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Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (CDU) freut sich bei der Landtagswahl 2016 in Dresden mit seiner Frau Ingrid.

© Reuters

Kurt Biedenkopf über Sachsen nach der Wahl: "Ich sorge mich um mein Lebenswerk"

Der ehemalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf sorgt sich im Doppelinterview mit seiner Frau Ingrid um sein Heimatland Sachsen.

Frau Biedenkopf, Herr Biedenkopf, wie sehr hat Sachsens Wahlergebnis Sie erschüttert?

Ingrid Biedenkopf: Es hat mich sehr erschüttert. Ich habe natürlich damit gerechnet, dass es schlimm werden würde, aber so schlimm? Nein, nein, das hätte ich nicht gedacht. Ich konnte in den vergangenen Monaten nicht so viel unter Menschen, ich hatte einen gebrochenen Fuß. Eigentlich spreche ich viel mit den Menschen, gerade mit denen, die Probleme haben. Dann habe ich ein besseres Gefühl für so ein Ergebnis. Ich wusste gleichwohl, dass viele unzufrieden sind. Sehr viele.

Kurt Biedenkopf: Von der Dimension, vom Ausmaß des Ergebnisses war ich sehr bewegt und überrascht. Vergessen Sie nicht: Dies war eine Bundestagswahl! Da beantwortet die gesamte Region nur eine einzige Frage: Wer soll uns regieren? Offenbar fällt die Antwort da in Sachsen nicht mehr so aus wie früher. Dass inzwischen die Sachsen-Anhalter und sogar die Thüringer mit ihrem linken Ministerpräsidenten stärker CDU wählen als die Sachsen, das hat mich getroffen.

Sehen Sie Ihr Lebenswerk bedroht, den florierenden Freistaat Sachsen?

Kurt: Bedroht, das geht zu weit. Aber ich sorge mich. Und wenn Sie dieses Wort "Lebenswerk" verwenden wollen: Ich sorge mich um mein Lebenswerk, jedenfalls um einen Teil davon: um den, als wir in Sachsen regiert haben. Eine ganze Reihe der Dinge, die meine Frau und ich dort erarbeitet, aber vor allem die Sachsen sich erarbeitet haben – mit ihrer Neugier, mit ihrem Fleiß, ihren guten Veranlagungen –, stehen auf dem Spiel. Es passiert mir jedes Mal, wenn ich im Land bin, dass Leute auf mich und meine Frau zukommen und sagen ...

Ingrid: ... dass sie uns vermissen.

Kurt: Das heißt wohl, dass sie zufrieden waren.

Wie erklären Sie sich, dass die AfD in Sachsen stärkste Kraft geworden ist? Sehr viele Leute blicken jetzt kritisch auf Ihr Bundesland.

Kurt: Zunächst einmal halte ich nichts von denen, die jetzt auf die Sachsen einschlagen.

Ingrid: Sachsen florierte, jetzt freuen sich offenbar einige, dass sie draufschlagen dürfen!

Kurt: Vielleicht ist es einfach so: Die Sachsen sind ehrlicher. Sie sind mit ihrer Regierung unzufrieden und gehen zur Wahl. Sie wollen sich nicht für irgendetwas rächen, sondern sie geben ein allgemeines Urteil ab. Und das sagt: "Im Gegensatz zu früher läuft das heute nicht mehr so, wie wir das gerne hätten. Wie ihr das jetzt macht, das gefällt uns nicht." Daran kann man nicht vorbei. Wenn mir das passiert wäre ...

Ingrid: (flüsternd) Kurt Hans, das wäre dir nicht passiert! Wäre Kurt Biedenkopf noch da, wäre das nicht passiert.

Kurt: Ich hätte mich, wir hätten uns, hätten wir so auf die Nase bekommen, jedenfalls gefragt, was die Ursachen sind.

Haben die Leute AfD gewählt, weil sie mit der Landespolitik in Sachsen unzufrieden sind?

Kurt: Weder steht es mir zu, noch möchte ich Urteile über die sächsische Landespolitik abgeben.

Ingrid: Aber was man oft hört, das ist eben: dass die Leute unzufrieden waren, ihrer Regierung mal aufs Dach geben wollten.

Kurt: Man kann es grundsätzlich sagen: Wenn die Polizeiausstattung fehlt, wenn die Sicherheit an den Grenzen nicht funktioniert, wenn die Lehrer nicht ausreichen, fühlen sich die Menschen unsicher. Die Sachsen sind im Großen und Ganzen stolz auf ihr Land. Aber sie können es nicht vertragen, wenn sie das Gefühl haben, nicht gut regiert zu werden. Jetzt an die Bevölkerung zu appellieren, wieder CDU zu wählen, wäre wohl wirkungslos. Da macht man sich lächerlich. Die CDU regiert seit 27 Jahren. Warum, fragen die Leute, haben wir zu wenige Polizisten? Warum haben wir zu wenige Lehrer? Man muss Verständnis haben, dass die Menschen berechtigte Fragen stellen. Und sich diesen Fragen stellen.

Kritisieren Sie die Politik Ihres Nach-Nachfolgers Stanislaw Tillich?

Kurt: Es steht mir nicht zu, jemanden zu kritisieren. Ich interessiere mich nicht für Wertungen, nur für Fakten. Mein Erfolg, soweit ich welchen hatte, lag stets darin begründet, dass ich immer von Fakten ausging. Und nicht von Bewertungen. Lassen Sie mich ein Bild verwenden. Stellen Sie sich einmal vor, Sie haben ein Puzzle mit 2.000 Teilen, und das schüttet man Ihnen auf den Tisch. Und man sagt: Setzen Sie das mal zusammen! Aber wir zeigen Ihnen nicht, wie das Puzzle am Ende aussieht, wenn es fertig ist. Sie kennen also das Bild nicht! Sie werden es schwer haben, Ihr Puzzle zusammenzusetzen. Also ist es meine Aufgabe, Ihnen das Bild vorher zu beschreiben, damit Sie das Puzzle zusammenfügen können.

Als Politiker.

Ingrid: Als Kurt Biedenkopf.

Wenn wir Ihr Bild richtig verstehen, heißt das: Der jetzige Ministerpräsident erklärt nicht, hat keine Vision, wo es hingehen soll.

Kurt: Das haben Sie gesagt. Ich habe Ihnen beschrieben, wie Politik eigentlich funktionieren müsste. Sehen Sie, die Flüchtlingskrise hat viele Menschen bewegt.

Ingrid: Kurt Hans könnte sie den Menschen erklären.

Wie würden Sie den Sachsen die Flüchtlingskrise erklären, Herr Biedenkopf?

Kurt: Man muss den Menschen Sicherheit geben, und ihnen sagen, was in der Welt passiert. Ich hätte mich hingestellt und erklärt: Schauen Sie, wie sich die Menschheit entwickelt. Europa hat 700 Millionen Einwohner, Afrikas Bevölkerung wächst, hat Europas Bevölkerung bereits überholt. Und vielen in Afrika geht es nicht gut. Gleichzeitig führt die technische Entwicklung dazu, dass alle sehen, wie gut es uns Europäern geht.

Ingrid: Jeder hat ein Handy.

Kurt: Das ist ganz entscheidend, lässt sich nicht zurückdrehen. Ich kann den Leuten doch sagen: Die Welt muss deshalb nicht untergehen. Aber ihr müsst damit rechnen, dass die Leute in Afrika diese Ungleichheit nicht dauerhaft tolerieren. Wir müssen Entscheidungen treffen. Und erklären.

Und so hätte man die Sachsen zu Flüchtlingsfreunden machen können?

Ingrid: Moment mal. Die Sachsen sind weltoffen. Aber Angela Merkel hätte verteidigt werden müssen in Sachsen. Ich war nie eine Anhängerin von ihr, aber in letzter Zeit fand ich sie wirklich gut. Hier auf dem Sofa saß sie, wo Sie jetzt sitzen!

Wann?

Kurt: Das ist schon länger her. Gegen Ende meiner Amtszeit, auf dem Höhepunkt der CDU-Spendenaffäre. Ich kann bis heute nur die Überheblichkeit rügen, mit der Kohl einst Angela Merkel behandelte. Die Frau war Mitte 30, als die Wiedervereinigung kam, Kohl hat sie wie ein Baby behandelt. Das hat sie einfach weggesteckt, deshalb hat sie meinen höchsten Respekt. Sie hat später eine fantastische Leistung gebracht in der Flüchtlingskrise. Ich meine, wer das infrage stellt...

Ingrid: ...der ist ein Nichtswisser.

Kurt: Sagen wir es diplomatisch: Der versteht nichts davon. Man kann, wenn die Leute zu Hunderttausenden vor den Grenzen stehen, ein hartes Herz haben und sagen: "Ist euer Pech, dass ihr aus Afrika kommt." So hartherzig ist aber eigentlich kein Mensch, und Angela Merkels Entscheidung war richtig, das kann man jedem erklären. Diese Entscheidung war ein politisch bedeutsamer Ausdruck von Empathie.

Den hätten die Sachsen nachvollzogen?

Kurt: Was denken Sie denn! Die Sachsen sind nicht hartherzig. Die sind großzügig und gastfreundlich. Ich hätte den Sachsen erklärt, dass wir, wenn wir unsere Sozialsysteme in 20, 30 Jahren noch betreiben wollen, Zuwanderung brauchen.

"Ich will Tillichs Zögerlichkeit bei Entscheidungen nicht kommentieren"

Hätte Tillich sich mehr auf Angela Merkels Seite schlagen müssen?

Kurt: Ich kann mich nur wiederholen, ich werte nicht die Leistung von Herrn Tillich! Ich will nicht nur Journalisten bedienen, damit deren Story besser wird. Das mache ich nicht. Dazu ist meine Lebensspanne zu kurz. Sehen Sie, ich habe ihm gegenüber einen Startvorteil, für den er nichts kann. Ich kann Politik aus meiner Biografie heraus erklären. Ich habe als 16-Jähriger an meiner Schule dafür gekämpft, dass wir uns eine Schulverfassung geben können. Habe als junger Mann Aufsätze geschrieben, in denen ich mich mit führenden Professoren gemessen habe, etwa in der Frage, ob es deutsche Kollektivschuld gäbe, was ich für Unsinn hielt.

Ingrid: Kurt Hans ist ein besonderer Mann. Dafür kannst du nichts, das ist ja in deinem Kopf drin.

Kurt: Ich habe, das will ich sagen, eine gewisse Vorbildung für mein Amt gehabt. Ich war Generalsekretär der CDU gewesen. Ich war in Amerika, habe dort studiert, ich habe die Welt gesehen. Ich war Rektor einer Hochschule. Ich kann und will Herrn Tillich keinen Vorwurf machen, dass er diese Vorbildung nicht hat. Er hat das nie gelernt. Ich habe ihn einst gebeten, ins Europäische Parlament zu gehen, das hat er sehr gut gemacht, er wurde Obmann eines Ausschusses der bürgerlichen Fraktion im Parlament. Für das Amt, für das er ursprünglich nicht vorgesehen war, hatte er keine Vorbildung. Er lebt ein bisschen in einer anderen Welt, ist primär interessiert an Kompromissen. Ich sage das nur, um zu erklären! Ein Ministerpräsident ist aber etwas anderes als ein Präsident. Mit einer separaten Regierung, die Regierungsdinge tut, könnte man sich so verhalten. Scheu darf man aber nicht sein, wenn es wirklich um Entscheidungen geht. Doch man darf auch nicht alles an Herrn Tillich abladen. Der Finanzminister etwa ist ein Ingenieur, kein Politiker. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung.

Ingrid: Das sehe ich genauso.

Kurt: Vielleicht ist es auch nicht gerecht. Es gibt berechtigterweise Leute, die sagen, der Herr Biedenkopf kann uns doch endlich einmal in Ruhe lassen. Und ich möchte auch nicht übermäßig in den Vordergrund drängen. Die Art und Weise, wie Herr Tillich zögert, Entscheidungen zu treffen, will ich wirklich nicht kommentieren. Ich höre nur von den Menschen, dass sie unzufrieden sind mit ihrer Lage in Sachsen.

Ingrid: Die Bevölkerung steht hinter uns, das hat sie immer getan. Sie spricht uns an auf die Probleme, sie geht auf uns zu!

Stanislaw Tillich hat zuletzt gesagt, dass "Deutschland Deutschland bleiben" müsse, dass er sich stärker an Horst Seehofer orientieren wolle. Kann das eine Lehre aus der Wahl sein?

Kurt: Ich will mich in die unmittelbare Entwicklung der sächsischen CDU nicht einmischen. Ganz generell sage ich: Sich an Horst Seehofer orientieren kann man nur wollen, wenn man die bayerische Politik ebenso wenig verstanden hat wie die Rolle von Horst Seehofer. Strauß hat gesagt: Rechts von der CSU darf es keine Partei geben. Was vollkommen richtig ist. Aber was ist die Konsequenz einer solchen Entscheidung? Dass das, was Rechte politisch wollen, in CSU oder CDU stattfinden muss. Stattdessen hat man die ironische Situation, dass im Sächsischen Landtag bereits zehn AfD-Leute und vier ehemalige AfD-Leute sitzen. Wie willst du rechts von denen ankommen? Jetzt ist es zu spät. Das ändert nichts daran, dass die Ausrichtung der CDU im Sozialen nicht stimmt.

Warum?

Kurt: Die Expansion des Sozialen in dieser Partei stört mich. Als wäre man eine bessere SPD. Jetzt ist die Lücke am rechten Rand evident. Eine durch Vormundschaft und Fürsorge geprägte Politik kann der CDU keinen dauerhaften Erfolg bringen. Das ist auch das, was Bernd Lucke letztlich dazu brachte, die CDU zu verlassen und die AfD zu gründen. Wenn Sie die Sozialpolitik von Frau Nahles und die Sozialpolitik von führenden CDU-Politikern vergleichen, ist der Unterschied minimal. Ich mag diese Untertanenmentalität nicht, die wir da als Partei ausstrahlen.

Ingrid: Die gibt es überall in der Politik! Alle sagen immer, man müsse die "Menschen mitnehmen".

Kurt: Sehr wichtig, was du da sagst! Ich verabscheue diese Formulierung, weil sie eine Untertanenformulierung ist: Du musst die Untertanen mitnehmen, damit die das Rechte tun. Die Leute wissen schon, was sie wollen, die müssen nicht mitgenommen werden, die wollen Antworten haben. Die ganze Sprache ist angelegt auf Bevormundung, Vater Staat und so weiter. Aber wenn es Vater Staat gibt, wer sind denn die Kinder?

Sie sind immer der große Landesvater gewesen, sogar "König Kurt"!

Kurt: Ich selbst habe mir das nie zu eigen gemacht.

Ingrid: Aber schön fand ich es, dass sie dich Landesvater, mich Landesmutter genannt haben! Sie wollten sogar, dass wir König werden.

Muss sich Politik nicht den sozialen Problemen widmen, die es gerade im Osten gibt?

Kurt: Das haben wir in unserer Amtszeit stark getan! Gerade Ingrid Biedenkopf hat das gemacht.

Ingrid: Ich habe versucht, den Menschen zu helfen, da war ich sehr erfolgreich. Zu Zehntausenden haben sich die Leute in Briefen an mich gewandt mit Sorgen und Problemen. Ich habe der Frau Tillich angeboten, viele Schirmherrschaften von mir zu übernehmen. Weil es wichtig ist, dass die Frau des Ministerpräsidenten so etwas macht. So recht geklappt hat es nicht. Ich bin bis heute noch mit ihr verabredet. Sie hat sich nie wieder gemeldet.

Kurt: Ich finde nicht, dass das hier Thema sein sollte.

Ingrid: Aber Kurt Hans, es war so!

Kurt: Mir ist lieber, wir sprechen über deine große Leistung für unser Land. Du schätzt heute, dass du in unserer Amtszeit 2.000 bis 3.000 Fälle von Bürger-Anliegen bearbeitet hast, jedes Jahr. Das sprach sich herum: Wenn man im Büro Ingrid Biedenkopf anruft, kriegt man einen nützlichen Kontakt, die kann einem helfen. Das für mich eindrucksvollste Beispiel spielte sich in Riesa ab. Da näherte sich eine Frau, mit bleichem Gesicht ...

Ingrid: (unter Tränen) Ich muss weinen, wenn du das erzählst!

Kurt: Die Frau, die sich damals an dich wandte, war völlig verzweifelt.

Ingrid: Ihre Schwester war tödlich verunglückt, deren Kinder sie zu sich nehmen wollte, weil der Vater im Gefängnis saß. Und es gab nicht die passende Wohnung.

Kurt: Da ist meine Frau in der Lage gewesen, ein Haus zu organisieren, ein Auto, den notwendigen Support. Das hat mich beeindruckt.

Ingrid: Ich habe mich sehr gefreut, dass ich da helfen konnte.

Ist das ein Schlüssel im Kampf gegen den Populismus – viele kleine Probleme lösen?

Kurt: Alleine das reicht nicht. Aber für mich war das, was Ingrid gemacht hat, eine sehr wichtige Sache, weil ich dadurch sehr gut informiert war über das, was in Sachsen passiert. Wenn ich heute überhaupt eine Sorge habe, ist es das Misstrauen der Deutschen gegenüber der Demokratie.

Auch der Westdeutschen?

Kurt: Von denen ganz genauso. Es sind nicht die Ostdeutschen allein. Die Westdeutschen kennen nur schon alle Tricks. Ich möchte einmal einen Appell loswerden.

Nur zu.

Kurt: Zur Demokratie gehören auch Toleranz und Geduld. Wenn ich keine Toleranz aufbringen kann in Bezug auf ein Verhalten, das mich zwar wahnsinnig ärgert, das aber die Ordnung nicht gefährdet? Dann bin ich ein schlechter Demokrat. Pegida läuft durch Dresden? Dann lass sie, in Gottes Namen, laufen. Ich kann doch nicht anfangen, jede Störung, die von denen ausgeht, dauernd zur Gefährdung der Demokratie zu erklären. Die AfD wird gewählt? Nicht schön, aber wir können auch nicht die ganze Zeit mit dem Knüppel herumlaufen. Wieso gefährdet denn Pegida die Demokratie? Die gefährden allenfalls die Intelligenz.

Ingrid: Ja, die Demokratie darf man nicht immer schlechtreden.

Kurt: Sonst kommen die Leute noch auf die Idee: Wenn die Ordnung angeblich schon so wackelt, dass man nicht einmal über die Stränge schlagen kann – dann kann sie eine so stabile Ordnung nicht sein. Ich sage Ihnen: Die AfD artikuliert jetzt eine Unzufriedenheit im Parlament, und unser parlamentarisches System wird gut damit umgehen. Die Demokratie wird gefährdet von den Leuten, die bezweifeln, dass die Demokratie funktioniert. Die hohe Wahlbeteiligung ist eine gute Nachricht. Gefährdet ist die Demokratie allenfalls durch die, die den Regierungsauftrag haben, sich dann den Teufel kehren und machen, was sie für richtig halten. Nur nicht, was die Menschen wollen. Auch in Sachsen.

Trotzdem waren es vor allem Leute aus dem Osten, die im Wahlkampf Angela Merkel anbrüllten.

Kurt: Das sind nicht die Leute, das ist ein kleiner Haufen. Ein Haufen Irrer. Damit darf man sich nicht beschäftigen. Man darf nicht den überwiegenden Teil der AfD-Wähler mit diesen Leuten verwechseln.

War es nicht ein Fehler Ihrer Zeit, Rechtsextremisten als unbedeutende Gruppe zu sehen?

Kurt: Ich habe gesagt, dass die Sachsen immun sind gegenüber Rechtsradikalismus. Das ist auch heute noch meine Auffassung.

Ingrid: Rechtsextremismus gab es fast gar keinen!

Kurt: In vier Jahren ist die AfD von fünf Prozent auf über 20 gestiegen. Das hat nichts mit Neonazis zu tun. Sondern mit Unzufriedenheit. Fehlender Führung im Land. Die gleichen Wähler, die dreimal hintereinander bereit waren, der Regierung eine absolute Mehrheit zu geben, tun das in Sachsen nun nicht mehr. Warum? Das ist eine interessante Frage. Es ist in der Zwischenzeit nicht so viel zusammengebrochen.

"Ich bedauere, dass ich meine Nachfolge nicht selber regeln konnte"

Fühlen Sie sich von Stanislaw Tillich genügend gewürdigt als erster Aufbauhelfer nach 1990?

Kurt: Das ist keine Kategorie. Es gibt da eine Distance, die in diesem Gespräch nichts verloren hat.

Wenn jetzt die Frage gestellt wird, wer Tillich nachfolgen soll, sagen manche: Thomas de Maizière.

Ingrid: (zu Kurt): Er wäre schon für deine Nachfolge damals der Beste gewesen.

Kurt: Was bringt diese Debatte? Thomas de Maizière hat eine Bombenstellung in Berlin, und wenn er nicht sich selbst sagt, dass er jetzt über 60 ist und noch mal eine Altersbeschäftigung in Sachsen sucht – dann kommt er auch nicht nach Dresden. Ich würde mich natürlich freuen, ihn noch einmal in Sachsen zu sehen, aber das ist unrealistisches Gerede.

Mit Georg Milbradt waren Sie unzufrieden. Wie gern hätten Sie Ihre Nachfolge selbst geregelt?

Kurt: Manchmal habe ich bedauert, dass ich es nicht tun konnte. Es gibt viele, die im zweiten Glied Hervorragendes leisten, und Milbradt war wirklich ein guter Finanzminister. Aber es war immer so, dass ich ein Auge drauf hatte.

Ingrid: Unter deiner Führung war seine beste Zeit.

Ärgert Sie, dass Sie damals, 2001, wenig Kontrolle über den Übergang der Macht hatten?

Kurt: Das hat mich nicht geärgert. Das hat mir einfach leidgetan. Weil ich wusste, wie es laufen würde. Ich habe großen Ärger gehabt mit der Partei, einer ganzen Reihe von Stänkerern damals. Herr Milbradt hat offenbar schon sehr früh alles darauf angelegt, mein Nachfolger zu werden, und sich ungeheuerlich verhalten. Auch meiner Frau gegenüber. Aber darüber möchte ich nicht mehr sprechen. Wir sollten das für heute abhaken, mehr fällt mir nicht ein.

Ingrid: Dir fällt bestimmt die ganze Nacht noch etwas ein!

Kurt: Wir haben heute viel Erfahrung, würden vieles anders entscheiden.

Ingrid: Nicht vieles, nur weniges.

Kurt: Du hast recht, Liebes. Im Großen und Ganzen sind wir sehr zufrieden mit – wie haben Sie gesagt? Dem Lebenswerk. Das nicht mein Lebenswerk, sondern unser Lebenswerk ist. Meine Frau stand mal auf der Bühne der Semperoper und sagte im Rausch der Gefühle: "Seit wir Ministerpräsident sind ..."

Ingrid: Da war ich müde und erschöpft!

Kurt: Es brachte dir große Sympathien ein. Und es war ja auch wahr!

Mitarbeit: Anne Hähnig. Dieser Artikel erschien zuerst auf zeit.de.

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