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Früh übt sich. Wenn die Ansätze spielerisch und altersgerecht sind, können Kinder auch schon in der Grundschule mit digitalen Medien vertraut gemacht werden.

© dpa

Deutschland ist Schlusslicht bei Medien-Unterricht: Bildungssystem muss fit für Digitalisierung werden!

Eine internationale Studie belegt: Beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht ist Deutschland Schlusslicht. Bei den wichtigsten Kompetenzen für die Teilhabe an der modernen Welt hat das Land erheblichen Nachholbedarf. Ein Essay.

Wer über das Wissen verfügt, verfügt über die Macht – nach dieser Logik wird die Digitalisierung unsere Gesellschaft grundlegend und nachhaltig verändern. Denn sie eröffnet freien Zugang zu Informationen und zum Wissen dieser Welt, bietet schnelle und niederschwellige Wege für Kommunikation und Vernetzung und birgt dadurch das Potenzial einer neuen Verteilung von Macht. Nicht nur im Bildungssystem ist daher eine gewisse Unruhe und Abwehr gegen diesen im Kern emanzipatorischen Umbruch zu verspüren.

Das ist zwar verständlich, für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft aber nicht hilfreich, und ich mache mir ernsthafte Sorgen um die Qualität der Debatte, wenn die Zielsetzung von mehr Medienbildung in unseren Schulen mit überzeichnenden Begriffen wie „Zwangsdigitalisierung“ oder „totale Computerisierung“ diskreditiert wird. Wir müssen uns, bei aller Hochachtung für die uns eigene gründliche und kritische Würdigung von Risiken, endlich mit den Chancen der Digitalisierung beschäftigen, die diese für die Wirtschaft, für Bildung und Wissenschaft und letztlich für die Zukunft unserer gesamten Gesellschaft birgt.

Was kann die Digitalisierung für eine ganzheitliche und nachhaltige Bildung bedeuten, wie wir sie verstehen? Denn ganz sicher wollen wir den Bildungsbegriff des Nürnberger Trichters nicht wieder aufleben lassen, auch nicht unter dem Deckmantel einer allumfassenden Quantifizierbarkeit des Lernens. Wir verstehen Lernen nicht als einen konsumptiven Prozess der Aneignung von Wissen, sei es nun mithilfe analoger oder digitaler Medien, und auch ein algorithmisch gesteuertes, konditionierendes Antrainieren von Qualifikationen hat mit Lernen nicht viel zu tun.

Tablets und Smartphones sind Zugangsgerät zu Wissen und Kultur

Ganzheitliches und nachhaltiges Lernen, das können wir auch durch die Hirnforschung belegen, findet optimale Bedingungen in individuellen, kreativen und kollaborativen Prozessen, die durch soziale Beziehungen positiv aufgeladen sind. Digitale Medien sind dabei weit mehr als nützliche Mittel zum Zweck. Tablets und Smartphones sind als Zugangsgerät zu Wissen und Kultur, zu Lerngegenständen und gleichzeitig zu Kommunikation und Vernetzung mobil und allzeit bereit, und sie sind ein mächtiges Werkzeug.

Digital und offen verfügbare Lehr- und Lernmaterialien – sogenannte „Open Educational Resources“ (OER) – eignen sich eben nicht nur zum Konsum, sondern laden ein zum Gestalten, Bearbeiten, Weiterentwickeln und Austauschen. Für die Entwicklung und Förderung solcher Materialien gibt es seit 2015 einen Fördertopf mit einem Volumen von 2 Millionen Euro im Haushalt des Bundesministeriums, der in den kommenden Jahren ausgebaut werden sollte. Nachdem Ministerium und Kultusministerkonferenz den Einsatz solcher offen lizenzierter Materialien in einem Arbeitspapier grundsätzlich positiv bewertet haben, sollte es möglich sein, diese Mittel jetzt auch einzusetzen. Auf der Plattform der Zentrale für Unterrichtsmedien (http://www.zum.de/portal/) finden sich zahlreiche praktische Beispiele.

Durch einen kreativen Einsatz digitaler Medien werden Erfahrungen von Autonomie und Selbstwirksamkeit in Lernprozessen möglich, die die Motivation stärken, ein Leben lang weiter zu lernen. Zudem erleichtern digitale Medien barrierefreie Bildungszugänge sowie das gemeinsame Lernen mit unterschiedlichen Bildungszielen und unterstützen damit das wichtige und anspruchsvolle Ziel eines inklusiven Bildungssystems.

„Digitale Bildung“ meint also nicht etwa die Digitalisierung von Lernprozessen, sondern deren qualitative Veränderung durch den sinnvollen und gezielten Einsatz digitaler Medien. Digitale Lernangebote können den das Lernen begleitenden Menschen niemals ersetzen. Die Rolle der Pädagogen, der Medien- und der Fachdidaktiker wird es auch in Zukunft sein, optimale Bedingungen für erfolgreiche Lernprozesse zu schaffen und diese durch soziale Beziehung positiv aufzuladen. Digitale Medien und innovative Ansätze wie der „Flipped Classroom“, der die Inputphase des Lernens nach Hause und stattdessen Vertiefung, Transfer und individuelle Begleitung ins Klassenzimmer verlagert, unterstützen sie dabei.

Digitale Bildungsziele gehen über die Behebung des Fachkräftemangels der IT-Industrie weit hinaus

Wilhelm von Humboldt hat Bildung als einen Prozess der „Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“ verstanden. Wenn wir diesen Bildungsbegriff für die digitale Welt interpretieren, kommt der Digitalen Bildung, die Aufgabe zu, die Menschen mit der Aneignung einer digitalisierten Welt zu einer souveränen Teilhabe an ihr zu ermächtigen. Digitale Bildungsziele gehen damit, anders als manche Kritiker unken, über die Behebung des Fachkräftemangels der IT-Industrie weit hinaus.

Bildung für die digitalisierte Welt soll Menschen zu sozialer Interaktion und Vernetzung über nationale und hierarchische Grenzen hinweg ermächtigen. Sie soll zum lebenslangen Lernen befähigen, zur Meinungsbildung, zu politischer Teilhabe und zu bürgerschaftlichem Engagement. Sie soll ein selbstbestimmtes wirtschaftliches Agieren ermöglichen, sei es als Arbeitnehmer oder als Unternehmer, als Produzent und Anbieter oder als Kunde von Waren und Dienstleistungen. Und auch wenn Staat und Wirtschaft in der Pflicht sind, nach Kräften für IT-Sicherheit und Datenschutz zu sorgen, muss Bildung die Menschen unabhängig davon befähigen, sich souverän und sicher im Netz zu bewegen, ohne den unbestritten vorhandenen Fallstricken zum Opfer zu fallen.

Gemeinsam vereinbarte digitale Bildungsziele müssen über die kompetente Nutzung von Medien hinaus die Beschaffung und Bewertung von Informationen und den Zugang zum Wissen dieser Welt ebenso beinhalten wie den verantwortungsvollen Umgang mit eigenen und fremden persönlichen Daten. Deutschland, ja große Teile Europas agieren im Internet in der passiven Rolle des Konsumenten. Für eine souveräne und aktiv gestaltende Rolle in der digitalisierten Welt benötigen wir eine grundlegende informatorische Bildung, die uns ermächtigt, die Logik von Algorithmen zu begreifen, sie kritisch zu hinterfragen und selbst zu gestalten. Sie muss zum technischen, aber auch zum rechtlichen Verständnis und zur Gestaltung digitaler Medien, Netze und Strukturen befähigen. Die schulische Informatik geht also über das Erlernen einer Programmiersprache weit hinaus, kann aber durchaus schon in der Grundschule ansetzen, wenn die Ansätze spielerisch und altersgerecht sind.

Gerade in Bildungseinrichtungen kommt dem Schutz persönlicher Daten eine wichtige Rolle zu, und heimliches Tracking, das Verfolgen und Speichern von Schüler- oder Lehrerverhalten, muss verhindert werden. Die Europäische Datenschutzgrundverordnung muss uns dazu befähigen, solche klaren Regeln auch gegenüber global agierenden Anbietern durchzusetzen. Die Analyse individuellen Lernverhaltens für die Entwicklung individueller Lernwege und Fördermaßnahmen muss datenschutzrechtlich sauber definiert und sie darf nur zum Vorteil des Lernenden genutzt werden.

Den Nachholbedarf bewältigen wir nicht, indem wir die „Schulen vom Netz“ nehmen

Für den reibungslosen Betrieb und die sichere Nutzung von Hard- und Software brauchen die Schulen eine nach innen und außen sichere Netzarchitektur und Infrastruktur, die – nicht anders als in Unternehmen – von Fachleuten betreut und gewartet werden muss. Dazu braucht es Plattformen, die eine datensichere Schulorganisation ermöglichen und den technisch und rechtlich sicheren Rahmen für den Austausch von offen lizenzierten digitalen Lehrmaterialien bieten.

Bei der im vergangenen Herbst veröffentlichten „International Study on Computer and Information Literacy“ (ICILS) hatten bundesdeutsche Schüler nur mittelmäßige computer- und informationsbezogene Kompetenzen gezeigt. Beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht ist Deutschland Schlusslicht. Nachdem zahlreiche andere Befragungen und Untersuchungen in der Vergangenheit dies hatten vermuten lassen, wurde nun auf wissenschaftlicher Basis deutlich, dass das deutsche Bildungssystem bei den wichtigsten Kompetenzen für die Teilhabe an der digitalisierten Welt – gelinde gesagt – einigen Nachholbedarf hat.

Diesen Nachholbedarf bewältigen wir sicher nicht, indem wir die „Schulen vom Netz“ nehmen. Stattdessen müssen wir für eine zeitgemäße technische Ausstattung der Schulen sorgen und im breiten gesellschaftlichen Konsens Bildungsziele für die Digitalisierung definieren, die einem Humboldtschen Bildungsideal genügen. Die Digitale Agenda der Bundesregierung formuliert dazu das ehrgeizige Ziel, mit den Bundesländern und weiteren Akteuren des Bildungssystems eine gemeinsame „Strategie Digitales Lernen“ zu vereinbaren und umzusetzen. Mit dem vor Ostern eingebrachten Antrag „Durch Stärkung der Digitalen Bildung Medienkompetenz fördern und digitale Spaltung überwinden“ (18/4422) greifen die Koalitionsfraktionen also ein drängendes Thema auf und bringen dabei konkrete Maßnahmen des Bundes ins Spiel wie eine zeitgemäße Bildungsschranke im Urheberrecht, die die Nutzung geschützter Inhalte für Bildungs- und Wissenschaftszwecke weiter öffnet, aber auch Maßnahmen der Länder wie beispielsweise die Verankerung der Digitalen Bildung in Curricula und Lehrerbildung.

Die Antragsberatung im Bundestag hat in der vergangenen Woche mit einem Fachgespräch im Bildungsausschuss begonnen. Fünf Experten äußerten sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln zur digitalen Bildung und zum Antrag der Koalition. „Die angeregten Maßnahmen zu Bildungsstandards, Curricula und Lehrerbildung sind aus wissenschaftlicher Sicht durchaus zielführend“, so Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn, die die ICILS-Studie in Deutschland koordiniert hat. Junge Menschen müssten mit „kritischem Denken, Kommunikation, Kollaboration und Kreativität“ Kompetenzen für das 21. Jahrhundert erwerben, und dafür seien Digitale Medien sehr hilfreich, meint Richard Heinen von der Universität Duisburg-Essen, der als Schulentwickler die Erarbeitung und Umsetzung von Medienbildungskonzepten in der Praxis begleitet.

Innovative Medienpädagogen und Lehrkräfte wirken oft als Einzelkämpfer, müssen sich aber überregional oder gar bundesweit vernetzen

Auf die Nachfrage der Abgeordneten zu förderungswürdigen Initiativen erläuterte Heinen, dass innovative Medienpädagogen und Lehrkräfte oft als Einzelkämpfer wirken, sich aber überregional oder gar bundesweit vernetzen und so für einen regen fachlichen Austausch sorgen. Als beispielhaft dürfen hier die OER-Konferenz der wikimedia-Gesellschaft ebenso gelten wie das bereits traditionsreiche educamp, das im September 2015 in Berlin gastieren wird (https://ecber15.educamps.org/) oder auch der wöchentliche EdChatDE (https://edchatde.wordpress.com/), ein rasanter Twitter-Chat, den ich im vergangenen Sommer als Gast moderieren durfte.

Uwe Lübking vom Deutschen Städte- und Gemeindebund legte Wert auf eine Klärung der finanziellen Verantwortung sowohl beim Breitbandausbau als auch bei der technischen Ausstattung der Schulen. Jörg Müller-Lietzkow von der Universität Paderborn machte deutlich, dass der kreative Einsatz von Spielen und Apps auch den Grundstein für ein tiefergehendes Interesse an Medien und der Informatik legen könnten. Der Medienpädagoge Daniel Seitz (mediale-pfade.org) verdeutlichte, dass außerschulische und schulische Medienbildung nachhaltig vernetzt arbeiten müssten, damit Digitale Bildung gelingt.

Die Koalitionsfraktionen fühlen sich von den Stellungnahmen der Experten in ihrem Ziel bestärkt, die Digitalisierung der Bildung in die Bildungseinrichtungen hereinzuholen, anstatt eine Käseglocke über das Bildungssystem zu stülpen und eine zeitgemäße Weiterentwicklung zu behindern. Die Politik tut in einem von Föderalismus und Subsidiarität geprägten System immer gut daran, die unterschiedlichen Ebenen der Exekutive und die Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft an einen Tisch zu holen. Mit einer gemeinsamen und konzertierten Strategie muss das Bildungssystem in Deutschland fit gemacht werden für die Bildung in der digitalisierten Welt. Wir freuen uns auf einen fairen und fruchtbaren, vor allem auf einen chancengeleiteten Diskurs dazu.

- Saskia Esken ist Informatikerin, Bundestagsabgeordnete der SPD und Berichterstatterin ihrer Fraktion für digitale Medien. Sie ist Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung sowie im Ausschuss Digitale Agenda. Der Text erschien Ende April im gedruckten Tagesspiegel.

Saskia Esken

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