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Es gibt gute Gründe, für Europa zu sein.

© Reuters/Hannibal Hanschke

Nach dem Brexit-Votum: Zehn gute Gründe für Europa

Der Brexit ist das Ergebnis einer EU-Skepsis, die um sich greift – nicht nur in Großbritannien. Ein Plädoyer für Europas Errungenschaften, die nicht selbstverständlich sind.

In Europa wächst die Skepsis gegenüber der Europäischen Union. Nun haben die Briten für den Austritt aus der EU gestimmt – ein Schock? Den Autor dieser Zeilen hat der Ausgang des Referendums nicht überrascht, denn er kennt die vielen Gesichter der EU-Skepsis. Sie kommt mit dem Lautsprecher daher wie beim britischen Ukip-Vorsitzenden Nigel Farage. Man kann sie auch wahrnehmen als leises Raunen in Berliner Diskussionsrunden – wenn etwa gesagt wird, dass nun die Nachkriegszeit vorbei sei, in der Deutschland die Europäische Union als Ersatzidentität gebraucht habe. Vielleicht ist es nicht verkehrt, sich einfach einmal die Errungenschaften der EU in Erinnerung zu rufen. Zehn gute Gründe, gerade jetzt für Europa zu sein.

1. Ein Pass

Vor drei Monaten bei einem Mittagessen in Berlin: Ein Bekannter erzählt von seinem (natürlich erfolgreich bestandenen) Einbürgerungstest. Einbürgerungstest? Ja, erklärt der Bekannte, er wolle jetzt zusätzlich zu seiner britischen Nationalität die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. Er tue dies sicherheitshalber, weil er ja nicht wisse, was im Fall eines Brexit mit seiner europäischen Unionsbürgerschaft passiere. Als Deutscher verfügt der Bekannte in jedem Fall auch weiterhin über den weinroten EU-Pass. Sicher, der Pass ist zunächst einmal nur ein Symbol und ein Stück Papier. Aber es steht für die vielen Möglichkeiten, die sich den Bürgern innerhalb der EU bieten.

2. Freizügigkeit

Fußballspieler vom Kontinent, die in den unteren englischen Ligen einen Broterwerb suchen, werden demnächst möglicherweise das Problem haben, eine Arbeitserlaubnis auf der Insel zu bekommen. Wie der Zugang zum britischen Arbeitsmarkt künftig geregelt wird, ist eine der vielen offenen Fragen, die bei den Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen dem Kontinent und Großbritannien noch geklärt werden müssen. Das Beispiel der Fußballprofis macht deutlich, wie nützlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist, die zum Wesensmerkmal des europäischen Binnenmarkts gehört. Was passiert, wenn die Personenfreizügigkeit eingeschränkt wird, zeigt ein Blick in die Schweiz. Die Eidgenossenschaft, die nicht zur Europäischen Union gehört, hatte 2002 ein Freizügigkeitsabkommen mit den EU-Staaten abgeschlossen. Diese Vereinbarung ermöglichte etwa Arbeitnehmern aus Deutschland den ungehinderten Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt. Im Februar 2014 stimmten allerdings 50,3 Prozent der Schweizer für die Initiative „gegen Masseneinwanderung“ der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP). Mit Folgen: Weil sich die Schweizer gegen den freien Zuzug von EU-Bürgern wandten und da es noch keine klare gesetzliche Regelung zur Umsetzung des Volksentscheides gibt, scheuen sich viele Schweizer Unternehmen derzeit, EU-Bürger einzustellen.

3. Studieren

Das europäische Förderprogramm Erasmus, gegründet im Jahr 1987, hat mittlerweile Millionen jungen Menschen ein Studienjahr oder ein Praktikum im EU-Ausland ermöglicht. Der EU wird oft vorgeworfen, lediglich ein Elitenprojekt zu sein. Dass dieser Vorwurf aus der Mottenkiste stammt, macht das milliardenschwere „Erasmus plus“-Programm deutlich: Mit den EU-Geldern wird nicht nur der Auslandsaufenthalt von Studenten gefördert, sondern auch von Jungunternehmern und Auszubildenden. Bisher gehört Großbritannien zu den Teilnehmerländern des Programms. Ob auch in Zukunft deutsche Studenten mit Erasmus auf der Insel studieren können und umgekehrt der Aufenthalt junger Briten an hiesigen Unis gefördert wird, müssen die Verhandlungen zwischen London und Brüssel zeigen. Noch ist offen, ob die Gespräche ähnlich laufen wie zwischen Brüssel und der Schweiz – die Eidgenossenschaft wurde nach dem „Nein“ zur Arbeitnehmerfreizügigkeit vom Februar 2014 vom Programm „Erasmus plus“ ausgeschlossen.

4. Binnenmarkt

Der eine oder andere mag einwenden, dass nicht jeder in der EU jenseits der eigenen Landesgrenzen arbeitet oder studiert. Zu den Brexit-Befürwortern in Großbritannien gehörten insbesondere die Älteren, die das Gefühl haben mögen, keinen großen Nutzen aus der EU zu ziehen. Sie haben sich vielleicht wie in der Monty-Python-Abwandlung die Frage gestellt: „What has the EU ever done for us?“ „Was hat die EU jemals für uns getan?“, heißt es in dem hintersinnigen Video, das während der Referendumskampagne zum YouTube-Renner wurde. Die Antwort ist einfach: Die Teilnahme am EU-Binnenmarkt, der den freien Austausch von Waren ermöglicht, trägt zum Wachstum bei – welches wiederum ein Garant für stabile Renten- und Sozialsysteme ist.

5. Weltmacht

Eine Dänin gegen den Rest der Welt. Was sich erst einmal überraschend anhört, ist aber europäischer Alltag. Die Dänin Margrethe Vestager ist EU-Wettbewerbskommissarin in Brüssel. Mit dem Amt ist viel Macht verbunden; die EU-Kommissarin kann milliardenschwere Strafen gegen Unternehmen verhängen, die ihre Marktmacht missbrauchen. Vor einem Jahr leitete Vestager Verfahren gegen Google und Gazprom ein. Im Fall Google eröffnete sie eine Untersuchung, bei der geprüft werden soll, ob das Unternehmen beim Einsatz des mobilen Betriebssystems Android gegen die Wettbewerbsregeln verstößt. Dem Staatskonzern Gazprom warf sie vor, seine dominante Position als Energielieferant zu nutzen, um von einigen Abnehmern überhöhte Preise zu fordern. Das entschiedene Auftreten der Brüsseler Kommissarin gegenüber den Konzernen ist nur möglich, weil sie einen Markt mit (noch) 500 Millionen Menschen im Rücken hat. Es ist schwer vorstellbar, dass ein Minister eines einzelnen Nationalstaats ähnlich offensiv wie die Dänin gegenüber den Weltkonzernen auftreten könnte. Das Beispiel der europäischen Wettbewerbshüterin zeigt, dass sich etliche Probleme inzwischen besser in Brüssel regeln lassen als im nationalen Rahmen. Das gilt beispielsweise auch für den Datenschutz: Die neue Datenschutzgrundverordnung wurde mit Google, Facebook und Co. auf europäischer Ebene ausgehandelt.

6. Offenheit

Auch wenn seit dem Beginn der Flüchtlingskrise wieder Grenzkontrollen eingeführt wurden, so gehört dennoch das passfreie Reisen innerhalb des Schengen-Raums zu den großen Errungenschaften der EU. Großbritannien ist dem Schengen-Raum nie beigetreten. Deshalb kann man als Kontinentaleuropäer bei der Einreise nach Großbritannien in der Praxis erleben, was es bedeuten würde, wenn Schengen eines Tages der Vergangenheit angehören sollte: Nach der Landung mit dem Flugzeug in Heathrow muss man erst einmal vor dem Abfertigungsschalter Schlange stehen. Wer meint, dass dies noch hinnehmbar sei, möge sich an die kilometerlangen Staus erinnern, die es in der Vor-Schengen-Ära beispielsweise am Brenner gab. Auch der grenzüberschreitende Warenaustausch würde sich ohne Schengen verzögern. Die EU-Bürger haben sich inzwischen so sehr an das kontrollfreie Reisen gewöhnt, dass die Vorteile der Schengen-Regelung immer nur dann auffallen, wenn sie zwischendurch wegfallen. Das war im November des vergangenen Jahres nach den Attentaten von Paris der Fall, als Frankreich wieder Kontrollen einführte. Auf einmal standen 70 000 französische Pendler, die zu ihren Arbeitsplätzen in Luxemburg gelangen wollten, stundenlang im Stau.

7. Eine Währung

19 EU-Länder (ohne Großbritannien) haben mit dem Euro dieselbe Währung. Die Griechenland-Krise hat zu einer Zerreißprobe innerhalb des Währungsraums geführt. Und inzwischen ist auch die Euphorie verflogen, die noch bei der Einführung des Euro-Bargeldes herrschte. In jener Silvesternacht zur Jahreswende 2001/2002 konnte man erleben, wie junge Leute die neuen Scheine aus dem Geldautomaten zogen und sich in Sektlaune vornahmen, demnächst nach Paris zu fahren und ihren Kaffee in der neuen Währung zu bezahlen. Daran ist man inzwischen gewöhnt; viele wissen schon gar nicht mehr, wie die alten D-Mark-Scheine aussahen. Aber mit dem gemeinsamen Geld ist es wohl so wie mit der Freizügigkeit: Man fängt erst dann an, es zu vermissen, wenn man es nicht mehr hat. Gerade die neue Lage nach dem britischen Referendum erklärt, wozu der Euro noch gut ist: Er sichert Exporteure gegen das Wechselkursrisiko ab. Denn der Absturz des Pfund Sterling an den Devisenmärkten könnte aktuell dazu führen, dass sich deutsche Exporte nach Großbritannien verteuern.

8. Sicherheit

Europa ist mehr als ein gemeinsamer Markt. In der EU haben sich die Staaten auch auf eine Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik verständigt. So ermöglicht es der Europäische Haftbefehl den jeweiligen Justizbehörden, die Auslieferung von Straftätern zu beantragen, die über die Grenzen geflüchtet sind. Ein Austritt Großbritanniens aus der EU könnte auch dazu führen, dass die Insel künftig vermehrt zu einem Zufluchtsort für Straftäter aus der EU wird.

9. Klimaschutz

Auch der Klimaschutz gehört gehört zu den Themen, die sich nicht mehr im nationalen Alleingang bewältigen lassen. Bei den Klimaverhandlungen treten Weltmächte wie die USA und China auf. Wenn die Europäer da etwas bewirken wollen, können sie nur im Verbund stark sein. Deshalb ist es sinnvoll, wenn sie sich erst einmal untereinander auf ein gemeinsames Ziel zum Klimaschutz einigen, bevor mit den globalen Playern verhandelt wird. In der Frage, wie weit die EU-Staaten ihren Kohlendioxid-Ausstoß reduzieren, spielt die EU-Kommission eine entscheidende Rolle.

10. Frieden

Der britische Premier David Cameron tat sich selbst und der EU in der Referendumskampagne keinen Gefallen, als er die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft zur Frage von Krieg und Frieden stilisierte. In der Tat scheint es schwer vorstellbar, dass die EU-Staaten je wieder Krieg gegeneinander führen könnten. Aber andererseits haben die Balkankriege der Neunzigerjahre und die russische Annexion der Krim gezeigt, wie dünn das Eis immer noch ist, auf dem sich die Europäer bewegen. Deshalb ist es gut, dass es die EU gibt: Die tagtäglichen Verhandlungen unter den EU-Partnern mögen mühsam sein, aber sie wirken wie ein permanentes Verständigungsprogramm.

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