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Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner äußert sich am 20.11.2017 vor Beginn der Sitzung von FDP-Bundesvorstand und Fraktion nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Scheitern der Jamaika-Sondierungen: "Die Strategie der FDP ist hochriskant"

Der Politikwissenschaftler Thorsten Faas spricht im Interview über die Risiken einer Minderheitenregierung - und die Risiken von Neuwahlen für die FDP.

Von Anna Sauerbrey

Herr Faas, das war wirklich eine denkwürdige Nacht. Was glauben Sie, was nun passiert?

Die Optionen werden ja schon eifrig diskutiert – Große Koalition, Minderheitenregierung, Neuwahl… Die letzten beiden Varianten sind aber gar nicht leicht zu bewerkstelligen. Wir alle sollten mal den Artikel 63 unserer Verfassung lesen… Man könnte sich darauf verständigen, den Kanzlerwahlartikel des Grundgesetzes ähnlich auszulegen wie den Vertrauensfrageartikel: Alle wissen, dass eine Kandidatin, zum Beispiel Frau Merkel, keine Mehrheit im Bundestag hat. Trotzdem wird sie von Bundespräsident Steinmeier – mangels Alternativen – vorgeschlagen, sie wird verlieren, man wartet zwei Wochen, es kommt gemäß Artikel 63 zu einer weiteren Wahlrunde, in der sie keine Kanzlermehrheit erhält, dann wird der Bundestag aufgelöst. Das klingt geradezu notariell. Aber wie das genau abläuft, was in der zweiwöchigen Zwischenphase passiert, ob da vielleicht von anderen Fraktionen neue Kandidaten vorgeschlagen werden, vielleicht sogar von der AfD, das weiß man alles nicht.

…oder die FDP Christian Lindner…

Selbst das! All diese Vorstellungen sind einigermaßen speziell und „innovativ“.

Sie sind beunruhigt?

Ja, ich kann die entspannte Haltung manch anderer Kommentatoren nicht teilen, die mal so eben von Neuwahlen oder Minderheitsregierung sprechen. Wir befinden uns in einer beunruhigenden Ausnahmesituation. Die Kanzlerwahl scheitert möglicherweise erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik im Bundestag. Dann folgen zwei Wochen Ausnahmesituation.

Könnte Deutschland mit einer Minderheitenregierung umgehen?

Damit müsste zuerst der Kanzler oder die Kanzlerin umgehen können – und das wäre sehr schwierig. Er oder sie bekäme ja nicht einmal einen Haushalt durch. Das Grundgesetz sieht das als absolute Ausnahme. Natürlich gibt es Vorbilder. In NRW hat Hannelore Kraft zwei Jahre lang mit einer Minderheitenregierung regiert, aber auch sie hat den ersten Exit genommen, der sich bot, um sich eine eigene Mehrheit über Neuwahlen zu holen. Allerdings wäre Minderheitsregierung auch nicht gleich Minderheitsregierung. Wenn eine Fraktion signalisiert, sie unterstütze die Arbeit außerhalb der Regierung dauerhaft, wäre das eine belastbarere Arbeitsgrundlage, als wenn sie sich von Abstimmung zu Abstimmung neue Mehrheiten sichern muss.

Thorsten Faas ist Professor für Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Er forscht zu Wahlen, zum Wählerverhalten und zur Wirkung von politischen Kampagnen.
Thorsten Faas ist Professor für Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Er forscht zu Wahlen, zum Wählerverhalten und zur Wirkung von politischen Kampagnen.

© Thorsten Faas/privat

Und die Bevölkerung? Würden die Deutschen das in ihrer historischen Instabilitätsangst verkraften?

Ich kann mir schlecht vorstellen, dass wir, die Bevölkerung und die politisch Handelnden, dazu bereit sind, die Unsicherheiten einer Minderheitenregierung zu akzeptieren. Wahrscheinlicher sind wohl doch Neuwahlen.

Sprechen wir also über mögliche Neuwahlen. Seit der Bundestagswahl hat sich in den Umfragen nur sehr wenig bewegt – da steht praktisch das Ergebnis. Würde das so bleiben?

Die öffentliche Meinung und das Wahlverhalten sind ja generell stark in Bewegung in diesen Zeiten – und das gilt sicher auch Tagen wie diesen. Noch steht ja nicht fest, mit welchem Personal die Parteien antreten würden und wer möglicherweise welche Koalition ausschließt. Das alles würde sich auf die Stimmung auswirken. Außerdem wird gerade noch öffentlich darüber verhandelt, wie die Ereignisse der Nacht zu deuten sind. Die These, man könne sich Neuwahlen sparen, weil die Wähler sowieso wieder dasselbe wählen, trifft jedenfalls nicht zu.

Würde die AfD von Neuwahlen profitieren?

Gerade die Populisten versuchen nun, die Sondierungen als abgekartetes Spiel darzustellen. Bei diesen langen Sondierungen haben sich die Parteien auf einem schmalen Grat zwischen strategischem Spiel und ernsthafter Sondierung bewegt. Nun verstärken die Populisten den Eindruck, da hätten vier Parteien fünf Wochen lang ein politisches Theater aufgeführt. Ein zentrales Bild, das die AfD immer wieder zeichnet ist ja: Politiker denken nur an sich selbst, es gehe nur um die Eigeninteressen und den Machterhalt von Personen, die wahren Interessen der Wähler würden nicht berücksichtig, und so weiter. Dieses Framing spielt den Populisten in die Hände. Umgekehrt ist aber auch denkbar, dass die Wähler einsehen, was passiert, wenn man die AfD stark macht: Die Mehrheitsverhältnisse werden schwieriger.

Glauben Sie, die FDP kann von ihrem Schritt profitieren?

Die Erwartung ist auf FDP-Seite offenbar, dass es ihr nicht schadet, sonst hätte sie es nicht gemacht. Noch ist der Kampf um die Deutungshoheit in vollem Gange. Die FDP steht auf dem Standpunkt, dass es besser wäre, nicht zu regieren, als falsch zu regieren - wobei ich ehrlich gesagt gar nicht weiß, was „falsch regieren“ bedeuten soll. Wenn alle das sagen würden, kämen wir nie zu einer Regierung.

Die Strategie ist also riskant?

Die Strategie der FDP ist hochriskant. Die Basis der FDP ist weder sehr groß, noch sehr stabil. Die Partei kann sich also nicht darauf verlassen, mit dieser Risikostrategie ihre eigenen Anhänger zu mobilisieren.

Wie groß, denken Sie, ist das nationalliberale Wählerpotential, das Christian Lindner nun ja offenbar verstärkt ansprechen möchte?

Christian Lindner scheint ins Ausland zu schauen, wo konservativ-liberale Parteien wie zum Beispiel die ÖVP in Österreich mit dieser Strategie erfolgreich die Populisten bekämpft haben. Doch diese Wählergruppe scheint in Deutschland nicht sehr groß und nicht sehr organisiert zu sein. Zuletzt hat etwa Bernd Lucke versucht, sich um diese Wähler zu bemühen. Doch seine neue Partei, die „Liberal-konservativen Reformer“, spielt politisch überhaupt keine Rolle mehr. Der Kampf um diesen sehr engen Wählermarkt wäre hier in Deutschland außerdem sehr scharf. Die AfD bekommt ein Stückchen und die CSU bekommt ein Stückchen. Zu versuchen, sich da jetzt das Filet zu holen, scheint mir doch sehr ambitioniert.

Anmerkung der Redaktion: In einer ersten Fassung des Interviews hatte es in der letzten Antwort geheißen, Luckes neue Partei habe bei der Europawahl nur wenige Stimmen bekommen. Das wurde nachträglich korrigiert.

Thorsten Faas schreibt eine Kolumne für Tagesspiegel Causa. Die aktuelle Ausgabe und weitere Texte finden Sie hier.

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