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Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).

© Thomas Trutschel/imago/photothek

Norbert Lammert im Interview: "Entscheidung für Berlin als Hauptstadt war goldrichtig"

Bundestagspräsident Lammert schaut zurück auf 37 Jahre im Parlament. Er scheidet mit Kritik am mangelnden Reformeifer der Fraktionen beim Wahlrecht.

Herr Lammert, der Abschied aus dem Bundestag nach 37 Jahren als Abgeordneter und 12 Jahren als Präsident des Parlaments rückt näher. Hat sich jetzt doch Wehmut eingestellt? Eine Träne im Knopfloch?

Nein, weder noch.

 Nanu, nach so vielen Jahren?

Warum denn? Ich habe eine Entscheidung getroffen, die ich mir über einen langen Zeitraum sorgfältig überlegt habe. Und deswegen fühle ich mich auch mit zunehmender Annäherung an den Termin des Wechsels in dieser Entscheidung nicht verunsichert.

 Was machen Sie denn künftig, nach einem ersten Durchatmen vermutlich?

Das kann ich vielleicht nach dem ersten Durchatmen beantworten. Vorerst jedenfalls gibt es viele Einladungen, aber keine wie auch immer geartete und mit wem auch immer vereinbarte „Anschlussverwendung“.

 Sie waren ja nicht häufig Gast in Talkshows. Könnte sich das ändern?

Damit ist nicht zu rechnen.

 Werden Sie noch einen Koffer in Berlin haben nach dem Abschied?

Ganz sicher. Ich werde hier auch meine Wohnung behalten.

 In der Stadt, die Sie als Bundestagsabgeordneter 1991 gar nicht als Hauptstadt wollten. Sie stimmten damals in der historischen Bundestagssitzung für Bonn. Wie ist der Bonn-Befürworter Norbert Lammert denn mit Berlin klargekommen?

Wie erwartet ohne jede Schwierigkeit. Ich fühle mich in Berlin „sauwohl“. Was auch damit zusammenhängt, dass die Mentalität der Berliner mit der Mentalität der „Ruhris“, also der Leute aus dem Ruhrgebiet, aus dem ich komme, sehr verwandt ist. Die Gründe, die mich damals für Bonn votieren ließen, hatten auch nichts mit Berlin und den Berlinern zu tun. Sondern mit Befürchtungen, wie der Umzug und die damit verbundene unvermeidliche Konkurrenzsituation Berlins mit anderen relevanten Hauptstädten innerhalb und außerhalb Europas wahrgenommen würde. Heute bin ich rundum zufrieden, dass die damaligen Befürchtungen unbegründet waren. Es war eine knappe Entscheidung nach einer leidenschaftlichen Debatte. Und die Entscheidung der Mehrheit für Berlin ist goldrichtig gewesen.

Und ist es ein rundes Verhältnis geworden zwischen dem politischen Hauptstadtbetrieb und der Hauptstadt?

Na ja. Eine Behauptung, die damals von den Berlin-Befürwortern besonders gern vorgetragen wurde, dass nämlich in Berlin das Parlament und die politische Klasse viel stärker in der Stadt und damit in der Gesellschaft verankert sein würden als im Raumschiff Bonn, die hat sich aus meiner Sicht nicht bestätigt. Da kann ich keinen substanziellen Unterschied erkennen. Natürlich ist das Begegnungspotenzial in Berlin größer, das Ablenkungspotenzial sowieso. Aber ich bin noch immer schwer beeindruckt, dass wir den Bonner Parlamentarismus im Maßstab 1:1 nach Berlin versetzt haben. Alle Gewohnheiten und Abläufe haben sich auf der sehr viel größeren Bühne Berlin im Vergleich mit der Puppenstube Bonn in erstaunlicher Weise erhalten.

 Der Begriff „Berliner Republik“ lässt sie demnach allenfalls schmunzeln.

Die Bonner Republik und die Berliner Republik haben im Vergleich zur Weimarer Republik, um diese Trias der Bezeichnungen aufzugreifen, eines gemeinsam: Sie sind stabile und gefestigte Demokratien mit hohem Ansehen weltweit. Und das ist unter jedem Gesichtspunkt erfreulich.

 Wird das so bleiben, wenn jetzt möglicherweise eine Partei in den Bundestag einzieht, mit der viele Beobachter nicht unbedingt demokratische Stabilität verbinden und mit der niemand koalieren will aus Gründen, die bis zur Weimarer Republik zurückreichen? Welchen Umgang empfehlen Sie dem Parlament, falls die AfD tatsächlich einzieht?

Zunächst empfiehlt es sich, Wahlergebnisse abzuwarten einschließlich der damit verbundenen konkreten Stärkeverhältnisse. Grundsätzlich halte ich es nicht für gut, bewährte parlamentarische Verfahren und Abläufe von veränderten Repräsentanzen abhängig zu machen. Alle, die erstmals in ein Parlament gewählt worden sind, sollte man auf die Regeln aufmerksam machen, die der deutsche Parlamentarismus qua Verfassung, Geschäftsordnung und ständiger Übung für bewährt und richtig hält. Im Übrigen hält sich meine Neigung sehr in Grenzen, nach Ausscheiden aus meinem Amt meinen Nachfolgern zuzurufen, mit welchen Herausforderungen sie denn gefälligst wie umzugehen haben.

 Was ist die größte inhaltliche politische Herausforderung, die auf den künftigen Bundestag zukommt?

Solche Fragen lassen sich nicht verlässlich beantworten. Wenn ich an 2013 denke, waren die wesentlichen Herausforderungen danach nicht Gegenstand des damaligen Wahlkampfes. Weil niemand damit gerechnet hat, was sich dann etwa in der Ukraine ereignete. Der Brexit stand auf keiner Planungsliste, auch nicht die Entwicklung in der Türkei und dann in den Vereinigten Staaten, einem der nach wie vor wichtigsten Partnerländer Deutschlands und der EU. Also bin ich sehr zurückhaltend in der Beantwortung dieser Frage.

 Aber eine Herausforderung zeichnet sich ab – eine neuerliche Wahlrechtsreform, vor allem dann, wenn die Zahl der Abgeordneten nach der Wahl am 24. September weit höher liegt als derzeit mit 630 und weit über der Mindeststärke von 598 Sitzen. Wenn nun absehbar eine Direktmandatsfraktion der CDU/CSU fünf Fraktionen gegenübersitzt, die vor allem aus Listen-Abgeordneten besteht – ist das eine gute Konstellation für die Debatte zum Wahlrecht?

Niemand hat früher, regelmäßiger und lauter als ich auf die Notwendigkeit einer Justierung unseres Wahlrechts hingewiesen. Ich hätte mir außer dem höheren Problem- und Gestaltungsbewusstsein der Fraktionen im Bundestag auch eine größere öffentliche Unterstützung vorstellen können, auch in den Medien. Wenn man das Parlament stärker mit der Dringlichkeit einer rechtzeitigen Änderung konfrontiert hätte, wäre die Abwehrfront im Bundestag nicht zu halten gewesen. Es gab in allen Fraktionen keine genügende Bereitschaft, das Problem eines zu groß werdenden Bundestags zu lösen – obwohl die Wahrnehmung des Problems sich nicht unterschied. Jetzt wird man in der neuen Wahlperiode unter noch schwierigeren Bedingungen an das Thema wieder herangehen müssen.

 Sie sind auch ein Kritiker der Debattenkultur im Parlament. Sie ist Ihnen nicht lebendig genug. Liegt es an den Formaten oder an den Abgeordneten?

Eher an den Formaten. Gerade weil die Funktion der Plenardebatte ja nicht darin besteht, zur Urteilsbildung der Abgeordneten beizutragen, sondern zur Information der Öffentlichkeit über den Stand der Urteilsbildung in den jeweiligen politischen Gruppierungen, sind die häufig gut gemeinten, aber zu langen Debatten weit weniger attraktiv als sie sein könnten, wenn man sie strafft. Wenn der zweite und dritte Redner einer Fraktion auftritt, um zu wiederholen, was der erste schon gesagt hat, dann ist schon bei den eigenen Kollegen das Interesse schnell erschöpft, bei einer breiteren Öffentlichkeit aber umso mehr. Deswegen würden zeitlich engere Formate mit knapperen Redezeiten zur Attraktivität beitragen.

 Aber manchmal gelingt es ja doch. Welche Debatte hat sie denn am stärksten beeindruckt in Ihrer Zeit im Bundestag?

Da kann und will ich mich jetzt nicht entscheiden, dafür waren es in der langen Zeit seit 1980 dann doch zu viele. Aber Eindruck gemacht haben vor allem jene, in denen der Bundestag um den angemessenen gesetzlichen Rahmen in ethischen Grundsatzfragen gerungen hat. Wenn es etwa um medizinische Gestaltungsmöglichkeiten für den Beginn und das Ende menschlichen Lebens gegangen ist. Da konnte man jeweils beobachten, wie das Parlament mit sorgfältigen Abwägungen um eine verantwortliche Urteilsbildung bemüht war. Die Verbindung von ganz persönlichen Lebensgeschichten und Erfahrungen mit dem ja notwendigerweise allgemeinen Gestaltungsauftrag des Gesetzgebers – aus diesem Zusammenhang entstanden Glanzstücke parlamentarischer Arbeit.

 Gab es Redner, die Sie besonders beeindruckten?

Ich gehöre zum inzwischen kleinen Kreis derer, die sowohl Herbert Wehner wie Helmut Schmidt noch im Bundestag erlebt haben. Oder Franz Josef Strauß, der sein Rederecht als bayerischer Ministerpräsident gern genutzt hat, im Unterschied zu den heutigen Ministerpräsidenten. Oder den vor einer Woche gestorbenen Heiner Geißler. Aber die Typen ändern sich eben und spiegeln gesellschaftliche Veränderungen wider. Ob jemand wie Wehner heute noch Wahlkreisabgeordneter für Hamburg-Harburg würde, oder Konrad Adenauer in Bonn, ist eine schöne Spekulation. 

 Was raten Sie als langjähriger Abgeordneter den Dutzenden Neulingen im künftigen Bundestag?

Ach, das klingt dann doch nur wie eine dieser onkelhaften Empfehlungen…

… über die manche vielleicht froh wären…

Na gut, ein Ratschlag: Man soll sich selber nicht wichtiger nehmen als man ist, aber das Mandat stets für noch wichtiger halten, als man es ohnehin wahrnimmt.

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