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Rückzug und Reflexion. Sigmar Gabriel hat auch einige sehr private und persönliche Anmerkungen zu seinen Entscheidungen gemacht.

© AFP

Sigmar Gabriel und die Familie: Das eigene Glück

Noch immer gibt es so gut wie keine prominenten Männer, die das Wort Familie überhaupt in den Mund nehmen. Warum Sigmar Gabriel auch zum Vorbild taugt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Armin Lehmann

Es gibt eine Verantwortung über das persönliche Glück hinaus, eine Verantwortung, die das individuelle Leben in den Hintergrund stellt, um einem höheren Gut zu dienen, etwa dem Gemeinwohl. Niemand aber darf dafür verachtet werden, wenn er sich anders entscheidet, an sich denkt. Keiner sollte Sigmar Gabriel vorwerfen, er habe seine Partei im Stich gelassen, weil er das angeblich schönste Amt nach Papst, den SPD- Parteivorsitz, niederlegen wird und auf die Kanzlerkandidatur verzichtet.

Es ist doch richtig, im eigenen Leben innehalten zu dürfen, ohne dass einem solche Situationen als Taktik, Strategie oder Schwäche ausgelegt werden. Vor allem Männer leisten sich aus Angst vor einer solchen Beurteilung sehr selten Gedanken, in denen die Familie ausführlich vorkommt. In der Politik treten Männer, wenn überhaupt, meist aus gesundheitlichen Gründen zurück; in der übrigen Gesellschaft sind Männer wie Nico Rosberg aber auch Ausnahmen. Der Formel-1-Weltmeister nannte als Begründung für seinen Rücktritt: seine Familie.
Wir brauchen prominente, männliche Vorbilder, die sich überhaupt einmal in diesem Sinne äußern. Wir müssen niemanden überhöhen, aber man sollte solche Beispiele auch nicht geringschätzen. Denn trotz aller Reflexionsfähigkeit, die unsere moderne Gesellschaft erreicht hat – wie beim Thema Work-Life-Balance, dem Gedanken nach Entschleunigung oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau auch beim Erziehen der Kinder – handeln wir nicht konsequent. Das ist auch schwer, denn es zählen nach wie vor diese Prinzipien: Härte, Durchsetzungsstärke, Karriere. Daran wäre nichts auszusetzen, ohne sie geht es nicht, würde nicht die Gesellschaft gleichzeitig immer ratloser über die Folgen eben dieser Prinzipien klagen – und daran auch nachweislich häufiger erkranken.
Überforderung und Verantwortung liegen häufig sehr nahe bei einander.

Rücktritt auf dem Höhepunkt, das geht auch. Nico Rosbergs Begründung: Ich will zur Familie.
Rücktritt auf dem Höhepunkt, das geht auch. Nico Rosbergs Begründung: Ich will zur Familie.

© dpa

Aus dieser Perspektive, einer Perspektive der inneren Zerrissenheit, steht Sigmar Gabriel exemplarisch für ein menschliches, männliches Dilemma, das viele kennen. Früher oder später kommen bei jedem diese Momente der Ratlosigkeit, die hineinführen in existenzielle Fragen: Wer bin ich? Was bin ich wert? Was bleibt von mir? Und: Bin ich glücklich?
Sigmar Gabriel hat in dem Interview, das er dem „Stern“ gegeben hat, einen einfachen, in seiner Bedeutung aber schwerwiegenden Satz gesagt: „Ich kann seit rund zehn Jahren in meinem Leben zum ersten Mal sagen: Ich bin ein glücklicher Mensch.“ Wir sollten es ihm gönnen. Sein Glück bestand nicht allein aus Arbeit und Verantwortung, wie wohl das vielleicht möglich wäre, sondern im Wissen darum, dass es da etwas anderes gibt, ein höheres Gut! Hat er erkannt, dass dieses Gut auch kein Selbstzweck ist, das nicht ohne Arbeit, ohne Beziehungsarbeit funktionieren kann?
Seien wir ehrlich: Beziehungsarbeit, also der ständige Ausgleich von Glück und Krise, egal ob in Ehen, Lebensgemeinschaften oder Freundeskreisen, ist der eigentliche Wesenskern von guten Gesellschaften. Die Lohnarbeit kann, im Idealfall, schon auch glücklich machen. Arbeit erfüllt uns, verschafft uns Identität, sogar ohne Lohn im Ehrenamt. Aber Arbeit darf nicht allein dem Zweck dienen, sich nur aus dieser Bestätigung heraus zu mögen. Denn dann machte man sich etwas vor, und am Ende weiß man doch nicht so genau, was man wert ist. Politiker sind da besonders anfällig, weil die Macht das eigene Selbstbildnis schönt. Und verzerrt.
Gäbe es immer mehr Menschen, die glaubten, es gäbe keine Alternative zu ihrer Verantwortung, machte das eine Gesellschaft auch nicht besser. Wie sagte Gabriel: „Der Preis für die Einsamkeit der eigenen Töchter und Ehefrau kann die eigene Einsamkeit am Ende der Karriere sein.“ Sich frei zu machen aus Verantwortung zu und Sehnsucht nach sich selbst – so lässt sich der Gesellschaft, der Partei oder einem Arbeitgeber womöglich mehr zurückgeben, als bliebe man ewig im Verantwortungsgefühl gegenüber anderen gefangen.

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