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1933

© bpk / Carl Weinrother

Politik: Kreuze und Hakenkreuze

Fahnenweihe am Altar, Heilrufe, Horst-Wessel-Lied – das war 1933 die Welt der „Deutschen Christen“. 80 Jahre später drückt sich die Kirche weiter vor der Aufarbeitung dieser fatalen Verirrung.

Voller Genugtuung sahen sie zu, wie da einer zum „nationalen Heiland und Erlöser“ aufstieg, und sie nährten und befeuerten diesen Glauben, wo und wann es nur ging. Und das war nicht wenig, denn sie selbst waren Männer des Glaubens, sie waren Kirchenleute.

Pfarrer Bruno Marquardt aus Berlin-Friedenau war einer von ihnen. „Ein Jahr der Größe“ war für ihn das Jahr 1933, als Adolf Hitler an die Macht kam und das Land in eine Diktatur verwandelte. Ein Jahr, das den Deutschen verlorenes Heldentum zurückgab. Deutschland sei von einer Nation minderen Rechts endlich wieder zu einem ebenbürtigen Partner aufgestiegen. „Das stille Heldentum der Männer – vom Führer bis zum letzten SA-Mann –, die in den Jahren der Schmach und Erniedrigung gerungen um die Seele des Volkes, die ihr Leben und Blut eingesetzt für ein neues Deutschland, dies stille Heldentum hat doch endlich gesiegt im ‚Sieg des Glaubens’.“ Ungeachtet aller Versklavung und Verlumpung vor 1933, befand der Pfarrer, habe der „nationale Aufbruch“ gezeigt, dass die Deutschen seelisch nicht zerbrochen seien, sondern hoffnungsvoll einer neuen Intensivierung des Glaubens entgegengingen.

So ähnlich dachten viele Pfarrer nach dem emphatischen Erlebnis der Zeitenkehre 1933 – und mit ihnen beträchtliche Teile des Kirchenvolks. Die evangelischen Kirchen der Reichshauptstadt wurden von einer 1932 gegründeten Bewegung, die sich „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (DC) nannte, regelrecht überrollt: Schon vier Tage nach Hitlers Machtantritt begann das mit einem Dankgottesdienst in der überfüllten traditionsreichen Marienkirche im Stadtzentrum. Joachim Hossenfelder, Pfarrer an der Kreuzberger Christus-Kirche und Erster Reichsleiter der „Deutschen Christen“, predigte über 1. Korinther 15, 57: „Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unsern Herrn Jesus Christus!“ Reichspräsident Hindenburg, so tönt es von der Kanzel, habe „den denkbar besten Mann“ an die Spitze der Regierung berufen. Hossenfelder schilderte den neuen katholischen Reichskanzler als „Mann aus einem Guß, gegossen aus Reinheit, Frömmigkeit, Energie und Charakterstärke, unseren Adolf Hitler.“

Nur zwei Tage später, am 5. Februar, stand der „Glaubensbewegung“ der Dom, das größte Gotteshaus Berlins, für eine Totenfeier zur Verfügung. Bei der wurde Abschied von dem getöteten SA-Sturmführer Hans-Eberhard Maikowski genommen, einem der berüchtigsten SA-Schläger Berlins. Maikowski und ein Polizist waren am Abend des 30. Januar bei einer SA-Demonstration durch die Charlottenburger Wallstraße (heute Zillestraße) erschossen worden. In Anwesenheit von Hitler, Reichsmarschall Göring, SA- und SS-Führern, des Kronprinzen des Hohenzollernhauses und vielen DC-Pfarrern in Amtstracht erhielt Maikowski eine Art Requiem. Es predigte – wie schon in der Marienkirche – Pfarrer Hossenfelder. Er sprach von der „großen grauen Armee“ im Jenseits, die zum „himmlischen Wachtdienst“ befohlen sei – „bei dem ewigen Sturm Horst Wessels“. Direkt an den vor dem Altar aufgebahrten SA-Sturmführer gewandt fuhr er fort: „Du warst einer der Besten unter uns, gleich Horst Wessel. (...) Deinen Sarg schmückt die Hakenkreuzfahne, vor deinem Sarge sitzt dein oberster Führer Adolf Hitler, und so sprechen wir den Schluss jenes alten Soldatenliedes: ‚Und ist die Saat so fein, wie wird die Ernte golden und rauschend sein!’“

Im Verlauf des Jahres 1933 blieb kaum eine evangelische Kirche Berlins von solchen Gedenk-, Dank- und Jubelfeiern verschont. Anlässe boten sich reichlich: „Heldengedenkfeiern“ im März, „Führergeburtstagsfeiern“ im April, Dankgottesdienste zum „nationalen Aufbruch“ am 2. Juli, „Blut und Boden“-haltige Erntedankfeiern im Oktober, Gedenkfeiern zum 450. Geburtstag Martin Luthers im November. Von diesen Inszenierungen aus griff der braune Kult sukzessive auch auf die sonntäglichen Gottesdienste über.

Zeitlich eingerahmt durch den Judenboykott vom 1. April und der Verkündung des Berufsbeamtengesetzes am 7. April 1933 organisierten die „Deutschen Christen“ ihre erste Reichstagung im Preußischen Herrenhaus, dort, wo heute der Bundesrat tagt. Der Friedenauer Pfarrer Siegfried Nobiling referierte über „Kirchliches Führertum“ und plädierte für die Heranbildung einer neuen Theologengeneration im Geist der völkischen Glaubensgemeinschaft. „Familie, Sippe, Rasse und Volk – wer diese Gegebenheiten nicht als Schöpfungen Gottes, die ihm heilig sein müssen (...) anerkennt, darf und soll nicht das Amt eines Theologen bekleiden.“ Kein „Jude“ oder „Judenstämmling“, so forderte der Pfarrer schon vor Erlass des „Arierparagraphen“, dürfe das Ehrenamt eines Geistlichen oder Gemeindeältesten ausüben. Pfarrer Karl Themel von der Luisenstadtgemeinde sprach über die „Vernichtung der Gottlosenbewegung“. Als Christen begrüßten sie die „Reinigungs- und Säuberungsaktionen des Staates“. In den Kirchengemeinden erblickte er „Zellen der Gesundung im kranken Volkskörper“.

Alles Formulierungen, die vor dem Anfang der Nazi-Gräuel standen und keinesfalls am Ende. Die Deutschen Christen hielten sich als kompakte Massenbewegung nicht lange, sondern zersplitterten seit 1936/37 und verschwanden nach 1945 – bis auf Ausnahmen – in der Bedeutungslosigkeit. Und doch hat sich die Berliner Nachkriegskirche in der zerschlagenen Stadt, lange in der Kalten-Kriegs-Situation gefangen, über viele Jahrzehnte hinweg als völlig unwillig erwiesen, sich mit ihrer braunen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Erst sehr spät, nämlich in der Ära von Bischof Wolfgang Huber, kam die Aufarbeitung in Gang. Aber auch dann oft halbherzig, selektiv, ängstlich. Und in jüngster Zeit stellt sich nicht selten der Eindruck ein, die Parole kirchenintern sei: Nun ist aber genug! So hat beispielsweise die üppig ausgestattete Theologische Fakultät der Humboldt-Universität in den mehr als 20 Jahren seit der Wende fast nichts zur Aufarbeitung der braunen Hauptstadtkirche und ihrer schrecklichen Universitätstheologen beigetragen. Merkwürdig berührt auch, dass die Evangelische Akademie zu Berlin in ihrem Jahresprogramm 2013 auf die aktuelle Thematik der „Zerstörten Vielfalt“, auf die Thematisierung kirchlicher Performance im Nazi-Reich jeden Bezug vermissen lässt. Dabei ist das Jahr 1933 reich an Gelegenheiten, als Kirche den Blick zurückzuwerfen und sich zu befragen. Wie konnte man sich als christliche Kirche so irren? Wie war solche NS-Propaganda von der Kanzel möglich?

Die Kirchen waren 1933 an manchen Tagen so voll wie nie zuvor, die Gottesdienste gerieten zu Spektakeln. Zum Gottesdienst zur Feier des Hitlergeburtstags am 20. April marschierten in der Gemeinde Stephanus im Bezirk Wedding die NSDAP-Ortsgruppe „Gesundbrunnen“ und zwei SA-Stürme auf. Pfarrer Walter Aner predigte über 1. Joh. 5, Vers 4: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Tiefste Ergriffenheit hätten die Fürbitten am Schluss des Gottesdienstes ausgelöst, als derer gedacht worden sei, die in der „Gefolgschaft des Führers für die Wiedergeburt unseres Volkes starben und leise von der Orgel das Horst-Wessel-Lied erklang“, wurde darüber berichtet. In dieser Gemeinde schlossen sich 17 von 18 Kirchenältesten, sämtliche vier Pfarrer, die Kirchenbeamten, Gemeindeschwestern und Pfarrgehilfinnen der neuen „Glaubensbewegung“ an.

Man wird erstaunt fragen: Ja, machten denn alle mit bei dieser protestantischen Selbstumwandlung im Jahr 1933? Die Antwort muss lauten: Nein, nicht alle – aber doch sehr viele. Für den 23. Juli waren kirchliche Neuwahlen für die kurz zuvor durch den rabiaten NS-Staatskommissar August Jäger aufgelösten kirchlichen Vertretungskörperschaften anberaumt. Nur noch zwei Listen standen zur Wahl: „Deutsche Christen“ und die Wahlliste „Evangelium und Kirche“. Unter diesem Namen sammelte sich die schwach und zögerlich agierende Kirchenopposition. Auffallend für Berlin war die hohe Zahl von Gemeinden (43 Prozent), in denen Einheitslisten gebildet wurden, auf denen sich die „Deutschen Christen“ ohne Wahl Mandatsanteile von 75 bis 100 Prozent sicherten. Faktisch überließ die alte Kirche damit in fast der Hälfte aller Gemeinden den anstürmenden Deutschchristen kampflos das Feld. In 75 „Wahlgemeinden“, in denen ein Wahlakt stattfand, erreichten die „Deutschen Christen“ durchschnittlich zwei Drittel der Stimmen. Dieser Wahltriumph war deshalb so vollkommen, weil große Teile der Pfarrer und des Kirchenvolks diese völkische Umwandlung offenbar wollten und weil die innerkirchlichen Abwehrkräfte erschreckend schwach waren.

Die Zusammensetzung der preußischen Generalsynode Anfang September, wegen der Dominanz von Nazi-Uniformen auch „braune Synode“ genannt, war eine Folge dieser Kirchenwahlen. Mit Zweidrittelmehrheit beschlossen die „Deutschen Christen“ die Einführung des „Arierparagraphen“ in der Kirche.

Erst jetzt reagierte man auch in der bislang übervorsichtigen Kirchenopposition alarmiert. Nur wenige Tage später gründete eine Kerngruppe beunruhigter Pfarrer um Gerhard Jacobi, Martin Niemöller und Martin Albertz den „Pfarrernotbund“, eine Hilfsorganisation für Theologen, die sich den wachsenden Zumutungen einer völkischen Reichskirche nun kraftvoller entgegenstellten.

Die „Deutschen Christen“ planten für den Herbst eine machtvolle Kundgebung im Berliner Sportpalast. Es sollte ein Massenaufmarsch werden, Heerschau und Siegesparade zugleich. Am Abend des 13. November 1933 war der 20 000 Menschen fassende Sportpalast überfüllt. Am Vorstandstisch hatte die stattliche Riege der Groß-Berliner DC-Pfarrer Platz genommen. Der Hauptredner, Gauobmann Reinhold Krause, rief die Kirche zur „Vollendung der deutschen Reformation im Dritten Reich“ auf. In der neuen „deutschen Volkskirche“ müssten dieselben „Lebensgesetze“ wie im neuen Staat gelten: „heldische Frömmigkeit“ und „artgemäßes Christentum“. Zwingend sei nun die „Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst“. Dazu müsse die Befreiung vom Alten Testament mit seiner „jüdischen Lohnmoral“ gehören. Auch die „Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus“ müsse verschwinden. Erforderlich sei eine „reine Jesuslehre“, die mit den Forderungen des Nationalsozialismus übereinstimme. Als der Redner den 20 000 Besuchern abschließend ein „Heil“ zurief, dankte das begeisterte Publikum mit lang anhaltendem Beifall. Doch in den Reihen der DC löste diese Rede durchaus beträchtliche Irritationen sowie einige Rücktritte aus – und sie stärkte zugleich die noch junge Kirchenopposition.

Gegen Jahresende 1933 dann hatten die „Deutschen Christen“ die Berliner Kirche zu erheblichen Teilen, aber nicht vollständig erobert. Für den Großraum Berlin zeichneten sich Konturen einer gespaltenen Kirche ab, in der zwei verfeindete Glaubensfraktionen in einem selbstzerstörerischen Bruderkampf um Vorherrschaft rangen. Dieser „Kirchenkampf“ sollte die kommenden Jahre bestimmen. In diesem erbitterten Streit zwischen zwei Lagern stellten die Berliner DC-Pfarrer längere Zeit die Majorität. Mehr als 40 Prozent aller Gemeindepfarrer gehörten ihnen (zumindest zeitweilig) an. Gut 20 Prozent aller Hauptstadtpfarrer schlossen sich der NSDAP an. Es wären noch mehr geworden, hätte nicht die NSDAP aus Sorge vor innerparteilichem Konfessionsstreit ihre Türen für Theologen verschlossen.

Eine Art von neuer Liturgie breitete sich überall dort aus, wo die „Deutschen Christen“ herrschten. Fahneneinmarsch in die Kirche, Fahnenweihe am Altar, feierlicher Fahnenausmarsch, Heilrufe, Horst-Wessel-Lied – das war ihre Welt. In den Predigten verkündeten DC-Theologen ein „heldisches Jesusbild“ als Ansporn für den deutschen Menschen der Gegenwart. Jüdisches und vermeintlich Jüdisches musste getilgt werden aus Kirche und Gottesdienst: kein „Zion“ und kein „Hosianna“ sollte mehr in deutschen Kirchen sein. Der eigentliche Ort, an dem sich die DC-Vereinskultur breitmachte, waren die Pfarr- und Gemeindehäuser. DC-Gruppenabende thematisierten alles, was zur Synthese von Christentum und Nationalsozialismus tauglich schien: „Luther und die Juden“, „Kampf um die deutsche Volksseele“, „Christentum und nordischer Glaube“. Auch Hitlerporträts und NS-Symbole kamen hier stärker zur Geltung, und der Hitlergruß auf amtlichen Schreiben gehörte zu den Selbstverständlichkeiten.

Schaut man von heute aus ohne Scheuklappen auf das Ganze der protestantischen Performance in Berlin (und im ganzen Deutschen Reich) während der Nazi-Zeit, so hielten sich Licht und Schatten nicht die Waage. Viel eher wäre wohl von einer weitreichenden, zwölfjährigen kirchlichen Sonnenfinsternis zu sprechen. Gewiss gab es in dieser großen allgemeinen Verdunkelung auch Lichtpunkte. Berlin-Dahlem mit Helmut Gollwitzer leuchtete; der junge Dietrich Bonhoeffer ist zu nennen, für den sich kein Pfarramt in Berlin fand; der formidable Spandauer Superintendent Martin Albertz in seiner bewundernswert konsequenten christlichen Haltung ist zu rühmen; die noch immer viel zu unbekannte Historikerin Elisabeth Schmitz mit ihrer mutigen Denkschrift (1935/36) gegen die Judenverfolgung wäre zu nennen und sicher viele weitere Einzelne mehr.

Die Nazi-Zeit ist eine Vergangenheit, die nicht vergehen will, und die auch die Kirche von heute immer wieder einholen wird. Auch 80 Jahre nach 1933 bleibt auf dieser historischen Großbaustelle noch viel zu tun.

Prof. Dr. Manfred Gailus ist Historiker und lehrt Neuere Geschichte an der TU Berlin.

Manfred Gailus

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