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Erfurter Bürger drängen sich am 4. Dezember 1989 in der Stasi-Bezirksverwaltung um einen Tisch mit zerrissenen Unterlagen.

© dpa

Stasi-Büros von Bürgern besetzt: Überwachung der Überwacher - heute vor 25 Jahren in der DDR

Heute vor 25 Jahren wurden am frühen Morgen in der DDR die Bezirksverwaltungen der Staatssicherheit von beherzten Bürgern besetzt. Sie wollten die Vernichtung von Stasi-Akten stoppen. Erfurt machte den Anfang. Auch in Berlin tat sich was.

Vor 25 Jahren lag in der DDR die Macht auf der Straße – fast. Die komplette SED-Spitze in Berlin war an jenem 3. Dezember, einem Sonntag, zurückgetreten. Nur die Stasi schien weiterzumachen. In der Provinz gärte es: Im thüringischen Erfurt beobachtete ein Kirchenangestellter Rauch und Ascheflug an der Bezirkszentrale der Staatssicherheit. Ein Müllmann meldete, verkohlte Papiere würden transportiert. Die Geheimpolizei war dabei, Spuren ihres Tuns zu vernichten. Als im Norden der DDR ein Waffenlager entdeckt wird und der Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski spurlos verschwindet, übersteigt der Unmut vieler Bürger den Siedepunkt.

In Berlin sitzt das Neue Forum um Bärbel Bohley zusammen. Ein Aufruf wird verfasst: „Bürgerinnen und Bürger! Beschließt Kontrollmaßnahmen! Nach wie vor gilt: Keine Gewalt!“ Jemand vervielfältigt das in der Nacht in seinem Betrieb in Erfurt. Umgehend werden die 4000 Flugblätter verteilt. Drei Initiativen aus Kirchen- und Oppositionskreisen rufen in Erfurt zur Besetzung der Stasi-Bezirkszentrale auf. Man kennt sich, ist seit Jahren miteinander vernetzt. Als sie einen Anruf bekommt, denkt sie nicht nach, erinnert sich Barbara Sengewald. Sie kennt den Aufruf vom Neuen Forum und ist eine von den vielen, die zu dem verhassten Bau in der Andreasstraße aufbrechen.

Warum war es die Stasi, auf die sich der Volkszorn konzentrierte? Das hatte es 1953 nicht gegeben, auch nicht in den meisten anderen revoltierenden Ländern im früheren sowjetischen Machtbereich. Aber die Stasi in der DDR war etwas Besonderes, der Apparat war größer, die Überwachung intensiver, deutscher, pedantischer, sie war eine einzige Misstrauenserklärung an mündige Bürger.

An jenem Morgen des 4. Dezember 1989 kurz nach sieben Uhr stehen zunächst nur wenige Menschen vor dem Tor in der Andreasstraße in Erfurt. Einige Frauen versuchen Unterstützung zu organisieren, bei der Stadt- und Bezirksverwaltung, in Betrieben. Barbara Sengewald will mit der Staatsanwaltschaft die Aktenvernichtung stoppen. Immer mehr Leute kommen. Ein Fahrzeug der Verkehrsbetriebe blockiert die Zufahrt zum Stasi-Gebäude.

Auch in Berlin tut sich etwas. Bürgerrechtler und Künstler haben schon am Sonntagabend auf SED-Ministerpräsident Hans Modrow eingeredet. Am Montagmorgen folgen Gespräche mit seinem Staatssekretär und sogar mit der Stasispitze. Der Kreis um Bärbel Bohley fürchtet, dass die Montagsdemo am Abend aus dem Ruder laufen könnte. Bohley nimmt noch in der Nacht Kontakt zum ehemaligen Spionagechef Markus Wolf und zu Gregor Gysi auf. Beide gehören mit Modrow zum letzten Aufgebot, das die SED retten will. Es wird hektisch telefoniert und diskutiert.

Barbara Sengewald erinnert sich: "Die waren völlig kopflos"

In Erfurt wird unterdessen am Montagmorgen eine Delegation von zehn Bürgerinnen und Bürgern in die Stasizentrale eingelassen. Doch die anderen lassen sich nicht abwimmeln von den Stasileuten. „Die waren völlig kopflos“, erinnert sich Barbara Sengewald. Das Spiel läuft jetzt andersherum. Die Stasi ist in ihrem eigenen Gebäude gefangen. Die Bürger gehen nicht mehr raus. Am Nachmittag muss Barbara Sengewald schnell in die Schule, ihre Tochter abholen und bei Freunden unterbringen. Es ist eine Bürgerrevolution, da hat man halt noch andere Verpflichtungen. Am Abend ist sie wieder dabei, organisiert ein Bürgerbüro.

Die Nachrichten aus Erfurt bringen in Berlin einen Durchbruch. Stasichef Wolfgang Schwanitz sagt zu, dass keine Akten vernichtet werden. Die Bürger sollen sich davon selbst ein Bild machen können. So ähnlich hat das auch schon Bärbel Bohley mit Gysi und Wolf besprochen. Und Regierungschef Modrow will listig die Bürgerrechtler mit in die Verantwortung nehmen, Gewalt vermeiden und damit neue Autorität für sich und seine SED gewinnen. Dafür opfert er den Geheimdienst. Die Stasi-Leute, verwirrt und folgsam, lassen es mit sich machen.

In Leipzig kapituliert der Geheimdienst kurz vor der Montagsdemo

An jedem Ort in der DDR läuft die Sache anders. In Potsdam sind es nur eine Handvoll Menschen, die die Stasigebäude betreten, ohne zu wissen, ob sie heil wieder herauskommen. In Cottbus mobilisiert sogar die Polizei Bürgerrechtler, um gemeinsam mit ihnen die Stasizentrale zu inspizieren. In Leipzig kapituliert der Geheimdienst kurz vor der Montagsdemo. Die Stasi ist zwar noch bis an die Zähne bewaffnet, sie ist im Ernstfall eine Bürgerkriegsarmee. Aber in diesen Tagen bleibt es friedlich, überall in der DDR. Es bilden sich Bürgerkomitees, die das „Schild und Schwert“ der SED weitgehend lahm legen, jedenfalls außerhalb von Berlin.

Die Besetzungen vom 4. bis 6. Dezember gelten als der Auftakt für die Akteneinsicht. Aber so weit ist es noch nicht. Die Berliner Zentrale des Ministeriums für Staatssicherheit, das Mitte November in „Amt für Nationale Sicherheit“ umbenannt worden war, arbeitet noch. Sie wird erst am 15. Januar besetzt werden. Und der Zeitgeist ist in jenen Dezembertagen noch ein anderer. Die Akteninhalte gelten als zu brisant, um sie dem aufgewühlten Volk zumuten zu können. Die Tagesfragen in diesen Umbruchszeiten sind wichtiger. Aktenauswertung „können Sie in 50 Jahren machen, wenn wir unter der Erde sind“, kontert am Runden Tisch der Sozialdemokrat Martin Gutzeit die entsprechende Forderung einer Bürgerrechtlerin einige Tage nach den Besetzungen. In Wirklichkeit sollte es dann doch viel schneller gehen.

Der Autor Christian Booß ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen.

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