zum Hauptinhalt
Kunstwerke wie dieses finden sich in Russland am Straßenrand.

© Nik Afanasjew

Quer durch Russland - 7: Schade Europa, dass ihr so untergeht

Nach drei Wochen geht es für Nik Afanasjew auf seiner Reise quer durch Russland in seine Heimatregion. Zeit für ein Zwischenfazit – und für Begegnungen im Bord-Bistro. 

Unser Autor Nik Afanasjew reist zwei Monate lang quer durch Russland, um zwei schwere Fragen zu beantworten: "Wie ticken die Russen? Und warum sind sie so?"

Die erste richtige Zugfahrt bringt mich zum Ural. Der nächste Stopp ist Tscheljabinsk, wo ich geboren wurde und die ersten zehn Jahre meines Lebens gelebt habe. Damit verlasse ich drei Wochen nach Reisebeginn Europa. Asien ruft. Zeit für ein Zwischenfazit.

Die Russen wollen vor allem wissen: „Was denken die Deutschen von uns?“ Wenn ich dann sage, dass ihr Urteil durch die Ukraine-Krise stark gelitten hat, sagen sie: „Wir haben euch doch die Wiedervereinigung gegönnt. Warum gönnt ihr uns unsere nicht?“ Und: „Kennt ihr euch mit Geschichte nicht aus? Lest ihr nicht?“ Manchmal auch, sehr ungläubig: „Glaubt der Westen wirklich, Russland will jemanden angreifen?“

Am häufigsten aber fragen die Russen: „Ist es wirklich so schlimm in Europa mit den Flüchtlingen?“ Einmal habe ich sogar ehrliches Mitleid erlebt, als ich gesagt habe, ich wohne in Deutschland. „Ja, ich weiß, es ist heftig bei euch, die Sache mit den Eindringlingen“, sagte ein Ladenbesitzer und tätschelte mir sogar die Schulter. Kopf hoch, Europa, sollte das wohl heißen, wir finden es echt schade, dass ihr so gnadenlos untergeht. Ich sagte ihm, aus meiner Sicht sei alles okay, im Westen viel Neues, aber wenig Untergang. Er schaute mich lange entgeistert an.

Interessant ist, dass vor allem Menschen unter 40 oft sagen, dass sie russischen Fernsehnachrichten nicht glauben. Ein Student in einer Bar in Kazan meinte sogar: „Es ist ein Experiment an den Russen, wie weit Scheinrealität durch Nachrichten herstellbar ist.“ Trotzdem war sogar dieser Student der Meinung, in der Krim-Frage hätte Russland richtig gehandelt. Wie die meisten, mit denen ich gesprochen habe, selbst manche, die Putin und die aktuelle Regierung ablehnen. Es ist ein Effekt, den ich schon in Serbien beobachtet habe, wenn junge Menschen Milosevic, Mladic, den Nationalismus an und für sich und jegliches serbische Vormachtsstreben ablehnen – und den Kosovo doch als untrennbaren Teil Serbiens betrachten.

In einem der vielen klapprigen Kleinbusse, in denen ich bisher gefahren bin, habe ich Tiziano Terzani gelesen. Langjähriger Spiegel-Korrespondent in Asien, Weltbummler und Guru. 1993 hat er während einer Zugfahrt durch Russland in seinen Tagebüchern diese Sätze geschrieben, aus heutiger Sicht wirken sie fast prophetisch: „Das ist die große Tragödie: Der Kommunismus hat keine Helden hinterlassen, hat alle Ausnahmeerscheinungen zu Nichte gemacht, hat die wahrhaft Großen unterdrückt und hat das Überleben nur den großen Überlebenden des Apparats erlaubt. Was heute in Russland geschieht, würde einen großen, aufgeklärten Diktator erfordern, der diesen Menschen, die jetzt unruhig und unglücklich sind, wieder Zutrauen gibt, einen Traum für ihre Zukunft bereithält, der alles dransetzt, im Rest der Welt mit Stärke aufzutreten. Recht betrachtet, entsteht da vor den Grenzen Europas eine unruhige und unbefriedigte Masse an Land und Menschen, die noch historische Rechnungen zu begleichen haben. Wir in Europa müssen das zur Kenntnis nehmen und darüber nachdenken.“

Diese Helden des kommunistischen Alltags, jetzt sind sie in Russland überall zu sehen. Viele der Plakate, die 2015 zum70-jährigen Jubiläum  des Sieges im Zweiten Weltkrieg – in Russland „Großer Vaterländischer Krieg“ - aufgehangen wurden, sind hängen geblieben, sicher nicht zufällig. Diese Plakate gratulieren zum Sieg und manche zeigen auch einfache Bürger oder Rotarmisten und erklären, was diese oder jener für ihr Volk getan haben. Selbst auf dem Jugendforum, bei dem ich zuschauen konnte, wie junge Aktivisten mit Polit-Veteranen Russlands Zukunft verhandeln, ging es häufiger um den Zweiten Weltkrieg als um wirtschaftliche Diversifizierung. Die T34-Panzer rollen immer noch, auf den Bildschirmen, in den Köpfen, bei Paraden sogar über die Straßen.

Diese Straßen sind übrigens deutlich besser geworden. Ein leidiges Thema für alle Russen, galten die kaputten Fahrbahnen im Land doch oft als Indiz dafür, dass dieser Staat sich nicht zu helfen weiß. In den Großstädten ist der Belag nun bisweilen so glatt wie in Europa. Auf dem Land sind mancherorts Autobahnen entstanden. Dafür gibt es nun gefühlt mehr Blitzer als in Deutschland, feste und mobile. Wenn die Lage auf den russischen Straßen zur Charakterisierung der Situation im Land taugt, dann könnte das Fazit an dieser Stelle lauten: Der Staat tut mehr. Und nimmt sich dafür das Recht auf mehr Kontrolle heraus.

Unglaublich: Der Bauboom von Plansiedlungen ist ungebrochen

Was ich persönlich unglaublich finde, ist der ungebrochen boomende Bau von Plansiedlungen. Die heutigen Platten wirken optisch nicht ganz so trist wie jene früher, auch wie die, in der ich in Tscheljabinsk aufgewachsen bin. Das liegt aber nur daran, dass die Fassaden bunt sind, ansonsten ist städtebaulich sogar eher ein Rückschritt zu sehen. Die Kommunisten haben kleine Parks und Spielplätze zwischen die Platten gesetzt, im Erdgeschoss gab es Läden. Heute sind zwischen den Wohntürmen vor allem Parkplätze. Manche neue Wohnviertel in Russland wirken, als hätte sich der Stadtbaudirektor von Karl-Marx-Stadt und der Verantwortliche für die Berliner Flottwellstraße – diesem Mahnmal gegen Investorenarchitektur – verkatert zusammengesetzt und ihren schlimmsten Ideen in eine einzige Siedlung gegossen.

Aufgeräumt und gut organisiert zeigen sich dagegen die Stadtzentren; ob kleiner Städte wie Uglitsch und Wladimir oder großer wie Moskau und Kazan. Die Hauptstadt der Republik Tatarstan war bisher ohnehin die größte Entdeckung der Reise. Eine so lebenswerte Stadt habe ich im postsowjetischen Raum noch nicht gesehen. Auch mit osteuropäischen Prachtexemplaren wie Krakau kann sich Kazan locker messen.

Die neue Lebensqualität in der Städten trägt wohl dazu bei, dass ich die Leute freundlicher und ausgeglichener wahrnehme als früher. Es ist schon seltsam, aber je aggressiver die Russen dem Westen in ihrer Außenwirkung erscheinen, desto netter kommen sie dem Westler in Russland vor. Aber über nichtssagende Nettigkeit lässt sich schwer etwas schreiben, deshalb gebe ich hier lieber eine Szene von gestern Abend aus dem Zug wieder, die in eine etwas andere Richtung geht.

"Du bist doch wirklich eine miese...piep"

Gegen 19 Uhr betrete ich das Bordbistro. Die Dame hinter dem Tresen – etwa Ende 30, müde Augen, Bahnmütze – gibt mir das Menü. Als ich bestellen will, hebt sie den Finger, bedeutet mir zu warten und flüstert: „Ich glaube, da kommt noch was.“ Ich verstehe nicht, warte einfach mal ab und höre nach wenigen Sekunden aus der Küche. „Du bist doch wirklich eine miese ...piep... … piep.... Diese ganze ...piep... ...piep... ist doch nicht zu glauben, dass ist hier alles eine ...piep.... Wer hat dich ...piep... überhaupt hier arbeiten lassen, du ...piep...“

Okay, der Küchenchef hat also schlechte Laune. „Ist er immer so?“, frage ich die Frau. „Ist eigentlich ein Netter“, sagt sie. Aus der Küche kommt: „...piep..., was sagst du da? Du ...piep... aus der ...piep... deiner Mutter, wer hat dich ...piep... , ich glaubs ja nicht, so ein ...piep...“

Ich versuche bei ihr in Erfahrung zu bringen, was den netten Küchenchef so erzürnt hat. Sie winkt nur ab und bittet um einen Moment, sie müsse sich sammeln, dann könnte sie meine Bestellung aufnehmen. „Hab was falsch einsortiert“, sagt sie dann. Mir ist irgendwie der Appetit vergangen, wenn dieser nette Kerl mein Essen zubereiten würde... Ich bestelle also einfach ein Bier und setze mich.

Im Bordbistro lärmen zwei junge Männer, sonst ist es leer. Ich sitze da, trinke mein Bier, schaue den Birken dabei zu, wie sie am Zugfenster vorbeifliegen. Dann kommt die Frau hinter ihrem Tresen hervor, atmet durch und fragt: „Jungs, kauft mir jemand ein Bier? Ich bin gerade erst aufgestanden, ich brauch das jetzt.“ Aus der Küche kommt: „Ich zeig dir gleich, was du brauchst, du ...piep... ...piep... ...piep... ...piep...“

Ich habe ihr dann ein Bier in ihrem Bistro gekauft.

Next Stop: Tscheljabinsk Main Station.

Teil 0 – vor der Abreise – lesen Sie hier.

Teil 1 – Die Krim, das neue Staatsgebiet – lesen Sie hier.

Teil 2 – Der melancholische Verteidigungsminister der Hooligans – lesen Sie hier.

Teil 3 – Alle Wege führen nach Moskau – lesen Sie hier.

Teil 4 – In Kasan ist es wie in der Schweiz – lesen Sie hier.

Teil 5 – Seit einig und streitet euch! – lesen Sie hier.

Teil 6 – Stalin ist wieder da – lesen Sie hier.

Zur Startseite