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OSZE-Beobachter in der Ukraine: "Wir zählen viel mehr zivile Tote und Verletzte"

Der Vize-Chef der OSZE-Beobachter in der Ukraine, Alexander Hug, über den Konflikt im Donbass, die Gefahr neuer heftiger Gefechte - und Chancen für Frieden.

 

Alexander Hug, stellvertretender Leiter der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine.
Alexander Hug, stellvertretender Leiter der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine.

© Robert Ghement/ picture alliance /dpa

Herr Hug, wie ist derzeit die Lage in der Ostukraine?

Im letzten halben Jahr hat sich die Lage in der Ukraine verschlechtert. Die beiden wichtigsten Ursachen dafür, dass die Kämpfe weitergehen, bleiben unverändert bestehen: Die Seiten stehen viel zu dicht aneinander, und die schweren Waffen wurden nicht von der Kontaktlinie abgezogen. Der zu geringe Abstand führt immer wieder zu Spannungen und dann zu Gefechten. Und die Panzer, Artilleriegeschütze und Mehrfachraketenwerfer, die in Gebieten stehen, in denen sie nicht sein dürften, werden dort auch eingesetzt.

Wie nah stehen sich die Konfliktparteien gegenüber?

In manchen Gebieten sind es nur zehn oder 20 Meter. Die Kontaktlinie verschiebt sich zwar nicht, aber die Seiten bewegen sich an diese Linie heran. Das führt zu ständigen Spannungen. Deshalb zählen wir in diesem Jahr auch viel mehr zivile Tote und Verletzte. Seit Jahresbeginn wurden nach unseren Beobachtungen 52 Zivilisten getötet und 233 verletzt. Im letzten Jahr waren es im gleichen Zeitraum 32 Tote und 126 Verletzte. Während sich die Seiten auf die Kontaktlinie zubewegten, sind sie vielfach in Wohngebiete vorgedrungen, und durch das Vorhandensein von schweren Waffen werden diese Gebiete zu Zielen. Wenn ein Panzer in einem westlichen Stadtteil von Donezk oder in Avdiivka steht, ist das nicht nur eine Feuerposition,  sondern er zieht auch Gegenfeuer an.

Ganz ähnliche Probleme haben Sie bereits bei unseren Gesprächen vor einem und auch vor zwei Jahren beklagt: ständige Verstöße gegen den Waffenstillstand, den mangelnden Abzug von Panzern und anderem schweren Gerät und den zu geringen Abstand zwischen den Konfliktparteien.  Wo sehen Sie die Gründe dafür, dass dieser Prozess überhaupt nicht vorankommt?

Es mangelt am politischen Willen, den Waffenstillstand nachhaltig zu unterstützen. In den vergangenen Tagen haben wir vergleichsweise wenige Waffenstillstandsverletzungen registriert, weil zuvor eine Feuerpause für die Ernte ausgerufen worden war. Wir zählen derzeit zwischen 100 und 600 Verletzungen pro Tag, vorher waren es über 1000.  Das heißt, dass die Seiten das Feuer kontrollieren können, zumindest zu einem gewissen Grad. Aber diese Veränderung ist nicht nachhaltig. Es kann jederzeit zu einem heftigen Anstieg von Gefechten kommen. Bis dahin wird die Zeit genutzt, um aufzumunitionieren und Positionen zu verstärken. Die Feuerbereitschaft steigt also an. Und unsere Erfahrung aus den vergangenen Jahren zeigt, dass die schwersten Gefechte gegen Ende des Sommers zu erwarten sind.  

Was müsste passieren, um nach drei Jahren endlich Fortschritte zu erreichen?

Diejenigen, die die Minsker Vereinbarungen unterschrieben haben, müssen Entscheidungen treffen, die Mut erfordern. Sie müssen befehlen, nicht weiter vorzurücken, die Waffen abzuziehen und nicht zurückzufeuern. Das sind militärisch und politisch schwierige Entscheidungen. Aber wenn das nicht passiert, werden weiterhin Zivilisten zu Schaden kommen, die Infrastruktur wird weiter zerstört, und es wird noch schwerer, eine Lösung zu finden. Eine Feuerpause ist eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung dieser Maßnahmen. Es reicht aber auch nicht, sich  wieder und wieder zu einer Feuerpause zu bekennen, ohne die Zeit zu nutzen, endlich Veränderungen zu erreichen. Dann riskiert man nur das Aufflammen neuer Gefechte.

Die Bundesregierung hat kritisiert, dass in der Ostukraine seit einigen Monaten „Abspaltungstendenzen“ zu beobachten seien. Wie sehen Sie das vor Ort?

Für die ukrainische Bevölkerung auf beiden Seiten gibt es eigentlich gar keine trennende Linie, jedenfalls nicht in den Köpfen. Vor Ort existiert diese Linie natürlich schon, und es ist sehr mühsam, sie zu überqueren. Auf einer Länge von 500 Kilometern gibt es nur fünf Übergänge. Die Leute müssen dort in der Sommerhitze zehn bis 15 Stunden warten. Aber trotzdem sehen wir, dass jeden Tag insgesamt zwischen 15000 und 30000 Ukrainer diese Linie in beiden Richtungen überqueren. Das ist ein positives Zeichen. In anderen Konflikten sieht man das nicht, dort existieren Gruppen, die sich bekämpfen, ohne dass es einen Austausch gibt. Allerdings stimmt es natürlich, dass sich nach drei Jahren des Konflikts die Kontaktlinie weiter verfestigt. Wir sind noch nicht an einem Punkt angelangt, dass wir von Abspaltung sprechen können,  aber es gibt Anzeichen dafür, dass dieser Prozess begonnen hat.

Sehen Sie Hinweise darauf, dass aus Russland weiterhin Waffen und auch Kämpfer über die Grenze kommen?

Ich kann nur auf unsere Berichte hinweisen, in denen wir beschrieben haben, dass wir spezielle Waffentypen sehen, dass wir Fahrzeugkonvois sehen, die sich in die entsprechende Richtung bewegen. Das war erst Anfang dieser Woche der Fall. Aber daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, ist nicht unsere Aufgabe. Das müssen diejenigen tun, die unsere Berichte lesen. Wir haben auch oft darüber berichtet, dass wir Personen treffen, die behaupten, nicht aus der Ukraine zu sein, wir haben mit Gefangenen der Ukrainer gesprochen, die sagen, sie seien Mitglieder einer russischen Einheit gewesen. All diese Informationen sind ebenso veröffentlicht wie die Sichtung von speziellem Kriegsgerät, auch elektronischem Kriegsgerät, das wir im nicht von der Regierung kontrollierten Gebiet gesehen haben…

 … was meinen Sie damit konkret?

So genannte Jamming-Geräte, die benutzt werden, um Telefonverbindungen oder nicht bemannte Flugzeuge zu stören.

Im April ist in der Ostukraine ein Sanitäter getötet worden, der mit einer Patrouille der OSZE-Beobachter unterwegs war. Hat sich die Sicherheitslage für die Beobachter in den vergangenen Monaten verschlechtert?

Die Sicherheitslage war schon vor dem 23.April sehr schlecht. Wir waren einer ständigen Gefahr ausgesetzt, und es gab regelmäßig schwere Vorfälle, das heißt, es wurde direkt auf uns geschossen oder es gab neben uns Einschläge, oder unsere Fahrzeuge und unbemannten Flugzeuge wurden beschossen. Während es noch Anfang des Jahres jeden sechsten Tag einen solchen schweren Vorfall gab, passiert das heute an jedem dritten Tag. Letzte Woche wurde am Bahnhof von Jasynuwata auf uns geschossen. Dort stehen wir jeden Tag auf dem Parkplatz, weil das ein vorgelagerter Beobachtungsposten ist. Das war ein gezielter Angriff auf uns.  

Die Beobachtermission beklagt immer wieder, dass ihr der Zugang zu bestimmten Gebieten verwehrt wird. Auf welcher Seite kommt das häufiger?

Der Zugang wird uns in Gebieten verweigert, in die wir nicht hineinsehen sollen, und in denen es Waffen gibt, die dort nicht sein dürfen. Zahlenmäßig halten sich die Restriktionen, also verweigerter, verspäteter oder eingeschränkter Zugang, die Waage. Aber die aggressiveren Vorfälle finden mehrheitlich auf Nichtregierungsseite statt. Dort wird in unserer unmittelbaren Nähe oder auf uns geschossen, und es gab auch schon sexuelle Belästigungen.

Sie sind seit 2014 stellvertretender Leiter der Beobachtermission, waren also von Anfang an dabei. Damals konnten Sie nicht damit rechnen, dass Sie 2017 immer noch in der Ostukraine unterwegs sind und über dieselben Probleme reden. Wie lange wollen Sie weitermachen?

Das ist eine Entscheidung, die zwischen meinem Arbeitgeber, meiner Familie und mir selbst liegt. Aber meine Kollegen und ich wissen, dass es möglich ist, Frieden zu schaffen, und wollen unseren Beitrag dazu leisten. Die Möglichkeit zum Frieden liegt sogar sehr nahe. Es gibt keine unterschwellige Gruppendynamik wie in anderen Konflikten, keine ethnischen oder religiösen Konflikte, die auch noch behandelt werden müssten. Wenn die Entscheidungsträger wollen, dann ist Ruhe. Dafür bedarf es allerdings des politischen Willens.

Alexander Hug ist seit 2014 Vize-Leiter der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine. Der Jurist und Offizier aus der Schweiz war zuvor bereits für die OSZE im Kosovo.

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