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Bewaffnete Spezialeinheiten bewachen das Redaktionsgebäude der Zeitung "Zaman".

© dpa

Update

Oppositionszeitung "Zaman" unter staatlicher Kontrolle: Schulz: "Türkei ist dabei, Chance der Annäherung an die EU zu verspielen"

Mit Tränengas und Wasserwerfern hat die Türkei die kritische Zeitung "Zaman" unter die Kontrolle des Staates gestellt. Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments, kündigte vor dem EU-Türkei-Gipfel Maßnahmen an.

Die ehemalige türkische Oppositionszeitung „Zaman“ hat ihre Arbeit unter staatlicher Kontrolle wieder aufgenommen. Mitarbeiter der Zeitung veröffentlichten am Samstag in sozialen Netzwerken Fotos, die zeigen, wie bewaffnete Spezialeinheiten das abgesperrte Redaktionsgebäude in Istanbul bewachen. Die Zeitung war am Freitag auf einen Gerichtsbeschluss hin unter die Aufsicht einer staatlichen Treuhandverwaltung gestellt worden. Die Polizei setzte jedoch auch am Samstagnachmittag Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen rund 500 Menschen ein, die sich aus Solidarität mit der Zeitung vor deren Redaktionsgebäude versammelt hatten, wie ein AFP-Reporter berichtete

Die Übernahme von „Zaman“ wird als weiterer Angriff der Regierung auf die Pressefreiheit in der Türkei gesehen. Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, hat die Entscheidung der türkischen Regierung, die Aufsicht über die oppositionsnahe Zeitung "Zaman" zu übernehmen, scharf kritisiert. "Die Türkei ist dabei, eine historische Chance der Annäherung an die Europäische Union zu verspielen", sagte Schulz dem Tagesspiegel am Sonntag.

Der SPD-Politiker kündigte an, die Stürmung des Zeitungssitzes durch die türkische Polizei bei seinem Treffen mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu unmittelbar vor dem EU-Gipfel am Montagvormittag zur Sprache zu bringen. "Die erneuten Angriffe auf die Medienfreiheit und das Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung sind dramatische und äußerst Besorgnis erregende Entwicklungen, für die Europa auf dem Gipfel am Montag klare Worte finden wird", so Schulz.

Die EU ist in der Flüchtlingskrise auf die Türkei angewiesen

"Die Türkei ist und bleibt für die EU ein wichtiger strategischer Partner bei der Lösung zahlreicher Probleme im Nahen Osten, von der Bewältigung der Flüchtlingskrise bis zu einer friedlichen Lösung des Krieges in Syrien, und unser Ziel sollte es weiterhin sein, die Türkei an die EU anzubinden und ihr eine Perspektive zu geben", sagte Parlamentspräsident Schulz.

Er fügte allerdings hinzu: "Klar ist jedoch, dass es hier keinen Rabatt geben kann und die EU bei der Einhaltung ihrer Grundwerte keine Abstriche machen wird." Die EU ist jedoch bei der Verringerung der Flüchtlingszahlen dringend auf die Kooperation der Türkei angewiesen.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte die Türkei noch kurz vor dem rabiaten Vorgehen gegen die Zeitung wegen ihrer Flüchtlingspolitik gelobt.

„Ankara hat unter humanitären Gesichtspunkten zuletzt Bemerkenswertes geleistet. Dort sind 2,5 Millionen Flüchtlinge aus der Krisenregion in Syrien aufgenommen worden. Das verdient Anerkennung und nicht Kritik. Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein“, sagte er der „Passauer Neuen Presse“.

Cem Özdemir fordert "klare Worte" von Angela Merkel

Grünen-Chef Cem Özdemir forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf, "endlich klare Worte der Kritik finden und aufhören, absichtlich jede menschenrechtliche Sauerei in der Türkei zu übersehen", sagte Özdemir denselben Blättern.

"Es wäre fatal, wenn nun das Signal ausgeht, dass die EU über Menschenrechtsverletzungen hinwegsieht, weil ihr die Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik wichtiger sind, als die Einhaltung ihrer eigenen Grundwerte."

Die Bundesregierung erklärte, sie äußere sich zu innenpolitischen Vorgängen in der Türkei grundsätzlich nicht öffentlich. Amnesty International erklärte, die Türkei walze die Menschenrechte nieder, indem sie versuche, kritische Stimmen zu unterdrücken.

"Das ist das Ende der Pressefreiheit in der Türkei"

Der Staat hatte zuvor bereits andere Medien, einschließlich Zeitungen und Fernsehsender, übernommen.

Die Chefredakteurin des englischsprachigen „Zaman“-Schwesterblattes „Today's Zaman“, Sevgi Akarcesme, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul am Telefon: „Das ist das Ende der Pressefreiheit in der Türkei, und das verstößt gegen unsere Verfassung.“ Es gebe keine Rechtsstaatlichkeit in der Türkei mehr. „Die Regierung hat unsere Zeitung konfisziert“, klagte Akarcesme.

Amnesty International und andere Menschenrechtsgruppen kritisierten die Übernahme aufs Schärfste. Es handle sich um „den neuesten Versuch des türkischen Präsidenten und der Regierung, kritische Medien zum Schweigen zu bringen“, kritisierte Human Rights Watch.

Gewaltsam haben sich die Polizisten Zutritt in die Redaktion verschafft. Überwachungskameras sollen abgeschaltet worden sein, um Live-Bilder vom Einsatz zu verhindern.
Gewaltsam haben sich die Polizisten Zutritt in die Redaktion verschafft. Überwachungskameras sollen abgeschaltet worden sein, um Live-Bilder vom Einsatz zu verhindern.

© dpa/SELMAN GUNES

Die Organisation Reporter ohne Grenzen forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, beim EU-Türkei-Gipfel am Montag in Brüssel klare Worte zur Pressefreiheit zu finden. „Von diesem Gipfel darf nicht das verheerende Signal ausgehen, dass die EU über jede Menschenrechtsverletzung hinwegsieht, wenn es um Zugeständnisse in der Flüchtlingspolitik geht“ heißt es in einer Erklärung. Das illegale und eindeutig politisch motivierte Vorgehen zeige, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan keine Schamgrenze mehr bei der Unterdrückung jeder Kritik an seiner Regierung kenne.

Polizei hatte Zeitung "Zaman" am Freitagabend gestürmt

Die türkische Polizei war am Freitagabend gewaltsam in das Redaktionsgebäude der oppositionellen Zeitung in Istanbul eingedrungen. Gegen die protestierende Menge, die sich seit dem Abend vor dem Haus versammelt hatte, sei die Polizei mit Tränengas vorgegangen, berichteten türkische Internetmedien. „Diebe raus“, skandierten den Berichten zufolge die Mitarbeiter der Zeitung.

Ein offizieller Grund für den Gerichtsbeschluss wurde zunächst nicht bekannt. „Zaman“ steht der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen nahe, der im US-Exil lebt. Gülen war einst ein Verbündeter des islamisch-konservativen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, hat sich mit ihm aber überworfen. Gülens „Hizmet“-Bewegung ist in der Türkei inzwischen zur Terrororganisation erklärt worden.

Die Szenen vor dem Redaktionsgebäude der regierungskritischen Zeitung "Zaman".
Vor dem Redaktionsgebäude der regierungskritischen Zeitung "Zaman" setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer ein.

© Selman Gunes/dpa

Erdogan weist regelmäßig Vorwürfe zurück, die Pressefreiheit in der Türkei werde eingeschränkt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten. „Zaman“ hatte nach eigenen Angaben im vergangenen Jahr eine Auflage von rund 850 000 Stück (Stand März 2015). Sie war damals die auflagenstärkste Zeitung der Türkei. (mit dpa)

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