es setzt der freien Entfaltung nur eine Grenze: die Ausübung eigener Rechte darf nicht die Rechte anderer verletzen. Das ist unsere Leitkultur. Zu Recht.

Die Verfassung ist das Gegenteil von Leitkultur! Ein Contra

Basis für Deutschland: das Grundgesetz, in Kraft getreten am 23. Mai 1949
Basis für Deutschland: das Grundgesetz, in Kraft getreten am 23. Mai 1949

© Stephanie Pilick/dpdpa

CONTRA von Ariane Bemmer:

Das Grundgesetz wurde unter dem Eindruck von Nazi-Deutschland, dem gerade besiegten Massenvernichtungs-, Unfreiheits- und Unrechtsstaat geschrieben, und deshalb wurden an seinen Anfang die Grundrechte gestellt, die den Bürgern zur Abwehr des Staates dienen sollen. Sie schützen das Individuum gegen Willkür, gegen Ungleichbehandlung, gegen Kontrolle des Privaten.

Dass nun genau dieser Grundrechtekatalog immerzu bemüht wird, wenn es um die Organisation des Zusammenlebens der Menschen in Deutschland geht, ist nicht ohne Ironie. Denn was in der Debatte unter dem Schlagwort Leitkultur daherkommt, dient dem Ansinnen, Regeln für das Benehmen der Menschen im Land verbindlich zu machen. Und das Grundgesetz ist seinem Wesen nach das ganze Gegenteil dieses Ansinnens. Es garantiert ausdrücklich jedem „das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“, mit der Einschränkung: „soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“. Das sind hohe Hürden.

Wir haben die Kultur so sehr verinnerlicht, dass wir sie gar nicht mehr als solche wahrnehmen. Nur so kann man überhaupt auf den absurden Gedanken kommen, ein Gesetz an sich wäre schon die Kultur. Das ist ungefähr so, als würde man die Grammatik schon für die Sprache halten. Es ist schlicht ein Kategorienfehler.

schreibt NutzerIn Antonym

Der Staat, das hatte man 1949 noch in den Knochen, ist etwas, das man in Schach halten muss. Diese grundsätzliche Staatsskepsis ist geschwunden. Der Staat ist heute eher der starke Freund, der gegen die gemeinsamen Feinde schützt und dem dafür kleine Übergriffigkeiten (Vorratsdatenspeicherung) nachgesehen werden. Es hat ein Kulturwandel stattgefunden – ein Hinweis darauf, dass Kultur sich schlecht fest- und vorschreiben lässt, weil sie ein Prozess ist. Und noch einen grundsätzlichen Unterschied gibt es: Eine Kultur ist eine Option. Ein Gesetz ist ein Muss. Zuwiderhandlungen werden sanktioniert.

Wer nicht mitmachen will, muss das auch nicht

Wenn sich Deutschland heute darüber Gedanken macht, wie es die vielen Flüchtlinge, die in kurzer Zeit ins Land gekommen sind, integrieren kann, dann ist das richtig. Und auch der Gedanke, dass man nicht fremd im eigenen Land werden möchte, soll, wo er aufkommt, diskutiert werden. Aber im Sinne des Grundgesetzes (also: nicht diskriminierend) und nicht mit ihm als Waffe.

Der Idealfall wäre, dass der Lebensstil, den die Menschen hier mehr oder weniger akzeptieren (was wohl gemeint ist, wenn es in der Politik um Leitkultur geht), aus sich heraus eine Anziehung entwickelt und bei Neubürgern den Wunsch weckt, es künftig ebenso oder ähnlich zu halten. Das Gesellschaftsmodell Deutschland hat viel zu bieten: die Freiheiten, auf die sich jeder verlassen kann, die relative Entspanntheit, die Sicherheit und Friedlichkeit. Das alles kann überzeugen. Und die allermeisten überzeugt es ja auch. Aber auch derjenige, der die Freiheit wählt, sich den Gepflogenheiten zu entziehen, soll das tun dürfen. Solange er im Rahmen der gesetzlichen Regeln bleibt, kann er Frauen den Handschlag verweigern, für ältere Menschen keinen Sitzplatz im Bus freimachen, er kann sich ein Kopftuch aufsetzen, rückwärtsgehen und immer nur „bäh“ sagen.

Das Verhalten wird ihn um Freunde, vielleicht um Wohnung und Job bringen und ihn Anerkennung kosten. Und sicher nervt er auch. Aber er wäre mehr ein Fall für die persönliche Auseinandersetzung. Was die angeht: Sind die Menschen in Jahren problemlosen Nebeneinanderherlebens vielleicht ein bisschen aus der Übung geraten? Man löst Probleme nicht so gern direkt, man wendet sich an eine höhere Instanz – und im grundsätzlichen Fall dann eben ans Grundgesetz.

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