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Schwarz auf weiß geeinigt: Die Parteivorsitzenden Angela Merkel und Horst Seehofer am Montag.

© imago/Christian Thiel

Seehofer und Merkel einigen sich: Die neuen Grenzen der Union

Der alte Streit um die "Obergrenze" in der Asylpolitik ist am Sonntag beigelegt worden. CDU und CSU gehen mit einer gemeinsamen Position in die Koalitionsverhandlungen.

Von Robert Birnbaum

Wenn die Bibel ins Spiel gebracht wird, muss die Verlegenheit groß sein. Für Angela Merkel und Horst Seehofer wird am Montag das Alte Testament zum Anker. Dabei klang die Frage an die CDU-Chefin und den CSU-Chef harmlos: Seit zwei Jahren zofft sich die Union über die „Obergrenze“, am Sonntag haben sie in ein paar Stunden einen Kompromiss gefunden – wieso nicht früher? Merkel zitiert Prediger 3, Vers 1: „Alles hat seine Zeit – und gestern war diese Zeit.“ Seehofer mag nicht widersprechen. Die schlichte Wahrheit ist, dass keiner der beiden bisher eine Lösung wollte. Erst die Bundestagswahl erzwang Einigkeit. Ob das Ergebnis aber die Verhandlungen mit FDP und Grünen über eine Jamaika-Koalition ohne Abstriche übersteht, ist vollkommen offen.

Was ist vereinbart und mit welchen Folgen?

Merkel nannte den auf eineinhalb Seiten festgehaltenen Konsens einen „klassischen Kompromiss“. Tatsächlich war er nur möglich, weil beide Seiten einen Schritt von ihren Positionen zurücktraten. Seehofer verzichtete auf das Reizwort „Obergrenze“ und willigte in eine flexible Lösung ein. Merkel gestand dem CSU-Chef dafür die Zahl von höchstens 200.000 Menschen als Jahresrichtwert für die Aufnahme von Schutzsuchenden zu. In Sonderfällen, etwa bei einem Krieg in der Nachbarschaft, soll abgewichen werden können.

Allerdings müssen dann Regierung und Bundestag zustimmen – ein Punkt, auf den Seehofer Wert legte: Der „größte Fortschritt“ sei für ihn, dass darüber das Parlament entscheide „und nicht irgendwelche Talkshows“. Merkel verzog keine Miene. Sie wusste gut, was gemeint war. Sie hatte über die Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen nie abstimmen lassen, sondern sich nur bei „Anne Will“ gerechtfertigt. Das zählt zu den schärfsten Kritikpunkten an ihr.

Unter den 200.000er-Richtwert sollen alle Gruppen von humanitär Schutzsuchenden fallen: Asylsuchende und Flüchtlinge nach der Genfer Konvention, subsidiär Geschützte, der Familiennachzug sowie alle Menschen, die aus anderen EU-Staaten – Relocation – oder als Kontingentflüchtlinge des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) – Resettlement – nach Deutschland kommen. Abgezogen werden sollen alle, die freiwillig ausreisen oder abgeschoben werden.

Wie lässt sich die Unionseinigung praktisch umsetzen?

Wie die Zahl von 200.000 in der Praxis überprüft und eingehalten werden soll, lässt das Papier offen. Allerdings ergibt sich aus dem Zusammenhang, dass vor allem Familiennachzug und Kontingentflüchtlinge als Steuerungsgrößen infrage kommen. Denn für andere Gruppen soll die Höchstzahl ausdrücklich keine Beschränkung bedeuten. „In den Grundrechten“, konkret beim Asylrecht, bei der Genfer Konvention und bei Verpflichtungen aus dem EU-Recht gebe es „keine Obergrenze“, betonte Merkel. Jeder, der in diese Kategorie von Schutzsuchenden falle, werde ein Verfahren bekommen und nicht an der Grenze abgewiesen.

Seehofer bestätigte ausdrücklich, dass geschlossene Grenzen nicht geplant seien, und verwies zur Begründung auf das umständliche Verfahren, das das Dublin-System in solchen Fällen erzwinge. Tatsächlich dürfen deutsche Grenzbeamte Flüchtlinge nicht einfach ins Nachbarland zurückschicken, sondern müssen nach den EU-Regeln herausfinden, wo diese Menschen zum ersten Mal die Gemeinschaft betreten haben. Das an Halbjahresfristen gebundene Verwaltungsverfahren läuft meist ins Leere, weil sich die theoretisch zuständigen EU-Außengrenzstaaten taub stellen.

Stattdessen, so der Plan, sollen Antragsteller zunächst ins Land gelassen werden – allerdings nur bis in „Entscheidungs- und Rückführungszentren“, wie es sie schon in Bamberg, Manching und Heidelberg gibt. Dort sollen sie so lange bleiben, bis über ihren Antrag entschieden ist, und bei Ablehnung direkt zurückgeschickt werden.

Was hat es mit den Transitzentren auf sich?

Seehofer verwies auf gute Erfahrungen mit Asylbewerbern aus den Balkanstaaten in den früher als „Transitzentren“ bekannten Einrichtungen. Tatsächlich funktioniert der recht kurze Prozess dort aber nur, weil inzwischen alle Balkanstaaten als „sichere Herkunftsländer“ gelten, was die Hürde zur Anerkennung als politisch Verfolgter extrem hoch legt. Nicht zufällig pochen CDU und CSU denn auch erneut darauf, die Liste dieser „sicheren Herkunftsländer“ auszuweiten und mindestens die drei nordafrikanischen Staaten Marokko, Algerien und Tunesien einzuschließen. Nur dann nämlich würden die Transitzentren auch Anträge der Menschen rasch als „offenkundig unbegründet“ ablehnen können, die jetzt übers Mittelmeer nach Europa flüchten. Andernfalls muss mit langen Rechtswegen gerechnet werden. Auf dauerhafte Massenunterbringung sind die Zentren aber nicht eingerichtet.

Was bedeuten die Beschlüsse für das Binnenleben der Union?

Aus der Sicht von Merkel und Seehofer ist das „Regelwerk zur Migration“, wie das Papier überschrieben ist, ein Selbstbefreiungsschlag. Seehofer bestreitet zwar, dass er in der Sonntagnacht an etwas so Banales wie seine eigene Zukunft gedacht haben könnte – nein, um „Verantwortung für unser Land“ sei es gegangen und darum, „Radikale abzuwehren“. Aber der CSU-Chef, nach der herben Wahlschlappe massiv unter Druck geraten, kann zumindest vorerst aufatmen. Er kommt nach München zurück als einer, der geliefert hat. Damit ist seinen Kritikern die Basis entzogen, wenn es beim Parteitag im November an die Wiederwahl des Parteivorsitzenden geht.

Dass das Ergebnis nicht formell „Obergrenze“ heißen soll, kann Seehofer als Wortklauberei abtun. Auf Fragen, wie viel davon in einer Jamaika-Koalition übrig bleiben wird, wollte sich der CSU- Chef nicht einlassen, „rote Linien“ andererseits auch nicht ziehen. Das Risiko liegt hier freilich ganz auf seiner Seite. Anders als Merkel kann sich Seehofer substanzielle Zugeständnisse an Grüne und FDP nur schwer leisten.

Auch Merkel wirft mit dem Kompromiss Ballast ab. Einerseits hält sie ihre humanitäre Grundlinie, dass das Asylrecht nicht relativierbar sei, andererseits hat sie jetzt Seehofers Brief und Siegel für die Politik, die sie bisher auch schon verfolgt hat – ein auf EU-Lösungen, internationale Abkommen und die Außengrenzen konzentrierter Ansatz.

Und was heißt das alles für Jamaika?

Zunächst einmal heißt es: Der Weg für Gespräche ist frei. Merkel kündigte erste getrennte Treffen mit FDP und Grünen für übernächsten Mittwoch und die erste Sondierung für den Freitag darauf an. Inhaltlich hielten sich die potenziellen Partner erst einmal bedeckt. Dass die Union ein Zuwanderungsgesetz für die Arbeitsmigration vorschlägt, dürfte beiden schon mal gefallen. Ansonsten prophezeite FDP-Vize Wolfgang Kubicki der Unionseinigung gleich eine „kurze Halbwertszeit“. Aber konkret wurde er nicht. Die Grünen erinnerten kühl daran, dass der Unionskompromiss keine „vorweggenommene Verständigung“ einer Jamaika-Koalition sei.

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