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Theresa May.

© Matt Dunham/AFP

Premierministerin May geht ins zweite Amtsjahr: Geschwächt, einsam, richtungslos

Theresa May führt Großbritannien seit einem Jahr. Das Ergebnis ist ernüchternd: Das Land steckt in einer Regierungskrise, ein desolater Brexit-Prozess ist nicht mehr auszuschließen.

An diesem Freitag beginnt das zweite Jahr. Die ersten zwölf Monate der Amtszeit von Theresa May als Premierministerin Großbritanniens waren eine Fahrt auf der Achterbahn. Nichts macht das so deutlich wie ihr aktueller Absturz in den Umfragen. Noch im April maß das Institut Ipsos Mori einen Zustimmungswert, der besser war als der von Margaret Thatcher und Tony Blair zu deren besten Zeiten. Zum Jahresjubiläum ist das einer deutlichen Ernüchterung gewichen.

Kein Premier seit 1979 ist ein Jahr nach Amtsantritt, gemessen am Ausgangswert, so tief gefallen als May – nicht einmal David Cameron, ihr Vorgänger, der jetzt durch die Welt tingelt, gut bezahlte Reden hält und allen Ernstes erklärt hat, er habe mit dem EU-Referendum im vorigen Jahr (das er verlor) die Atmosphäre in der britischen Politik entgiftet. In Wirklichkeit ist die Tory-Partei, zu deren Befriedung die Volksabstimmung gedacht war, noch tiefer im Streit zerfressen als jemals zuvor. „Wir hassen uns alle gegenseitig“, zitierte der „Guardian“ im Juni einen Abgeordneten, als die Fraktion nach dem Wahldebakel wieder zusammentrat.

May hat ihre Partei nicht hinter sich vereint

Dabei war May angetreten, den EU-Austritt so anzugehen, dass ihre Partei zusammenbleibt und das vielfach gespaltene Großbritannien auch. Dem Brexit sollte ein neues Verhältnis zur EU folgen, das – soweit man das aus Mays wenig transparenten Ankündigungen und Erklärungen entnehmen konnte – irgendwie auf eine Lösung hinauslief, die der Vereinbarung der EU mit der Schweiz gleicht: eine Vielzahl von branchenbezogenen Handelsverträgen, bei eingeschränkter Freizügigkeit für EU-Bürger, ohne eine starke Rolle für den Europäischen Gerichtshof.

Ein Weg irgendwo zwischen hartem und weichem Brexit, auf einer Kompromisslinie, die freilich niemand so genau erklärt bekam. Und May hat ihre Partei auch nicht wirklich hinter sich geeint. Die Neuwahl Anfang Juni war daher auch der Versuch, die Brexit-Hardliner unter den Konservativen, eine zähe Truppe, hermetisch eingesponnen in ihrem Hass auf die EU, zu domestizieren. Wie bei Cameron ging es völlig schief.

Von Umfragen verführt

May hat, verführt durch einen Umfragevorsprung ihrer Tories von zwischenzeitlich mehr als 20 Punkten vor Labour, die Stimmung im Land falsch eingeschätzt. Der Brexit bestimmte den Wahlkampf und den Wahlausgang weit weniger als die wirtschaftliche und soziale Lage im Land – und die ist nicht rosig. Großbritannien hat noch mit am meisten unter den Folgen der globalen Finanzkrise zu leiden hat. Angesichts einer massiven Staatsverschuldung und einem hohen strukturellen Haushaltsdefizit ist der Ausstieg aus der Austeritätspolitik schwierig. Und die Deregulierungen auf dem Arbeitsmarkt unter Thatcher und Blair haben dazu geführt, dass die Zahl unsicherer geringfügiger Beschäftigung größer ist als in anderen EU-Staaten.

Vor allem Jüngere, die das Brexit-Referendum verschlafen hatten, stimmten bei der Wahl Anfang Juni in Scharen für Labour unter Jeremy Corbyn. Mit der Folge, dass die Partei nun erst recht gespalten ist. Denn der überraschend gestärkte Altlinke Corbyn ist (was viele Brexit-Gegner verkannten) keineswegs ein EU-Anhänger, im Gegensatz zu vielen moderateren Labour-Abgeordneten.

Und Corbyn scheint darauf zu zielen, die Schwäche Mays und die Spaltung der Tories zu nutzen, um in absehbarer Zeit zu nochmaligen Neuwahlen zu kommen, die er gewinnen will. May hat ihn Anfang der Woche einzubinden versucht mit dem Angebot, beim Brexit im Parlament zusammenzuarbeiten – eine bemerkenswerte Geste für britische Verhältnisse, weil auf der Insel eine große Koalition als so ziemlich das letzte betrachtet wird, was in der Politik passieren darf. Corbyn hat May empfohlen, das Labour-Programm zu lesen, wenn sie nach Ideen suche. Freilich hat auch Labour kein wirklich konsistentes Programm für ein künftiges Verhältnis zur EU, zum Binnenmarkt, zur Zollunion.

Kommt der Brexit etwa gar nicht?

Angesichts der Zerwürfnisse bei Tories und Labour vermutet Vince Cable, der neue Chef der Liberaldemokraten, schon, dass es gar nicht zum Brexit kommen wird. Aber auch diese Meinung gehört zu den Illusionen, welche die britische Politik derzeit bestimmen. Im Unterhaus hat Außenminister Boris Johnson der Ansicht eines konservativen Hinterbänklers zugestimmt, dass die EU ihre finanziellen Vorstellungen für eine Austrittsvereinbarung vergessen könne - die Formulierung lautete, Brüssel "can go whistle".

EU-Chefverhandler Michel Barnier hat darauf entgegnet, er höre kein Pfeifen - sondern nur das Ticken der Uhr. Im März 2019 läuft sie ab, dann endet die zweijährige Verhandlungsphase, Großbritannien ist dann automatisch nicht mehr EU-Mitglied. Angesichts der mit der Wahl noch verstärkten Unklarheiten in Westminster ist nicht mehr auszuschließen, dass eine mit sich selbst beschäftigte politische Klasse in einen desolaten Brexit ohne Nachfolgeregelung stolpert – das „No-Deal-Szenario“, von dem May verblüffenderweise immer sagte, es sei besser als ein schlechter Deal.

Schatzkanzler Philip Hammond, den von Panikstimmung ergriffenen Arbeitgeberverband hinter sich, wirbt daher offensiv dafür, eine längere Übergangsphase mit der EU zu vereinbaren, in der Großbritannien möglichst nahe an der EU bleibt, letztlich eine verlängerte EU-Mitgliedschaft, jedenfalls eine verlängerte Teilnahme an Binnenmarkt und Zollunion.

Johnson? Gove? Davis?

Ob May in einem Jahr ihr zweijähriges Jubiläum erlebt, ist unklar. George Osborne, der von May geschasste frühere Schatzkanzler, nun Chefredakteur des Londoner "Evening Standard", hat sie nach dem Wahldebakel als „dead woman walking“ bezeichnet. Doch wer soll sie ablösen? Außenminister Boris Johnson, der in Brüssel verschriene Partei- Clown? Der wieder ins Kabinett eingerückte frühere Schulminister Michael Gove, prominenter Austrittsbefürworter, der Johnson im vorigen Jahr als Premier verhinderte? Brexit-Minister David Davis, dessen Sprung an die Parteispitze schon 2005 misslang, als er dem Jungspund Cameron unterlag? Innenministerin Amber Rudd, die wie May und Hammond von den Brexit-Hardlinern verabscheut wird? Oder etwa ein per Nachwahl ins Unterhaus zurückbeförderter Osborne?

So kurios es klingt: May könnte trotz ihres missratenen ersten Jahres, in dem mal große Dramatik und mal seltsame Leere herrschte, noch länger an der Spitze der Regierung bleiben. Geschwächt, einsam und richtungslos. Kein Rücktritt, kein Sturz. Großbritannien versinkt zunehmend in seiner selbst verschuldeten Regierungskrise.

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