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Sexuelle Vielfalt im Unterricht: Wieso ist der Lehrplan so umstritten?

In Baden-Württemberg gibt es wütende Proteste gegen einen neuen Lehrplan, der unter anderem Akzeptanz unterschiedlicher sexueller Identitäten vermitteln soll. Warum eigentlich?

Die Heftigkeit, mit der der Streit geführt wird, ist ungewöhnlich: Weil Baden-Württembergs Bildungsplaner an den Schulen des Landes „Akzeptanz für sexuelle Vielfalt“ lehren wollen, werden sie massiv attackiert. Eine Online-Petition, die das Ansinnen ablehnt, wies am Montagabend fast 116 000 Unterzeichner auf. Daraufhin formierten sich die Unterstützer des Vorhabens. Deren Gegenpetition, die seit einer Woche freigeschaltet ist, zählte am Montagabend bereits mehr als 58 000 Unterzeichner.

Was plant Baden-Württemberg?

In dem Land wird gerade der „Bildungsplan 2015“ diskutiert, nach dem künftig an den Schulen unterrichtet werden soll. Wie die „Akzeptanz von sexueller Vielfalt“ vermittelt werden könnte, wird bislang nur in einem Arbeitspapier formuliert, betont das Ministerium. Dabei geht es um „zukunftsorientierte Leitprinzipien“, an denen sich der Unterricht in allen Klassenstufen, Schularten und im ganzen Fächerspektrum orientieren soll. Die Leitprinzipien besagen, in welcher Weise gesellschaftlich relevante Themen wie berufliche Orientierung, Medienbildung, Prävention und Gesundheitsförderung und Verbraucherbildung grundsätzlich im Unterricht verankert werden.

Die Schüler „kennen Lebenssituationen von LSBTTI-Menschen (Gruppe der lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender und intersexuellen Menschen) und setzen sich mit Menschenrechten und Diskriminierungen auseinander“, ist dort zu lesen. So soll die Geschichte der Unterdrückung von bi-, homo-, trans- und intersexuellen Menschen vorkommen, Ausprägungen homo- oder intersexueller Kultur in Kunst und Literatur sollen thematisiert werden.

Als mögliche Fächer nennt der Entwurf unter anderem Deutsch, Religion, Ethik und Geschichte. Im Sachunterricht, in Biologie, Sport, aber auch in Naturwissenschaften und Fremdsprachen sollen Kinder und Jugendliche auch lernen „sich selbst als Persönlichkeit wahrzunehmen und zu entfalten“. Dazu gehört es beim Thema Identitätsentwicklung etwa, eigene Stärken zu entdecken oder über die „Vielfalt in der sexuellen Identität (Hetero-, Homo-, Bisexualität; Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle)“ Bescheid zu wissen, andere sexuelle Identitäten als die eigene zu respektieren.

Wie wird das umgesetzt?

In Baden-Württemberg werden die Leitlinien jetzt in der Bildungsplankommission diskutiert. Ihr gehören rund 230 Lehrkräfte aus allen Schularten und aus den Staatlichen Seminaren für Didaktik und Lehrerbildung an. Die Kommission empfiehlt, welche Kompetenzen in die Fachbildungspläne übernommen werden, nach denen in den Schulen unterrichtet wird. Daran müsse sich jeder Lehrer halten, heißt es aus dem Ministerium, allerdings hätten diese die pädagogische Freiheit, anhand der vorgegebenen Kompetenzen eigene Unterrichtseinheiten zu entwickeln. In der Grundschule und in der Sekundarstufe I soll der neue Bildungsplan ab dem Schuljahr 2015/16 gelten, an den Gymnasien ein Jahr später. Wie dann die Erziehung zur Akzeptanz sexueller Vielfalt in der Lehrerbildung verankert wird und wann das Thema in Schulbücher aufgenommen wird, sei noch völlig unklar, heißt es.

Martin Lücke, Professor für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin, hält es für richtig, über die Vielfalt geschlechtlicher Identitäten nicht nur im Fach Biologie zu sprechen: „Das ist ein Querschnittsthema, es hat gesellschaftliche, historische und politische Dimensionen.“ Bisher finden sich in Schulbüchern allerdings kaum Materialien für entsprechende Unterrichtseinheiten. Lücke hat daher für den Geschichtsunterricht eigene Unterrichtsreihen entworfen, die Pädagogen auf der Webseite „queerhistory.de“ herunterladen können.

Viele Lehrer fühlten sich beim Thema Homosexualität ohnehin unsicher und würden es daher meiden. „Sie wissen einfach wenig darüber“, sagt Lücke. Schon die Lehrerausbildung blende den Umgang mit sexueller Vielfalt oft aus. Er würde sich ein Pflichtmodul dazu in Lehramtsstudiengängen wünschen, das alle Studierenden belegen sollten. Einige Lehrer befürchteten auch, dass es „in der Klasse zu hoch hergeht“, sobald es um Sexualität geht, hat Lücke beobachtet. Er hat andere Erfahrungen gemacht: Viele Schülerinnen und Schüler reagierten zwar durchaus emotional, dafür aber umso interessierter. Auch das Vorurteil, gerade mit männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund könne man über schwule Geschichte nicht sprechen, habe sich für ihn nicht bestätigt: „Die sind ganz im Gegenteil aufgeschlossen. Sie bringen halt auch ihre eigenen Männlichkeitskonzepte in den Unterricht ein.“

Eine Freistellung vom Unterricht ist nicht möglich

Wie argumentieren die Gegner?

Gabriel Stängle, 41-jähriger Realschullehrer aus Rohrdorf im Schwarzwald, sieht in den Leitlinien einen Aufruf zur pädagogischen, moralischen oder ideologischen Umerziehung. Stängle ist Mitglied der Prisma-Gemeinschaft, einer schwäbischen fundamentalistischen Sekte. Er hat eine Internetpetition angestoßen, die unter anderem behauptet, Homosexualität führe zu Alkoholmissbrauch, erhöhtem HIV- und Selbstmordrisiko. Sie ist bereits Stängles zweiter Anlauf: Die erste Petition, so die Lehrergewerkschaft GEW, war derart diskriminierend, dass sie gegen die Bestimmungen des Petitionsportals verstieß und gelöscht wurde. Das könnte nun rechtliche Folgen haben. Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch (SPD), der von der Heftigkeit der Netzdebatte überrascht ist, hat bisher selbst noch nichts unternommen. „Ich will keine Märtyrer züchten“, sagte Stoch am Montag. Möglicherweise habe der Pädagoge aber gegen die Mäßigungspflicht für Beamte verstoßen, und dann bewege er sich außerhalb des rechtlichen Rahmens. Mittlerweile gibt es eine Strafanzeige gegen Stängle und aus Stochs Ministerium heraus wurde eine Dienstaufsichtsbeschwerde angeschoben.

Unversehens gerieten auch die Landeskirchen in eine schwierige Lage. Einerseits kritisieren sie die Leitlinien zur Akzeptanz sexueller Vielfalt. Andererseits wollen sie nicht mit den Argumenten der Kritiker-Petition in Verbindung gebracht werden. Katholiken und Protestanten hatten zuvor gemeinsam ganz allgemein moniert, der Entwurf des neuen Bildungsplanes enthalte nur eine Reihe von Einzelthemen wie eben die zur sexuellen Orientierung, aber es fehle ihm der anthropologische Leitrahmen.

Der Chef der Stuttgarter SPD-Landtagsfraktion Claus Schmiedel spricht denn von einem großen Missverständnis. Der neue Lehrplan wolle lediglich einen Wertekanon vermitteln, zu dem Toleranz und Respekt gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen gehöre. Hinter der Onlinepetition aber „versammelt sich vieles, was mit Toleranz nichts zu tun hat“. Viele Unterzeichner würden den falschen Behauptungen der Initiatoren auf den Leim gehen.

In welchem Alter sollten Kinder mit diesem Thema konfrontiert werden?

Der Entwicklungspsychologe und Familienforscher Wassilios Fthenakis hält es für richtig, Kinder möglichst frühzeitig auf eine „immer komplexere und diversere Gesellschaft“ vorzubereiten – wofür für ihn auch gehört, ihnen „moderne Konzepte von Geschlechteridentitäten“ nahezubringen. Schließlich seien Kinder bereits im Vorschulalter in der Lage, vorurteilsbehaftete Situationen wahrzunehmen und selbst Vorurteile anderen gegenüber zu entwickeln. Fthenakis, langjähriger Direktor des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München und derzeit Präsident des Didacta Verbands der Bildungswirtschaft, sitzt im Beirat für den Bildungsplan 2015 in Baden-Württemberg. Für ihn ist es schon deswegen selbstverständlich, vielfältige Lebensweisen spätestens in der Schule zu thematisieren, weil die traditionelle Vater-Mutter-Konstellation ohnehin nicht mehr die allein vorzufindene Lebenswirklichkeit vieler Kinder widerspiegele.„Kinder wachsen heutzutage doch in ganz unterschiedlichen Familienformen auf.“ Dazu gehörten Regenbogenfamilien mit lesbischen und schwulen Eltern genauso wie Stiefkindfamilien oder alleinerziehende Mütter oder Väter – was aber in der Schule weitgehend ignoriert werde. Und anders als die Gegner des Bildungsplans suggerierten, gehe es ja eben nicht um Sexualpraktiken.

Können Eltern verlangen, dass ihre Kinder solchem Unterricht fernbleiben?

Es scheint unwahrscheinlich, dass Eltern aus weltanschaulichen Gründen ihre Kinder von Unterrichtseinheiten zum Thema Homosexualität befreien lassen könnten. Das legen jedenfalls Urteile zum Sexualkundeunterricht nahe. Eine Grundsatzentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht schon 1977 getroffen. Die Eltern haben das Erziehungsrecht. Doch gleichrangig ist das Recht des Staates, eigene Erziehungsziele zu verfolgen. Der Staat muss dabei allerdings "ideologisch tolerant" bleiben und dürfe die Kinder nicht indoktrinieren, etwa, indem "bestimmte Normen aufgestellt oder Empfehlungen für das sexuelle Verhalten der Kinder gegeben würden".

In Berlin steht das Thema schon seit 2001 im Lehrplan

Wie wird das Thema in Berlin behandelt?

Was in Baden-Württemberg noch heftig diskutiert wird, ist in Berlin längst Unterrichtspraxis. Seit 2001 sehen die Rahmenrichtlinien der Lehrpläne das Thema sexuelle Vielfalt vor, aktuelle Grundlage sind Rahmenpläne, die seit dem Schuljahr 2006/2007 gelten. Darüber hinaus hat das Abgeordnetenhaus 2009 die Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ beschlossen und 2010 einen umfassenden Maßnahmenkatalog zur Bekämpfung von Homophobie verabschiedet. Er bezieht sich nicht nur auf den Bildungs- und Jugendbereich, sondern nimmt auch Diskriminierung in Verwaltung, Recht und anderen gesellschaftlichen Bereichen in den Blick. Federführend für die Umsetzung ist die Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen und dort die Landesstelle für Gleichbehandlung gegen Diskriminierung (LADS). Sexualerziehung steht nach Angaben der Senatsbildungsverwaltung in der Grundschule im Sachkundeunterricht der zweiten und vierten Klasse und im Biologieunterricht in der fünften oder sechsten Klasse auf dem Lehrplan. Dabei geht es um Themen wie körperliche Entwicklung, eigene Wahrnehmung, Geburt, Familie und Rollenbilder und Geschlechterstereotypen für Mädchen und Jungen. In Klassenstufe 7 oder 8 geht es dann neben dem Thema Pubertät auch ausdrücklich um sexuelle Orientierung, sexuelle Praktiken, Empfängnisverhütung, sexuellen Missbrauch und Transsexualität. Die Themen sollen fächerübergreifend unterrichtet werden, zum Beispiel in Biologie und Ethik. Die Bildungsverwaltung weist darauf hin, dass die Information der Eltern im Vorfeld des Unterrichts wichtig sei, „da hier sensible Bereiche der elterlichen Erziehung berührt werden“. Auch wenn das Thema also mehrmals im Rahmenlehrplan vorgesehen ist, liegt es doch in der Verantwortung der Lehrer, ob es auch tatsächlich umgesetzt wird, denn das Berliner Schulgesetz lässt den Pädagogen in dieser Hinsicht relativ viel Freiheit. „Es ist theoretisch möglich und kommt immer wieder vor, dass Zehntklässler noch nie im Unterricht mit dem Thema in Berührung gekommen sind“, sagt Ammo Recla von der Bildungsinitiative Queerformat, die seit 2009 im Auftrag des Senats Lehrerfortbildungen und Projekttage für Klassen anbietet. In Berlin werden Lehrer systematisch zum Thema sexuelle Vielfalt, und dabei insbesondere über Homosexualität und den Umgang damit, fortgebildet.

Nach wie vor hätten viele schwule oder lesbische Jugendliche Angst, sich zu outen, weil sie Probleme im Elternhaus oder auf dem Schulhof fürchten. „Viele fühlen sich allein gelassen“, sagt Recla – obwohl die Präsenz und die Akzeptanz von Homosexuellen in den Medien und in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren beträchtlich gestiegen sei und durch das Internet Informationen jetzt auch viel leichter zugänglich seien. „Erwachsene Lesben und Schwule haben es heute leichter als früher, Jugendliche dagegen nicht“, sagt Recla. Wenn Eltern nicht erlauben wollen, dass ihr Kind am Unterricht zu diesem Thema teilnimmt, sollten Lehrer klar Position beziehen, rät Recla: „Eltern können ihre Kinder nicht aus solchen Gründen vom Unterricht freistellen.“ Bei der Aufklärung gehe es darum, über unterschiedliche Lebensweisen zu informieren, nicht darum, eine als besser oder schlechter darzustellen.

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