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Mitgefühl: Und wer tröstet dich?

Eine Gesellschaft, die sich keine Anteilnahme mehr leistet, stirbt den emotionalen und sozialen Kältetod. Gedanken (auch) zum ersten Advent.

Für die Schriftstellerin Françoise Sagan hatte der Trost die Form einer Muschel. Gefunden an einem Sommermorgen, hielt sie den schimmernden rosafarbenen Stein nach vielen Jahren in Händen. Sie wisse nicht, schreibt sie, wie es ihr gelungen sei, gerade ihn zu behalten. Da sie ja eigentlich alles zu verlieren pflege. Der Trost hat viele Gesichter. Auch schmerzliche. Die Göttin Demeter betäubte den Kummer über ihre geraubte Tochter Persephone mit einer Handvoll Mohn. Manchmal kann dagegen schon ein Windhauch genügen. Das Pusten über ein aufgeschlagenes Knie. Der Trost ist wandelbar, und als Wort ohnehin eine Sache der Literatur. Wie ein Solitär, ein Einzelstück steht er da. Dialektische Verschiebungen hat der „Trost“ kaum je erfahren, die Umgangssprache hält sich zurück. Fast als habe sie Respekt vor seiner Größe oder ahne, wie schnell man dem Trost abhanden kommt.

Aus Angst vor unserem Spott floh eine Mitschülerin in den Pausen regelmäßig in eine nahe gelegene Bäckerei. Sie kaufte sich dort Brötchen und Schokoküsse und presste den Schokokuss zwischen die Hälften. Nachdem sie das Brötchen gegessen hatte, wandte sie den Kopf zur Seite und wischte sich mit ihren schönen, rosa manikürten Händen verschämt die Reste der Zuckerpaste von der Oberlippe. Der Junge, den sie liebte, wollte nichts von ihr wissen. Vor lauter Unglück wurde sie seltsam und ungeschickt. Statt sie zu trösten, winkte ich ab. Was sie nur an diesem Typen fände?

Die Abwesenheit von Trost ist etwas Alltägliches. Banales. Interessant ist allerdings wie leicht sie sich gedanklich korrigieren lässt. Im Grunde weiß jeder, wie man es besser macht. Es ist eine Frage des Takts. Vollendet elegant formuliert hat das im Jahr 1790 der Freiherr von Knigge. „Suche ihn (den Kummervollen) aufzurichten“, schreibt er, „zu trösten, mit Hoffnung zu erfüllen, Balsam in seine Wunden zu gießen, und wenn Du seine Last nicht erleichtern kannst, so hilf wenigstens tragen und weine eine brüderliche Träne mit ihm.“

Draußen ist es neblig und kalt. Ein Tag, an dem allein der Gedanke an Wollpullover etwas Tröstliches hat. Die Ethnologin Monique Scheer lächelt. Trost, sagt sie während wir uns in ihrem gut geheizten Büro im Max-Planck-Institut zur „Geschichte der Gefühle“ gegenübersitzen, sei ein komplexes Problem. Und ein komplett unerforschtes dazu. Keine einzige wissenschaftliche Studie existiere bis heute. Das erklärt ihre Vorsicht. Sie habe nachgedacht, sagt die Forscherin, und versucht den Trost auf sichere argumentative Beine zu stellen. Da wären die basic emotions, Körper gebundene Gefühle wie Angst. Von denen müsse man den Trost als „soziales und eher ,geistiges’ Gefühl abgrenzen“. „Der Trost“, sagt Scheer, „hängt von unserem Verständnis des Leidens ab. Wir haben aufgehört, dem Leiden einen Sinn zu unterstellen. Das hat unser Verhältnis zum Trost verändert.“

Abstrakter ist er geworden. Geprägt durch die Vorstellung, dass Gefühle tief in uns leben, verborgen von der Außenwelt. Trost richtet sich auf dieses Innere, so glauben wir, und Untröstlichkeit vertragen wir schwer. Im Augenblick, da sie sichtbar wird, wollen wir sie verschwinden lassen. Wir ersparen uns das Mitleiden, das, wie wir glauben, keinem hilft. „Du schaffst das“, tippen wir in die Tastatur. „Das wird schon.“ Ist das bereits Trost? Klassischerweise versteht man darunter etwas anderes.

„Trost bezieht sich auf eine Situation, in der eine Änderung (vorerst) unmöglich ist“, definiert das Dictionary of pastoral Care and Counseling. Die Prüfung ist trotz aller Anstrengungen daneben gegangen. Der Tumor ist bösartig. Alles Auseinandersetzen hat die Beziehung nicht retten können. Man wird es aushalten müssen. Erst jetzt wird die Sehnsucht nach Trost unausweichlich – und es wird klar, dass man ihn die meiste Zeit schmerzlich vermisst.

Als Erinnerung ist uns Trost am ehesten präsent. Wir könnten uns unsere stärksten Trosterinnerungen gegenseitig schenken. Geschichten über nächtliche Telefonate, Umarmungen im Regen und Großmütter, die von „zu Hause“ erzählen. Gedicht- und Liedzeilen könnten wir zitieren und dem Trost die Form einer Rotweinflasche verleihen. Mögen die Zyniker und Realisten es für reine Ablenkung halten. Und mögen ein paar echte Frohnaturen den Trost zur Bagatelle erklären, die man sich hier oder dort einfach holen kann. Wie ein paar neue Freunde bei Facebook oder einen neuen Handy-Account. Kinder sind Meister darin, diese Haltung zu korrigieren.

„Und wer tröstet dich?“, fragte ihr achtjähriger Neffen eine technische Zeichnerin, als er begriff, dass sie allein lebte. Trost, so schien es, hielt der kleine Junge für einen Gegenstand des täglichen Gebrauchs. Ohne ihn hält man die Gespenster nicht aus oder die Dunkelheit. Und schon gar nicht den Tod.

Als ich begriff, dass meine Mutter wahrscheinlich vor mir sterben würde, wollte ich nicht mehr leben. Wochenlang beschäftigte mich als Kind die Frage, wie ich meine trostlose Einsamkeit würde verhindern können. Es blieb ein Ausweg: Ich müsste vorher sterben. In diesem Gedanken lag der entscheidende Ausweg, der mich den Tod und den Tod meiner Mutter irgendwann wenn nicht vergessen, so doch aus den Augen verlieren ließ.

Es ist die erste Untröstlichkeit, die uns empfänglich macht für den Trost, der erste Abschied. Die Geschichte des Trostes beginnt mit der Frage, wie sich der Verlust überhaupt ertragen lässt. Verbündete sind nötig, und die Vernunft ist einer der mächtigsten. Nach dem Tod seiner geliebten Tochter Tullia im Jahr 45 v. Chr., zurückgezogen und vergraben in seinen Schmerz, schrieb Cicero über den Kummer als „eine Verkrampfung der Seele gegen die Vernunft“. Trost könne der Mensch einzig finden, indem er sich über das Materielle erhebe. Im Geistigen sei er unerreichbar für die Schläge des Schicksals. Der Trost, „das Heilmittel der Seele“ sei Haltung und Tapferkeit. Philosophie ihr Name.

Als Frauengestalt tritt sie ein. Schön und „von unerschöpflicher Jugendkraft“. Ihre Augen funkeln. Doch der wegen Hochverrats zum Tode verurteilte Konsul und Gelehrte Anicius Manlius Severinus Boëthius erkennt seine Freundin und Förderin nicht. Mal „menschengleich“, mal „höher als der Himmel selbst“ erscheint sie ihm. Er selbst ist zu schwach, sich von seinem Kerkerbett zu erheben. Die Philosophie wischt ihm die Augen, hört ihm lange zu, macht sich ein Bild von seiner verzweifelten Lage. Danach erstellt sie einen „Kurplan“, wird tätig wie eine Ärztin, eine Lehrmeisterin, die den Verzweifelten aus den weltlichen Verstrickungen zur Anschauung des höchsten Guten, zur Anschauung Gottes führt.

Die Szene aus Boëthius’ „Trost der Philosophie“ aus dem Jahr 524 ist eine der einflussreichsten und meistgelesenen der Geschichte. Der Trost wird hier zur Figur, er gewinnt enorm an Fürsorglichkeit. Man könnte auch sagen, er wechselt das Rollenfach. Noch ist er antiker Ausdruck geistiger Disziplin, und schon ein Versprechen. Ein Geschenk.

Die jüdisch-christliche Tradition wird den Trost auf der Seite der Verheißung suchen. „Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“, heißt es beim Propheten Jesaja. Und im Johannes-Evangelium kündigt Jesus Christus für die Zeit nach seiner Auferstehung einen „anderen Tröster“ an. Den Paraklet, den Heiligen Geist. Mit ihm tritt der Virtuose des Trostes auf den Plan, der Zauberer, der intuitiv die richtigen Worte findet. Pastor Johann-Stephan Lorenz glaubt, jeden Trost letztlich ihm zu verdanken. Für den Psychologen und Krankenhausseelsorger ist Trost zuletzt immer ein Segen. „Der Heilige Geist lässt uns nicht stille stehen“, sagt der Pastor. „Er führt dazu, dass wir mit den Menschen die Melodie, die Worte – oder das Schweigen – finden, die sie in diesem Moment brauchen.“ Zweimal wöchentlich tröstet Johann-Stephan Lorenz im Internet. „Die Projektionsfallen wirken dort langsamer“, sagt er, „und manchmal liegt das Problem, ehe sie anspringen, schon auf dem Tisch“. Für viele sei es das erste Mal, dass sie ihre Einsamkeit benennen und dem Trost auf diese Weise die Türen öffnen. Das Internet favorisiere den Ungeübten. Oft, sagt der Pastor, gehe es einfach um Wut. Wie bei jener Frau, die an einer unheilbaren Gefäßkrankheit leidet. Das Gewebe wird nekrotisch und stirbt ab. Das rechte Bein ist amputiert, das linke wird demnächst verloren gehen. „Sie wird im Chat ihre Aggressionen los“, sagt der Pastor, „und ich halte die aus, wenn es die Angehörigen, die Freunde nicht mehr tun.“ Was ist überhaupt Trost? „Wenn die Probleme wenigsten für einen Moment lösbar erscheinen.“

Oder wenn sie im Augenblick des Trostes Platz machen für einen Liebesbeweis. „Hast du schon Kaffee getrunken?“ Jeden Mittag, wenn die junge Lehrerin nach Hause zu ihren todkranken Großvater kam, stellte sie ihm als erstes diese Frage. „Mehr als ein Mal“, sagte der Großvater daraufhin, „aber heute habe ich auf dich gewartet.“ Sie lachten beide, und dann kochte sie ihm eine Tasse frischen Bohnenkaffe. Über das Sterben sprachen sie nie. Nur am Schluss, als er mit seiner kranken Lunge ins Krankenhaus musste, wünschte er sich, sie solle ihm „noch einmal“ einen Kaffee bringen. Worte brauchte es dafür nicht. Zuletzt war der Trost eine Geste. Eine Anwesenheit, die sich nicht übertragen, nicht verschieben lässt. Darin lag seine Schönheit.

Den Trost in den Moment, in eine Anwesenheit der Dinge, eine persönliche Handschrift zu verwandeln, war zunächst Sache der Renaissance. Für den Philosophen Montaigne etwa bedeutete es einen unverzichtbaren Trost, in Gegenwart seiner Bücher zu leben. Und er erklärte sich für untröstlich über den Verlust seines Freundes Etienne de la Boëtie. „Seit dem Tag, an dem ich ihn verloren habe, welke und schwinde ich hin ...“ Trost wurde etwas, das nicht Gott zu gewähren, sondern in den Grenzen der Welt zu finden oder zu verlieren war. Er wurde Teil der eigenen Biografie mit all ihren Besonderheiten und persönlichen Vorlieben. Er konnte die Frage betreffen, wie gut man geschlafen hatte oder wie das Licht durch die Blätter eines Baumes fiel.

Selbst die lutherische Orthodoxie, die Trost als ein verpflichtendes „Werk der Barmherzigkeit“ predigte, würde auf diese Welterfahrung nicht verzichten können. Man zitierte Plutarch, wonach „die Rede der kranken Seele Arzt“ ist. Man empfahl Geselligkeit, die heitere Ablenkung und kultivierten Trost auf Jahrhunderte hinaus als ein soziales Geschehen, über dessen Gesten jeder verfügen konnte. Einen Händedruck, ein Lied, einen Teller Suppe.

Es ist das Wissen um die Empfindlichkeit, ohne die der Trost nicht zustande kommt. Schnell verkommt er, wird zum Trostpflaster, das man wie zum Spott jemanden aufkleben kann. Der Ton entscheidet. Wie die Musik, die liebste seiner Künste, muss er ihn sauber treffen.

„Trost verträgt keine Überwältigung.“ – so formuliert es der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, der an einem sonnigen Vormittag im Spätherbst um das Schicksal des Trostes fürchtet. Ein Skeptiker des Trostes sei er, ein „Untröstlicher“ im Grunde. Thomas Macho, der seine Doktorarbeit über Todesmetaphern schrieb, Bücher über die Folter, den Schmerz und zum Beirat des Bundesverbandes Verwaiste Eltern in Deutschland gehört, verbindet den Trost mit der Einfachheit einer Geste. Der Trost lebe von der compassio, dem Mitleiden, der Humanität. Alles Laute, Aggressive, jede Art von Schamlosigkeit verletzten ihn.

Aber fällt die Frage nach dem Trost nicht sowieso aus der Zeit?

Unser eigenes Trostbedürfnis werde uns fremd, so Macho. „Wir suchen erst gar nicht nach Trost.“ Er zögert, meint „die Bewohner spätmoderner, westlicher Zivilisationen“, die statt nach Trost nach schlüssigen Szenarien suchten. Nach Untergang oder Aufschwung, der kommt oder da ist, oder bald wieder verschwindet. Ruhelos, man könnte sagen, ungetröstet produzieren wir Prognosen. Wir ähneln Leuten, die nichts über ihre eigenen Schmerzen wissen. Ob wir uns nicht gerade an ein Leben ohne Trost zu gewöhnen beginnen? Wie es sein würde? „Sehr einsam“, sagt Thomas Macho, und „sehr nah am sozialen Kältetod.“ Und dann fällt ihm ein Wort aus Nietzsches Zarathustra ein, in dem es über die letzten Menschen heißt, dass Eis sein wird in ihrem Lachen. Zur Geschichte des Trostes gehört auch sein äußerstes Ende.

Die Kinder sollen noch gelacht haben. Fröhlich seien sie erschienen. Ein SS- Mann führte sie an. Dahinter ging der Arzt und Pädagoge, der Leiter des jüdischen Waisenhauses Janusz Korczak. Gebeugt vor körperlicher Schwäche und Entkräftung. Er hatte den Kindern gesagt, man würde einen Ausflug ins Grüne unternehmen, endlich einmal die Mauern des Ghettos hinter sich lassen. Sie sollten sich freuen auf die bunten Wiesen im August. Von Kopf bis Fuß gewaschen, hatte jedes Kind eine kleine Tüte mit Brot und ein Fläschchen Wasser in der Hand. Alles hatte Janusz Korczak unternommen, um seine Kinder nicht wissen zu lassen, wohin der Zug sie bringen würde. Er würde sie nicht verlassen. Gekämpft hat er darum, mit ihnen auf den Transport nach Treblinka zu gehen. „Er wollte es ihnen leichter machen“, sagte später der polnische Komponist und Pianist Wladyslaw Szpilman, der Augenzeuge der „Evakuierung“ war, und in seinen Erinnerungen schreibt er, dass der alte Doktor „bestimmt noch in der Gaskammer, als das Zyklon schon die kindlichen Kehlen würgte und in den Herzen der Waisen Angst an die Stelle von Freude und Hoffnung trat, geflüstert hat: Nichts, das ist nichts Kinder ...“

Eine alte Bedeutung des Wortes Trost ist „Mut“, eine noch ältere Bedeutungsschicht führt auf die „Festigkeit“, auf die „Treue“. „Von Guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar“, schreibt der Widerstandskämpfer und Theologe Dietrich Bonhoeffer aus der Gestapo-Haft wenige Monate vor seiner Hinrichtung an die Familie. Vielleicht ist Trost zuletzt etwas, das uns zu Menschen macht.

Er wird abstrakter, sagen die einen. Er verschwindet, fürchten die anderen. Wir können uns entscheiden, und es mag dabei helfen, sich eine Welt vorzustellen, in der der Trost als Smiley auf ein Handy- Display passt.

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