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Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin gerät in der Pädophilie-Debatte unter Druck.

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Update

Pädophilie-Debatte bei den Grünen: Politologe Franz Walter verteidigt Trittin gegen Rücktrittsforderungen

Eine Woche vor der Bundestagswahl werden die Grünen voll von der Debatte um ihre frühere Haltung zur Pädophilie erwischt. Anlass ist ein Bericht über die Rolle von Spitzenkandidat Jürgen Trittin. Manche fordern inzwischen seinen Rücktritt. Doch er bekommt auch Unterstützung.

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Jürgen Trittin ist einer der beiden Spitzenkandidaten der Grünen bei der Bundestagswahl, Katrin Göring-Eckardt die andere. Gemeinsam stehen beide am Montagmittag nach den Gremiensitzungen in der Parteizentrale vor der Presse - und mehr noch als das mäßige Abschneiden der Partei bei der Bayern-Wahl interessiert ein anderes Thema, die Debatte um Pädophilie. Auslöser ist ein Bericht der "taz" vom Montag. Darin schreiben die Politologen Franz Walter und Stephan Klecha, Trittin habe 1981 das Kommunalwahlprogramm der Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL) in Göttingen presserechtlich verantwortet – dort plädierte die AGIL für eine strafrechtliche Freistellung von sexuellen Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Zeitung widmet dem Thema eine Schlagzeile auf Seite eins, dazu eine ganze Schwerpunktseite.

Jürgen Trittin gerät durch die Nachforschungen zur Pädophilie unter Druck

Trittin streitet nichts ab, verwahrt sich aber gegen die Versuche der politischen Konkurrenz, das Thema im Wahlkampf für sich zu instrumentalisieren. Er sagt, dass die AGIL in Göttingen mit der Forderung nach einer Reduzierung der Strafbarkeit für die Paragraphen 174 und 175 des Strafgesetzbuches eine Formulierung aus dem Grünen-Bundesprogramm von 1980 fast wörtlich übernommen habe. In der Gründungsphase der Partei habe es "falsche Forderungen gegeben", betont der Spitzenkandidat. Dem habe auch er sich "nicht hinreichend entgegengestellt", versicherte Trittin: "Das sind auch meine Fehler, die ich bedauere." Es habe zu lange gedauert, bis die Fehler korrigiert worden seien, doch sei dies dann immerhin schon "vor fast einem Vierteljahrhundert" geschehen. Für "falsch verstandene Liberalität" dürfe es kein Verständnis geben.

Franz Walter untersucht Verstrickungen in der Frühzeit der Partei

Trittin sagt, er wiederhole das Angebot an Opfer, sich zwecks Aufklärung bei dem von den Grünen beauftragten Wissenschaftler Franz Walter zu melden. Walter war im Mai von den Grünen mit der Aufklärung der Pädophilie-Verstrickungen in der Frühzeit der Partei beauftragt worden. Nach seinen Erkenntnissen war Trittin unter dem damaligen Kommunalwahlprogramm der AGIL als eines von fünf Mitgliedern der Schlussredaktion aufgeführt. Nur hinter Trittins Namen stehe das Kürzel V.i.S.d.P. - die Abkürzung für „Verantwortlich im Sinne des Presserechts". Der heute 59-jährige Trittin war damals Student und Kandidat für den Stadtrat. Walter ist Parteienforscher und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen, Klecha wissenschaftlicher Mitarbeiter seines dortigen Institut für Demokratieforschung.

Das Kommunalwahlprogramm der Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste in Göttingen aus dem Jahr 1981.
Das Kommunalwahlprogramm der Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste in Göttingen aus dem Jahr 1981.

© TSP

Trittin wendet sich gegen Angriffe von Unionspolitikern, die massive Kritik am Grünen-Spitzenkandidaten geäußert und sogar den Verzicht auf seine Spitzenkandidatur gefordert hatten. Wer glaube, mit diesem Thema Wahlkampf machen zu können, habe nicht verstanden, worum es in Wahlkämpfen gehe, sagte er. Mögliche negative Auswirkungen auf das Abschneiden seiner Partei bei der Bundestagswahl am kommenden Sonntag bestreitet er mit dem Hinweis, seine Partei werde bei diesem Thema "nicht getrieben, wir treiben uns selbst". Der Anspruch bleibe, mit der "schlechten Geschichte der Grünen umzugehen", dies "solide und ohne Vorbehalte und ohne falsche Schranken".

Unionspolitiker üben massive Kritik an Trittin

„Trittin muss seine Spitzenkandidatur ruhen lassen“, hat zuvor CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt bei Focus Online gefordert. „Trittin war Teil des Pädophilie-Kartells bei den Grünen und ist als Frontmann untragbar“, sagte Dobrindt. „Statt sich selbst zu stellen und die Karten auf den Tisch zu legen, hat er gewartet, bis er enttarnt und überführt wurde. Der heuchlerische Umgang mit der Pädophilie-Vergangenheit ist mit ein Grund, warum die Wähler sich von der Grünen abwenden.“ Auch der CDU-Politiker Philipp Mißfelder fordert Trittin auf, wegen der Vorwürfe in der Pädophilie-Debatte Konsequenzen zu ziehen. „Herr Trittin soll sich wirklich überlegen, ob er der Richtige ist für diese Führungsaufgabe bei den Grünen“, sagte Mißfelder. Was 1981 von den Grünen in Göttingen veröffentlicht worden sei, nannte Mißfelder „absolut indiskutabel und abscheulich“

Kristina Schröder: Blanker Hohn gegenüber allen Missbrauchsopfern

Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) wirft Trittin vor, er verhöhne die Opfer von sexuellem Missbrauch. „Als Jürgen Trittin mit falschen Bolzenschneider- und Schlagstock-Fotos von einer Göttinger Demo konfrontiert wurde, konnte er sich sofort perfekt an jedes entlastende Detail der Szene erinnern“, sagt die Ministerin dem Tagesspiegel. Derselbe Jürgen Trittin brauche nun einen Professor, „um seine persönlichen Erinnerungen an grüne Pädophilie wachzurütteln und zu veröffentlichen“. Sie fügt hinzu: „Das ist der blanke Hohn gegenüber allen Missbrauchsopfern, die zu Recht mehr Ehrlichkeit von der Gesellschaft gegenüber Kindesmissbrauch verlangen.“

Franz Walter verteidigt Trittin gegen Rücktrittsforderungen

Politologe Walter hält Rücktrittsforderungen dagegen für übertrieben. "Aus meiner Sicht muss Jürgen Trittin deswegen nicht zurücktreten. Diese Hysterie finde ich überzogen. Die Dokumente sind bei weitem nicht das Schlimmste, was wir bisher gefunden haben", sagte Walter dem Tagesspiegel. Dass der Artikel jetzt veröffentlicht worden sei, habe "kein taktisches Kalkül", sagte Walter weiter. "Die Dokumente zu Trittin haben wir letzte Woche gefunden. Hätten wir sie zurückgehalten bis nach der Bundestagswahl, hätte man uns womöglich Vertuschung vorgeworfen", sagte Walter. Das Institut für Demokratieforschung verstehe Wissenschaft so, dass man mit seinen Ergebnissen auch in einen Austausch mit der Öffentlichkeit gehe.  "Nach jeder Veröffentlichung bekommen wir neue Hinweise für unsere Arbeit", erklärte Walter. Mit seinem Artikel in der taz habe er appellieren wollen, "die Sprachlosigkeit zu überwinden, die nicht nur bei den Grünen, sondern auch bei vielen anderen aus dieser Generation herrscht".

Missbrauchsbeauftragter Rörig sieht Grüne auf dem richtigen Weg

Johannes-Wilhelm Rörig
Johannes-Wilhelm Rörig

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Auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, sagte, die Grünen hätten mit der unabhängigen Aufarbeitung ihrer Gründungszeit die richtige Entscheidung getroffen. „Auch schmerzhafte Ergebnisse werden veröffentlicht, das ist genau der richtige Weg“, sagte Rörig dem Tagesspiegel. Rücktrittsforderungen an Trittin kommentierte er mit dem Hinweis, es müsse „in Ruhe und losgelöst vom Wahlkampf und von populistischen Forderungen entschieden werden, wie man auf die Opfer angemessen und sensibel zugeht“.

Katrin Göring-Eckardt: Wir lassen völlig unvoreingenommen untersuchen

Göring-Eckardt versichert, die Partei habe sich für eine Untersuchung der Geschichte durch den Politikwissenschaftler Walter entschieden, damit diese "völlig unvoreingenommen" geschehe und nicht auf der "selektiven Erinnerung Einzelner" beruhe. Sie sei "sehr froh", dass das Kapitels des falschen Umgangs mit dem Thema Pädophilie von den Grünen selbst beendet worden sei. "Das ist eine Geschichte der Vergangenheit", sagt sie. Eine "neue Lage" für die Grünen ist aus ihrer Sicht durch die Veröffentlichung Walters nicht entstanden.

Katrin Göring-Eckardt
Katrin Göring-Eckardt am Montag bei einer Pressekonferenz in Berlin

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Schon im Gespräch mit der "taz" hatte Trittin am Sonntag den von Walter behaupteten Sachverhalt bestätigt. "Franz Walter beschreibt die Sachlage zutreffend“, sagte er. Die AGIL sei falschen Forderungen nicht energisch genug entgegengetreten. "Wir haben es nicht mal hinterfragt, als wir unser Programm zur Kommunalwahl 1981 erstellt haben." Es habe zu lange gedauert, bis die falschen Aussagen korrigiert worden seien. Für Missbrauch könne es keine Straffreiheit geben. Konkret hatte die AGIL in Göttingen den Programmabschnitt "Schwule und Lesben" von der "Homosexuellen Aktion Göttingen" übernommen - laut Walter und Klecha kein ungewöhnlicher Vorgang, weil sich die Grünen in jener Zeit "als Sammlungskraft für sehr unterschiedliche Bewegungen verstanden" hätten.

Unter der Überschrift "Die fatale Schweigespirale" gehen die von den Grünen beauftragten Wissenschaftler Walter und Klecha ganz generell mit der Partei ins Gericht. "Die Grünen halten lieber den Mund, murmeln höchstens von einem besonderen Zeitgeist, raunen von Verirrten und Sektierern, die man längst hinter sich gelassen habe", schreiben die Politologen in der "taz". Die Sprachlosigkeit der grünen Führungsriege konsterniere. "Sie legt einen gravierenden Verlust des zuvor so strotzenden Selbstbewusstseins offen - gerade in der moralischen Hybris, die Partei der Guten zu sein." Warnende Hinweise von "durchaus kundigen Zeitgenossen" habe es, so Walter und Klecha, bereits in den frühen 80er Jahren gegeben, "aber sie wurden in der Gründungszeit der grünen Partei ignoriert".

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