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Zahlreiche Straßenblockaden brannten im Schanzenviertel.

© imago/xim.gs

Krawalle beim G20-Gipfel: Wie Hamburgs Albtraum Realität wurde

Sie hatten es angekündigt. Aber am Ende kam alles noch viel schlimmer. Protokoll einer Nacht voller Gewalt.

Von Frank Jansen

Das Schanzenviertel am Morgen nach der Krawallnacht. Die Straße "Schulterblatt" ist schwer getroffen. Brandstellen und sogar ein flacher Krater sind die Überbleibsel der Barrikaden, die lichterloh brannten. Die Männer der Stadtreinigung, bullige Kerle in orangenen Latzhosen, fahren mit Räumfahrzeugen herum, andere fegen mit großen Besen den Schutt zusammen.

Ein paar Schaulustige, viele Journalisten, in der Luft kreist ein Hubschrauber. Vor und in den Geschäften, die verwüstet sind, stehen Menschen, die hier gearbeitet haben. Als könnten sie nicht glauben, was sie sehen, starren sie auf zertrampelte Waren, demolierte Regale, Scherben, mit Parolen beschmierte Wände.

Nur wenige der Betroffenen wollen reden. In der Drogerie, die aussieht wie ein Schlachtplatz, sagte eine Angestellte, "das war mal eine Drogerie". Dann bittet sie um Verständnis, "wir geben hier keine Interviews". Vor der geplünderten Rewe-Filiale stehen Frauen mittleren Alters Spalier, als wollten sie das ramponierte Geschäft jetzt wenigstens vor neugierigen Blicken schützen. Ja, sie habe hier gearbeitet, sagt eine Frau mit tonloser Stimme, dann dreht sie sich weg. Auch die anderen blicken abwesend. Und bleiben stumm.

Tausende haben sich in der Nacht im Schulterblatt ausgetobt. Hier ist ihre Hochburg, hier steht das seit 1989 besetzte Autonomen- Zentrum "Rote Flora", hier hatte es auch in der Nacht zu Freitag schon gekracht. Aber nicht vergleichbar mit dem Massenkrawall 24 Stunden später.

Es war ein Desaster für die Polizei

Was sich zwischen 20 Uhr und zwei Uhr abgespielt hat, erinnert an härteste Randale beim 1. Mai in Kreuzberg. Ein Desaster für die Polizei, die mit 20000 Beamten aus dem ganzen Bundesgebiet beim G20-Gipfel präsent ist und doch das Schanzenviertel nicht vor dem größten Aufruhr seit Jahren bewahren konnte. Zumal es auch in den Tagen zuvor schon Ausschreitungen gab. Doch am Sonnabend ist die Republik geschockt wie schon lange nicht mehr. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) fasst es in einem Satz zusammen. "Die Dimension, mit der extrem gewalttätige Chaoten gestern und vorgestern in Hamburg vorgegangen sind, ist unfassbar und empörend."

Der Rewe-Markt wurde geplündert und zerstört.
Der Rewe-Markt wurde geplündert und zerstört.

© dpa

Vermummte Schwarzjacken sprangen um die brennenden Barrikaden herum, warfen Spraydosen aus der aufgebrochenen Drogerie rein, schlugen mit Steinen und Hämmern auf Schaufenster, Firmenschilder und Geldautomaten ein. Stundenlang eine Kakophonie aus lauten Verpuffungen in den Flammen, den Parolen der Autonomen wie "A-Anti-Anticapitalista", das Gejohle der Mitläufer. Junge Leute, im normalen Sommerdress, ließen sich mitreißen, stiegen vor allem auch in die Rewe-Filiale ein. Mit Six-Packs Bier und Schnapsflaschen kamen sie wieder raus und reckten stolz ihre Beute. Unzählige Schaulustige liefen herum, manche saßen auf den Bierbänken vor Lokalen, in denen weiter bedient wurde. Leute aßen Pizza und tranken Wein. Nebenan knisterte und knallte eine Barrikade.

Nicht nur die Drogerie und der Rewe sind verwüstet

Am Samstagmorgen ist das volle Ausmaß der Zerstörung zu erkennen. Nicht nur die Drogerie und der Rewe sind verwüstet. Ein Geschenkeladen ist zertrümmert, ebenso eine Spielhalle. Das Eingangsgitter der Sparkassen- Filiale hängt verbogen heraus, vom Innenraum sind im Halbdunkel nur verrußte Wände zu erkennen.

"Das ist totale Scheiße, was hier passiert ist", schimpft der Kellner eines Lokals, der alles gesehen hat und seit 40 Jahren hier lebt, dessen Restaurant allerdings verschont blieb. Atemlos redet er sich in Rage, "in mir kommt ein Hass hoch, auf dieses Land, weil es unfähig ist, so was zu verhindern, und Hass auf die Demonstranten, das war reiner Vandalismus, das hat nichts mit G20 zu tun". Er holt kurz Luft, "und wissen Sie, was das Schlimmste war? Die waren alle keine 20 Jahre alt!" Außerdem habe er "italienische und spanische Stimmen" gehört. Und er lässt seiner Wut auf die Autonomen freien Lauf, "Scheiß Rote Flora, man hätte die nie hochkommen lassen dürfen."

Der Geschäftsführer eines Textilgeschäfts bittet, "schreiben Sie bloß nicht den Namen meines Ladens, ich krieg hier ständig was ab". Er fegt die Stufen am Eingang, ein großes Loch im Schaufenster ist mit einer Sperrholzplatte notdürftig gesichert. "Das ist von der letzten Randale", sagt er, "ich habe es gleich so gelassen, weil ich mir schon denken konnte, was beim G-20-Gipfel kommt."

Ein Rentnerpaar aus dem Viertel stellt sich dazu. "Man hätte den G-20-Gipfel nie in die Stadt holen dürfen", sagt die Frau, "wir wissen ja, wie das hier schon bei kleinen Anlässen eskaliert." Wo kommt die Gewalt her? Der Ehemann hat sofort eine Antwort parat. "Es gibt viel Armut, das heizt natürlich an." Aber so ein Ausmaß hätten sie nicht erwartet. Hat die Polizei versagt? "Die Frage ist, ob sie zu lange gewartet hat", sagt die Frau, "aber wenn sie gleich losdonnern, dann gibt es Tote. Das geht natürlich auch nicht." Aber etwas schneller hätten die Beamten schon kommen sollen, sagt ihr Mann.

Ins "Schulterblatt" trauten sich die Einsatzkräfte lange nicht

Das Verhalten der Polizei in der Nacht wird vermutlich noch lange diskutiert werden, nicht nur in Hamburg. In der Nacht selbst boten die Einsatzkräfte ein Bild massiver Hilflosigkeit, gepaart mit wachsender Nervosität, vereinzelt auch Hysterie. Außerhalb der von den Autonomen freigekämpften Zone schrieen Polizisten im Kampfdress die Journalisten an. Zwei Männer, die an einer Hauswand standen, wurden zu Boden geknüppelt und weggeschleift. Doch ins Schulterblatt trauten sich die Einsatzkräfte lange nicht. Obwohl gleich nebenan, bei der großen Straßenkreuzung am Neuen Pferdemarkt, mindestens sieben Wasserwerfer und zwei Räumpanzer standen. Und hunderte behelmte Polizisten. Es nützte nichts. Die Autonomen hatten die Polizei ausgetrickst.

Die Polizei setzte massiv Wasserwerfer ein.
Die Polizei setzte massiv Wasserwerfer ein.

© AFP

Am Neuen Pferdemarkt hatten die Schwarzjacken die Beamten schon am frühen Abend mit Steinen und Flaschen attackiert. Absperrgitter und Baken wurden auf die Fahrbahnen geschmissen, die Wasserwerfer jagten einen Strahl nach dem anderen in die Meute. Doch den Polizisten entging offenbar, dass die Autonomen mit dem eher mäßigen Krawall davon ablenkten, was keine 100 Meter weiter nördlich geschah. Im Schulterblatt wuchsen und loderten die Barrikaden. Die Polizei war am Neuen Pferdemarkt beschäftigt.

Ob die Einsatzkräfte überfordert waren oder blind oder naiv, ist schwer zu sagen. Mindestens zwei Hubschrauber kreisten über dem Viertel. Aber erst gegen 22 Uhr, als schon alles verloren war, tauchte ein Helikopter direkt über dem Schulterblatt auf. Der Suchscheinwerfer strahlte hinunter, Autonome und Schaulustige lachten und winkten. Andere hämmerten weiter auf die drei Geldautomaten der Sparkasse ein.

Die Autonomen warfen wie besessen Steine

Um die Zeit rief der Tagesspiegel vom Schulterblatt aus bei der Polizeipressestelle an. Um zu erfahren, wo die vielen Einsatzkräfte blieben. Ein Beamter erteilte knapp, aber in freundlich-technischem Ton Auskunft. Zu taktischen Einzelheiten des Einsatzes der Polizei könne er grundsätzlich nichts sagen. "Aber vielen Dank für Ihren Hinweis." Wie bitte? Saß da tatsächlich ein ahnungsloser Beamter, der jetzt seine Kollegen informiert? Und es dauerte, bis Wasserwerfer und Räumpanzer dann doch vom Neuen Pferdemarkt vorrückten in Richtung Schulterblatt. Erst kurz vor Mitternacht war die erste brennende Barrikade vor der Einfahrt genommen und gelöscht.

Die Autonomen, obwohl ständig abgeduscht, warfen dennoch wie besessen weiter Steine. Ein Vermummter verhöhnte mit tanzartigen Verrenkungen die anrückenden Beamten. Die bekamen dann allerdings schwer bewaffnete Unterstützung. Ein Spezialeinsatzkommando, die Maschinenpistolen im Anschlag, rannte an der Einfahrt Schulterblatt in ein Gebäude. Gleichzeitig scheuchten und schubsten Polizisten, die Schlagstöcke in der Hand, alle Medienleute weg, die das SEK filmten und fotografierten. Hätte auch nur ein Journalist nicht gespurt, Schmerzen wären ihm sicher gewesen.

Autonome warfen wie besessen Steine.
Autonome warfen wie besessen Steine.

© imago/ZUMA Press

Gegen 0.45 Uhr hatte die Polizei es dann geschafft. Das Schulterblatt war besetzt. Die Autonomen hatten jedoch nicht aufgegeben. In Kleingruppen attackierten sie in den umliegenden Straßen weiter die Einsatzkräfte. Und verschwanden wieder. Hit and Run. Und dann ging die Randale am Neuen Pferdemarkt wieder los. Steine und Flaschen flogen auf die Beamten, die nicht ins Schulterblatt eingerückt waren. Zwei Wasserwerfer sprühten in einen Pulk von etwa 100 Autonomen und aufgeputschten Jugendlichen. "Haut ab, haut ab" scholl den Polizisten entgegen, und das seit Tagen immer wieder zu hörende "Ganz Hamburg hasst die Polizei". Gegen zwei Uhr war es auch hier vorbei.

Seit Donnerstag wurden mehr als 200 Beamte verletzt

Sechs Stunden später verneint ein Polizeisprecher, die Beamten hätten zu spät reagiert. "Wenn das eine Sitzblockade gewesen wäre, hätten wir die sofort weggeräumt. Aber auf den Dächern standen Leute. Es bestand die Gefahr, dass sie Gehwegplatten werfen." Die Polizei habe sich, das sagt er mehrmals, auf den Einsatz im Schulterblatt vorbereiten müssen. Und er wertet es als Erfolg, dass zumindest nach bisherigen Erkenntnissen nur 17 Beamte verletzt wurden. Insgesamt seien es seit Donnerstag allerdings bereits 213.

Was sagen die Autonomen zur Hardcore- Randale? In der Nacht meinte ein junges, vermummtes Pärchen aus Hamburg, Barrikaden zu bauen sei richtig, "aber Autos von Nachbarn anzünden ist Scheiße". Den beiden Jungautonomen waren manche ihrer Kampfgefährten unheimlich. "Einige unserer Kollegen sind krasser drauf als wir", sagte der Kapuzenmann. Er ließ aber offen, ob er die ebenfalls anwesenden Autonomen aus dem Bundesgebiet und dem Ausland meinte. Ein junger Norweger, extra für die Proteste gegen den G20-Gipfel angereist, sagte dem Tagesspiegel, so ein Krawall müsse eben manchmal sein.

Ein kleiner Junge bedankt sich am Samstag bei Polizisten mit Blumen.
Ein kleiner Junge bedankt sich am Samstag bei Polizisten mit Blumen.

© AFP

Samstagmorgen, Anruf bei Andreas Blechschmidt, einem der Wortführer der Szene und Anmelder der Demo "Welcome to Hell", die am Donnerstag vom Fischmarkt loszog und von der Polizei rasch gestoppt wurde. Grundsätzlich sei der Freitag "mit den Blockaden gegen den G20-Gipfel ein erfolgreicher Tag" gewesen, sagt er. Und "in der Schanze", wie das Schulterblatt in St. Pauli auch genannt wird, habe es "bis 21.30 Uhr eine normale Situation" gegeben. Normale Situation? Da war bereits die Hölle los. Für Blechschmidt jedoch erst später. "Wir bekamen dann in der Flora das Gefühl, dass die Situation kippt." Barrikaden seien in einem Ausmaß gebaut und angezündet worden, "dass die gefährlich waren". Und eine kleine Drogerie zu plündern "geht gar nicht".

Junge Leute helfen Stadtreinigung

Blechschmidt sorgt sich offenbar um das weitere Zusammenleben von Roter Flora und den Menschen im Kiez. "Wir haben uns distanziert", sagt er und meint damit den Krawall nach 21 Uhr 30. Aber er äußert auch Verständnis für die Explosion der Gewalt. "Das restriktive Verhalten der Hamburger Polizei in dieser Woche hat eine gewisse Rolle gespielt." Das rechtfertige aber nicht, "das ganze Schanzenviertel auseinanderzunehmen".

Die Autonomen geraten offenbar in die Defensive. Ein Indiz: Bei den Aufräumarbeiten helfen junge Leute den Männern der Stadtreinigung. Eine Frau fegt mit einem breiten Besen Schutt vom Gehweg im Schulterblatt. "Die Hamburger sollten lautstark gegen den schwarzen Block anschreien", sagt sie, "ich habe das gestern auch zweimal gemacht." Eine Gruppe Autonomer "mit einer Rieseneisenstange ist dann erst mal weggegangen". Warum ist die Frau nach wenigen Stunden Schlaf schon wieder auf den Beinen? "Weil das meine Stadt ist." Und die "typische Hamburger Gelassenheit geht mir nur noch auf den Sack".

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