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Freude über das Ergebnis: Türken in Berlin feiern den Ausgang des Referendums.

© dpa/Paul Zinken

Nach dem Verfassungsreferendum: Der türkische Trotz straft den Spott der Deutschen

Knapp zwei Drittel der in Deutschland lebenden türkischen Wähler haben für Erdogans Präsidialsystem gestimmt. Dauerhafte Geringschätzung überstrapaziert das Geflecht jeder Beziehung. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Was für Wesen sind das bloß? Die in Deutschland lebenden Türkeistämmigen sympathisieren zu 69,8 Prozent mit der SPD, zu 13,4 Prozent mit den Grünen und zu 9,6 Prozent mit den Linken. Rot-Rot-Grün käme bei ihnen auf satte 92,8 Prozent. Andererseits haben 63,1 Prozent der wahlberechtigten Türken in Deutschland, die ihre Stimme abgegeben haben, für das Präsidialsystem von Recep Tayyip Erdogan gestimmt.

Ja, was denn nun: Sind sie mehrheitlich links-ökologisch eingestellt oder autoritär, nationalistisch und religiös? Die Antwort verblüfft nur auf den ersten Blick: Sie sind alles zusammen. Was von außen betrachtet widersprüchlich wirkt, wird im Alltag pragmatisch gelebt. Der religiöse Nationalismus befriedigt das Identitätsbedürfnis, die links-ökologische Parteienpräferenz belohnt den Einsatz für Minderheitenrechte, Anti-Rassismus, Multikulti, doppelte Staatsbürgerschaft. Sowohl-als auch statt Entweder-oder.

Viele verstört das. Darum wurde das Abstimmungsverhalten im Verfassungsreferendum als Zeichen einer gescheiterten Integration und mangelnder Loyalität zu deutschen Werten kritisiert. Als fünfte Kolonne Erdogans würden viele hier lebende Türken ein perfides Doppelspiel betreiben: In Deutschland genießen sie Freiheit und Demokratie, in der Türkei stimmen sie für Unfreiheit und Despotismus. Was sind die Gründe dieser scheinbaren Schizophrenie?

Moderne Migranten streifen ihre frühere Identität nicht einfach ab

Die rund drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland sind überwiegend moderne Migranten. Sie reisen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland hin und her, halten engen Kontakt zu Freunden und Familienangehörigen übers Smartphone und via Skype, empfangen durch das Satellitenfernsehen viele heimische Programme. Das verbindet. Moderne Migranten streifen ihre frühere Identität nicht einfach ab, sondern ergänzen sie durch eine neue. Dabei sollte aus der starken Verbundenheit mit der alten Heimat nicht automatisch mangelnde Integrationsbereitschaft abgeleitet werden.

Allerdings steigt die Anziehungskraft von Religion und Nationalismus in dem Maße, wie die Aufnahmegesellschaft als fremd empfunden wird. Solche Fremdheitsgefühle resultieren nicht allein aus Diskriminierungs- sondern auch aus Demütigungserfahrungen, die mit der Herkunft zu tun haben.

Zwei Beispiele aus jüngster Zeit: Der Deutsche Bundestag hatte jedes Recht, einen Beschluss zum Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich zu treffen. Sehr viele hier lebende Türken fühlten sich dadurch indes in ihrer nationalen Ehre gekränkt. Jan Böhmermann hatte jedes Recht, seine gegen Erdogan gerichtete satirische Schmähkritik vorzutragen. Sehr viele hier lebende Türken fühlten sich dadurch jedoch mitgemeint und mitgetroffen.

Keiner weiß, wie viele Türken in Deutschland aus demonstrativem Selbstbehauptungswillen für Erdogans Verfassungsänderung gestimmt haben, nach dem Motto: Je fieser euer Spott, desto schmerzlicher soll euch unser Trotz treffen. Aber es dürfte kein Zufall sein, dass der türkische Präsident im Wahlkampf mit dezidiert antideutscher Rhetorik aufgetreten war, die offenbar verfing. Dauerhafte Geringschätzung überstrapaziert das Geflecht jeder Beziehung. Wer aus dem Abstimmungsverhalten der Türken in Deutschland eine Anklageschrift gegen sie ableitet, reißt in dieses Geflecht nur neue Löcher.

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