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Und sie beten auch ganz anders - Muslime in Deutschland.

© Khang Nguyen/dpa

Pew-Studie zum Islam in Deutschland: Wenn aus Wahn Angst wird

Das entchristlichte Deutschland ist in religiösen Dingen ahnungslos geworden. Auch aus diesem Unwissen speist sich die Furcht vor dem Islam. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Die Deutschen entwickeln sich zu religiösen Analphabeten. Die Zahl der Mitgliedschaften in Kirchen nimmt stetig ab. Vielerorts fehlt das Grundwissen über christliche Traditionen. Nur ein Viertel der Bevölkerung sagt, dass ihr Glaube sie als Person definiere. Zum Vergleich: In Indien sind es 70 Prozent, in Südafrika 66 Prozent.

Besonders der Osten unseres Landes zählt zu den gottesfernsten Regionen der Welt. Die einst staatlich verordnete Säkularisierung war dort, im Unterschied zu anderen ehemals sozialistischen Ländern, sehr erfolgreich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Angst vieler Ostdeutscher vor Islamisierung eine Form der Autoaggression gegen die eigene spirituelle Leere ist. Wer nur seinen Nichtglauben hat, empfindet leicht Neid gegenüber jenen, die im Glauben einen Identitätsanker gefunden haben. Von diesem psychologischen Abwehrmechanismus sind Westdeutsche natürlich nicht frei.

Der Anteil der Muslime in Deutschland und Europa steigt. Entsprechende Zahlen hat das renommierte amerikanische Forschungsinstitut Pew veröffentlicht. Für die Prognosen wurden verschiedene Szenarien durchgerechnet. Halbwegs realistisch scheint in Deutschland eine Steigerung von jetzt sechs auf elf Prozent im Jahr 2050 zu sein. Viele Sorgen, die das auslöst, sind rational. Es gibt islamistisch motivierte Terroristen, einige davon sind als Flüchtlinge eingereist. Es gibt verbrecherische Übergriffe wie aus der Silvesternacht 2015/2016 in Köln. Es gibt arabisch-muslimischen Antisemitismus, der zum Teil bereits bei Schulpflichtigen manifest ist. Und es gibt in der islamischen Tradition fußende Homophobie und Frauenfeindlichkeit. Über all das muss offen geredet werden. Wer gegen Gesetze verstößt, gehört bestraft. Wer bei uns Schutz sucht und schwerstkriminell wird, gehört abgeschoben.

Die Rede ist von „schleichender Islamisierung“

Viele reflexhafte Reaktionen auf das Ergebnis der Pew-Studie speisen sich jedoch auch aus einer tief sitzenden Aversion gegen den Islam als Religionsgemeinschaft. Das entchristlichte Europa ist in Glaubensdingen ahnungslos geworden. Kein Wunder: Wie sollen Menschen die Welt verstehen, wenn sie in einem emphatischen Sinne gar nicht wissen, was religiöser Glaube, religiöse Frömmigkeit ist?

Die Rede ist von „schleichender Islamisierung“, von „Invasion“, von einer „Herrschaft des Halbmondes“. Da schwingt die Überzeugung mit, nicht allein das niedrige Durchschnittsalter der hier lebenden Muslime und die höhere Geburtenrate seien für ihre Ausbreitung verantwortlich, sondern auch finstere, böse Kräfte. Aus Wahn wird Furcht, aus Furcht Hass.

Vielleicht hilft zur besseren Einordnung eine globale Sicht. Denn der Nichtgläubige ist ja im weltweiten Maßstab die Ausnahme, ein Exot. Die religiöse Entwicklung in Deutschland und Europa ist untypisch für den Rest der Welt, weil sie dem allgemeinen Trend zuwiderläuft. In Afrika, Asien und Lateinamerika wächst die Zahl der Christen kontinuierlich. In China konvertieren täglich Tausende, in einigen Jahren dürfte es das größte christliche Land der Welt sein. Soll man deshalb von einer „schleichenden Christianisierung“ sprechen, einer angestrebten „Herrschaft des Kreuzes“?

Der Anteil der Muslime in Deutschland wird steigen. Darüber in apokalyptische Panik zu verfallen, ist unangemessen. Deutsche haben gute Gründe, auf die integrative Kraft ihrer Kultur und Institutionen zu vertrauen.

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