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Demonstranten verlangen in Mexico City Auskunft über das Schicksal der 43 verschwundenen Studenten. 43". REUTERS/Henry Romero

© Henry Romero/Reuters

Mexiko und die verschwundenen Studenten: Ein Jahr nach dem Massaker gibt es mehr Fragen als Antworten

In Mexiko herrschen ein Jahr nach dem Verschwinden von 43 Studenten Ratlosigkeit und Wut. Der Fall ist symptomatisch: 26.000 Mexikaner werden vermisst.

An der Landuniversität von Ayotzinapa herrscht Ausnahmezustand. Seit einem Jahr findet dort kein Unterricht mehr statt. Die Kreideaufschriften an den Tafeln sind unleserlich, die Klassenräume sind Matratzenlager trauernder Eltern. Manchmal füllt sich der Patio mit Leben, wenn dort über die nächsten Protestaktionen debattiert wird. Manchmal breitet sich drückende Stille aus über den roten Plastikstühlen mit den schwarz-weißen Porträtfotos.

„Uns fehlen 43“ steht auf einem selbstgemalten Plakat. Zwischen den beiden Ziffern reckt sich trotzig eine Faust in die Höhe. Seit dieser fatalen Nacht vom 26. September 2014, als rund 100 Studenten nach Iguala fuhren, um Busse für eine Fahrt in die Hauptstadt zu kapern, ist nichts mehr wie früher in dieser bitterarmen Gegend in den Bergen Südmexikos. Denn nach einer brutalen Menschenjagd durch Polizisten und Killer eines Drogenkartells verschwanden 43 von ihnen spurlos.

Seither haben Studenten, Eltern und Lehrer mehr Fragen als Antworten. Fragen an einen Staat, von dem sie sich verraten fühlen. Manchmal machen sie ihrer Wut und Verzweiflung Luft. Dann besetzen sie Mautstellen an Autobahnen, zünden Polizeipatrouillen an oder treten die Tür der Staatsanwaltschaft ein, um dort Fotos der Verschwundenen aufzuhängen. Am Mittwoch traten Familienangehörige der Studenten in einen zweitägigen Hungerstreik.

Die Landuniversität ist als Wiege linksradikaler Aufrührer verschrien, aus ihr stammte der legendäre Guerillachef der 70er Jahre, Lucío Cabañas. Sie liegt mitten im größten Anbaugebiet für Schlafmohn. Hier hat die Drogenmafia das Geld und das Sagen; alle anderen haben sich ihr unterzuordnen. Außer dem Militär. Es verkörpert die Speerspitze eines Staates, der sonst wenig präsent ist. Die Uniformierten sollen den Drogenhandel ebenso bekämpfen wie die Guerrilla, die heute mehr ein sozialer Unruheherd als eine militärische Bedrohung ist. Die Methoden des Militärs sind rüde. Außergerichtliche Exekutionen und Verschwindenlassen gehören zu seinem Repertoire ebenso wie zu dem der Drogenmafia.

Wer aufmuckt, riskiert sein Leben

Zwischen den Fronten versucht die Bevölkerung sich durchzulavieren. Wer aufmuckt, riskiert sein Leben. So wie der afrikanische Pfarrer, der sich geweigert hatte, das Kind eines Drogenbosses zu taufen. Seine Leiche wurde zufällig gefunden bei der Suche nach den Studenten – in einem der Massengräber, die plötzlich rund um Iguala auftauchten und in denen Leichen lagen, nach denen der Staat nie gesucht hatte und nach denen sich niemand zu fragen traute. 26.000 Mexikaner werden vermisst. Fast so viele wie in Argentinien während der Militärdiktatur.

Verschwindenlassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. „Trotzdem leugnet die Regierung das Phänomen, ermittelt kaum, bestraft niemanden und unternimmt nichts, um dem vorzubeugen oder die Opfer zu entschädigen“, kritisierte die UN-Arbeitsgruppe über gewaltsame Verschleppungen. Schlimmer kann ein Rechtsstaat kaum versagen.

Die Studenten stammen aus Bauernfamilien, viele der Angehörigen sind Analphabeten. Die Landuniversität war für die Jugendlichen ein Fenster zur Welt, ein Strohhalm zum sozialen Aufstieg. Normalerweise haben sich das „Mexico bronco“, das ländliche, zurückgebliebene Mexiko der Studenten, und die bürgerliche Mittelschicht der Städte nicht viel zu sagen. Das Massaker aber rüttelte plötzlich das urbane, konsumverwöhnte Mexiko aus dem Dornröschenschlaf. Hunderttausende, vor allem Studenten, solidarisierten sich mit den Opfern und forderten Wahrheit und Gerechtigkeit.

Mexikos Justiz ist ein Fiasko

Beides ist der Staat bis heute schuldig geblieben. Mexikos Justiz ist ein Fiasko. 97 Prozent aller Straftaten bleiben ungesühnt, Verurteilungen basieren meist auf unter Folter erpressten Geständnissen. Doch nach dem Massaker blickte plötzlich die Welt auf Mexiko; die Behörden standen unter Druck und mussten ermitteln und Beweise liefern. Nach zwei Monaten präsentierte Staatsanwalt Jesús Murillo die „historische Wahrheit“: Demnach befahl der linke Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, seiner Polizei, den Studenten eine Lektion zu erteilen, weil er fürchtete, sie wollten einen Wahlkampfakt seiner Frau stören. Bei der Verfolgungsjagd auf die Busse tötete die Polizei drei Studenten und drei Unbeteiligte und nahm 43 fest. Sie wurden Killern des Drogenkartells „Guerreros Unidos“ übergeben, dem die Familie der Frau des Bürgermeisters angehörte. Die Killer hätten die Studenten auf einer Müllkippe exekutiert, ihre Leichen verbrannt und die Asche anschließend in Müllsäcke geschaufelt und in den Fluss geworfen, um Spuren zu verwischen. Nur aus zwei der gefundenen Knochenüberreste konnte das Forensische Institut in Innsbruck ADN-Reste extrahieren, die mit zwei der Vermissten überein stimmen.

Die Eltern freilich schenkten dieser Version nie Glauben. „Für mich sind sie noch am Leben. Das Militär hat sie irgendwo versteckt“, glaubt Ezequiel Mora, Vater eines Studenten, dessen Reste identifiziert wurden. Die mit Einverständnis der Regierung hinzugezogenen, internationalen Ermittler bestätigten die Zweifel. Nachdem sie monatelang Zeugen angehört, Tatorte besucht und 123 Aktenordner gewälzt hatten, erklärten sie die Ermittlungen für geschlampt und den Fall für längst noch nicht geklärt. Beweise seien verschwunden, vernichtet oder nicht in Betracht gezogen, Geständnisse unter Folter erpresst worden, die Versionen zum Tathergang seien widersprüchlich, die Verbrennung aller 43 auf dem Müllplatz technisch unmöglich.

Als die historische Wahrheit derart diskreditiert war, wurde rasch einer der Hauptverdächtigen festgenommen, der Statthalter der „Guerreros Unidos“ in Iguala. Alias „El Gil“ hatte sich ein Jahr lang unweit von Iguala versteckt – geschützt von den dortigen Bürgermeistern und Polizisten. „El Gil“ habe zwar seine Beteiligung geleugnet, den Tathergang aber bestätigt, hieß es. In der Tatnacht schickte „El Gil“ seinem Chef mehrere SMS. Die letzte lautet: “Wir haben sie zu Staub gemacht und ins Wasser geworfen. Niemals werden sie sie finden.“

111 Verdächtige sind inhaftiert - angeklagt ist noch keiner

Aufgrund der seltsamen Justizbürokratie befassten sich bis vor kurzem 14 Gerichte mit dem Fall; ein Umstand, den die internationalen Ermittler als ineffizient anprangerten. 111 Verdächtige sind inhaftiert; angeklagt wurde noch keiner. Was fehlt, ist ein glaubwürdiges Motiv. Der politische Racheakt ist zu irrational, um wirklich zu überzeugen. Eine Verwechslung ist unwahrscheinlich, denn die Killer befragten nach eigenen Aussagen ihre Opfer, bevor sie sie erschossen. Ihnen zufolge steht der Rektor von Ayotzinapa dem gegnerischen Kartell der „Rojos“ nahe.

Die Expertengruppe brachte noch eine andere Hypothese aufs Tapet: Möglicherweise sei in einem der entführten Busse eine Ladung Heroin versteckt gewesen. Den Heroinschmuggel per Bus aus Guerrero hat die US-Antidrogenbehörde DEA schon seit längerem unter Beobachtung. Doch der fragliche Bus verschwand vom Erdboden und aus den Akten. Unklar ist auch, warum das Militär, das die Vorgänge von seiner Kommandozentrale in Iguala aus beobachtete, nicht einschritt. „Wer soll geschützt werden?“ ist die große Frage, die über dem Fall schwebt.

Die Hoffnungen auf den Präsidenten sind geschwunden

Wenige Monate vor der Tragödie hatte die Zeitschrift „Time“ Präsident Enrique Peña wegen seiner liberalen Wirtschaftsreformen noch als „Retter Mexikos“ gefeiert. Iguala und darauf folgende Korruptionsskandale waren sein Waterloo. Heute ist er Umfragen zufolge der unpopulärste Präsident seit 25 Jahren. Tragischer aber ist, dass nicht einmal dieser Fall die politische Elite aufgeschreckt hat. Von den von Peña anschließend versprochenen zehn Reformen wurde einzig die Militarisierung der Krisengebiete durchgeführt – mit „unklaren Resultaten, weil es dazu keine öffentlichen Informationen gibt“, sagt Edgar Cortes, Präsident des Mexikanischen Instituts für Menschenrechte und Demokratie. Alle anderen Maßnahmen wie mehr Transparenz, eine stärkere Überwachung der Gemeinden, die Zusammenlegung der verschiedenen konkurrierenden Polizeitruppen oder eine landesweite Notfallnummer stecken im Kongress fest oder sind versandet. „Der Rechtsstaat wird  eine hohle Phrase bleiben, so lange das politische Establishment nicht an mehr Transparenz und Rechenschaftspflicht interessiert ist“, kritisiert Cortes.

In den Bergen rund um Ayotzinapa pflanzen die Bauern weiter Schlafmohn. Fünf Kartelle kämpfen dort um die Macht. Fast täglich gibt es Tote. „Der Krieg gegen die Drogen ist nicht zu gewinnen. Er wird weiter Gewalt und Tod mit sich bringen, so lange Drogen illegal sind“, sagte unlängst der Gouverneur Guerreros, Rogelio Ortega. Mit dieser Forderung freilich steht er in Mexikos Politik ziemlich alleine da.

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