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Bisher konnte Angela Merkel keine Regierung bilden.

© AFP/ Odd Andersen

Mon BERLIN: Deutschlands Schwäche schadet Europa

Seit den Wahlen herrscht in der Bundesrepublik ein Chaos aus Kehrtwendungen, Ungewissheiten und Spekulationen. Dabei müsste sich das Land eigentlich den Reformvorhaben der Europäischen Union widmen.

Was ist im Moment eigentlich los in Berlin? Müssen wir uns langsam Sorgen machen? Diese Frage liegt den europäischen Nachbarn Deutschlands auf der Zunge. Wir sind nicht daran gewöhnt, dass dieses bisher so berechenbare Land uns dermaßen verunsichert. Seit dem 24. September ein einziges Karussell von Überraschungen, Kehrtwendungen, Ungewissheiten, Spekulationen, kritischen Grundsatzfragen. Was für ein Chaos. Was für eine Gerüchteküche. Fassungslos betrachten wir anderen Europäer dieses für Deutschland so ungewohnte Schauspiel.

Italien besitzt eine Dauerkarte für diese Achterbahn, in Frankreich wurden die politischen Gewissheiten gerade neu definiert, von einem jungen Präsidenten, der die alten Normen außer Kraft setzen will, Großbritannien hat vor zwei Jahren den Brexit aus dem Hut gezaubert, ganz zu schweigen von den haltlos schwankenden USA. Aber Deutschland … so verlässlich und solide, dass es für uns der Fels in der Brandung war. Die Metapher ist zwar nicht originell, passt in diesem Fall aber sehr gut.

Und nun das: Nach den Wechselbädern der letzten zwei Monate verlieren die Europäer allmählich die Geduld. „Frankreich hat kein Interesse daran, dass die Situation sich verfährt“, war von Emmanuel Macron zu hören, während die Leitartikler der ganzen Welt über die politische Lebensdauer der Kanzlerin nachdenken. Was für einen seltsamen Kuhhandel treiben die deutschen Parteien hinter verschlossenen Türen: Ich gebe dir eine Obergrenze für die Flüchtlinge, du nimmst mir etwas von dem Soli-Ballast ab? Wie lange bleibt Deutschland noch ohne richtige Regierung, und vor allem: Auf welche Mitspieler wird Angela Merkel sich stützen können, wenn sie das Land durch die nächsten vier Jahre steuern will? Vorausgesetzt, die Kanzlerin verlässt die Brücke nicht vorher…

Es braucht eine Antwort auf Macrons Reformvorschläge

Ein so geschwächtes Deutschland ist nicht gut für Europa. Es ist nur noch mit sich selbst beschäftigt und damit, die akute politische Krise zu bewältigen, und so fehlen ihm Kraft und Nerven, sich den dringend notwendigen Reformvorhaben der Europäischen Union zu widmen. Die stärkste Wirtschaftskraft der Eurozone und eines der einflussreichsten Länder der Europäischen Union vernachlässigt seit vielen Wochen die Baustellen der Gemeinschaft. Damit bleibt Berlin auch die Antwort auf Emmanuel Macrons große Reformvorschläge schuldig. Auf das zunächst verlegene Schweigen, das höfliche Ausweichen, die kaum verhohlene Skepsis, das halbherzige Kopfnicken ist die völlige Lähmung gefolgt. Ohne funktionierende Regierung ist Deutschland außerstande, Frankreichs ausgestreckte Hand zu ergreifen.

Die Deutschen nehmen die Besorgnis ihrer europäischen Nachbarn sehr genau wahr. „Verantwortung“ lautet daher die Parole aus Berlin. Und sie versuchen abzuwiegeln. „Eine Bewährungsprobe, keine Staatskrise“, rief Wolfgang Schäuble den Partnern Deutschlands von seiner neuen Tribüne im Bundestag zu. Und doch: Während die Deutschen sich bemühen, eine in der Nachkriegsgeschichte ihres Landes nie gekannte Verfassungskrise zu lösen, stehen die übrigen Europäer da wie bestellt und nicht abgeholt. Vom Fels in der Brandung ist, jedenfalls in der Politik, nicht mehr viel zu spüren. Deutschland erinnert in diesen Tagen eher an ein orientierungsloses Schiff in schwerer See.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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