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Tristesse und Armut herrschen in der geteilten Stadt Mitrovica wie im ganzen Kosovo.

© Armend Nimani/AFP

Kosovo feiert zehn Jahre Unabhängigkeit: Sehr jung und trotzdem korrupt

Zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo haben Kosovaren und Serben heute mehr gemeinsam, als sie voneinander denken.

Manchmal sind Rivalen sich ähnlicher, als sie sich eingestehen wollen. Wer dieser Tage unter jungen Leuten in der kosovarischen Hauptstadt Pristina herumfragt, was die 2008 gewonnene Unabhängigkeit ihnen gebracht habe, bekommt oft Antworten wie: „Unabhängig? Ein guter Job würde mich unabhängig machen!“ In Belgrad, also der Hauptstadt des Landes, das vor allem laut serbischen Patrioten mit dem Kosovo „sein Herz“ verloren habe, sagen sie: „Wir brauchen keine alten Konflikte. Wir brauchen eine Perspektive.“

Am 17. Februar feiert der Kosovo Geburtstag, gleich in doppelter Hinsicht der jüngste Staat: Er existiert erst seit einer Dekade und hat die jüngste Bevölkerung Europas. Trotzdem würden nur die größten Optimisten seine Probleme als Kinderkrankheiten abtun. Alleine die Monate vor dem Jubiläum hatten es in sich.

Im Dezember erreichten die Beziehungen zwischen Pristina auf der einen sowie  Brüssel und Washington auf der anderen Seite einen neuen Tiefpunkt. Da versuchte die kosovarische Regierung, dem Sondergericht für Kriegsverbrechen der einstigen kosovo-albanischen UCK-Milizen die juristische Grundlage zu entziehen. Der Versuch scheiterte zwar, aber ein neuer könnte folgen, gegen sehr deutlich geäußerten Widerspruch des Westens. Zur UCK-Spitze gehörte früher neben dem heutigen kosovarischen Präsidenten Hashim Thaci auch Premier Ramush Haradinaj.

Die tödlichen Schüsse auf Ivanovic beendeten jäh den Dialog

Diese Kontroverse hielt Haradinaj aber nicht davon ab, seine Landsleute und Wähler zu verärgern, indem er mit seiner Familie luxuriös Neujahr in der Schweiz  feierte. Die „Neue Zürcher Zeitung“ schätzt, dass der Urlaub etwa 70.000 Euro gekostet hat. Haradinaj verdient offiziell 2.600 Euro im Monat.

Mitte Januar wurde mit Oliver Ivanovic der bekannteste Vertreter der kosovarischen Serben im nordkosovarischen Mitrovica auf offener Straße erschossen. Ivanovic galt als moderat, das Attentat auf ihn geschah kurz vor einer Wiederaufnahme des lange ausgesetzten Dialogs zwischen Belgrad und Pristina. Der Dialog war jäh vorbei.

So verschieden diese drei Ereignisse sind, so erklären sie doch alle das harsche Urteil, das der Politanalyst Nexhmedin Spahiu über seine Heimat fällt: „Im Kosovo gibt es kein gesellschaftliches Wertesystem mehr. Die gesamte politische Klasse ist korrupt.“ Spahiu ist ein Urgestein seiner Zunft, er hat unter anderem an der Universität Hamburg gelehrt. Sein bitteres Fazit zieht er aber in seinem Büro in Mitrovica, jener zwischen Serben und Kosovaren geteilten Stadt, die zum Symbol des ungelösten Konfliktes geworden ist.

Kritik an Europa wegen seiner unkritischen Zusammenarbeit mit dem Kosovo und Serbien

An den Bürowänden hängen Fotos in billigen Holzrahmen. Sie zeigen Spahiu mit wichtigen Vertretern der internationalen Gemeinschaft. Auch an denen lässt er kein gutes Haar: „Gemessen an den Finanzmitteln und der Dauer des Einsatzes, ist das bisherige Ergebnis eine herbe Enttäuschung.“ Die Europäer würden mit den korrupten Kosovaren zusammenarbeiten und gleichzeitig zu wenig Druck auf die sture serbische Regierung ausüben – und damit die Probleme weiter vergrößern.

Den zahlreichen Kennziffern für Lebensqualität nach geht es in Europa nur den Menschen in Moldawien noch schlechter als denen im Kosovo. Seit 1991 haben etwa eine Million Menschen das Land verlassen, bei aktuell etwa 1,8 Millionen Einwohnern. Die Hälfte der Jungen hat keinen Job. Wer aber durch die Innenstadt Pristinas geht, wähnt sich in einer gewöhnlichen europäischen Großstadt. Hippe Bars und Stau überall, Presslufthämmer rattern im Takt. Allerdings gehören die gut sichtbaren protzigen Neubauten vor allem Kosovo-Albanern aus dem Ausland, erzählen die Leute. Und spätestens am Stadtrand bestimmen halbfertige Häuser und wilde Hunde das Bild.

Dori Basha, 35, ist eine von denen, die geblieben sind. In einem Café erklärt die Werbetexterin das Dilemma: „Alles läuft über Beziehungen. Wenn du nicht zu einer Partei gehörst, oder dein Vater die richtigen Leute kennt, dann hast du praktisch keine Chance.“ Sie selbst hätte nach dem Studium erst einmal bei einer westlichen Nichtregierungsorganisation gearbeitet. „Die wirtschaftliche Lage ist hier aber nur das offensichtliche Problem“, sagt sie. „Solange die Kriegsverbrechen nicht aufgearbeitet sind, wird es keine Aussöhnung zwischen Serben und Albanern geben.“

Vucic will eine Neubesinnung der Serben - ohne mythische Verklärung des Kosovo

Auch in Belgrad wird an jeder Straßenecke gebaut, wenn auch nicht von der serbischen Diaspora. Aleksandar Vucic, Präsident Serbiens und geläuterter Radikaler, gestaltet die Hauptstadt um. Auf dem zentralen Slavija-Platz wurde die Büste eines der letzten sozialistischen Volkshelden entfernt und durch einen bunt leuchtenden Springbrunnen ersetzt. Belgrad will eine westliche Metropole sein und da passt der morbide Charme des Sozialismus nicht ins Bild.

Vucic hat kürzlich zu einem „inneren Dialog“ aufgerufen, sogar eine Volksabstimmung über die Neuregelung der Beziehungen zum Kosovo steht im Raum. Die Serben müssten ihre „mythisch verklärte Haltung“ in Bezug auf die ehemalige Provinz ablegen und sich mit der Realität abfinden. Ob Vucic die Bevölkerung gar auf eine wie auch immer geartete Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovos vorbereiten will, die implizit von der EU zur Bedingung für den Beitritt Serbiens gemacht wird, ist aber ungewiss. Denn die Nationalisten sind stark und wichtige gesellschaftliche Akteure wie die serbisch-orthodoxe Kirche sind dagegen.

In der Tat sehen sogar auch manche liberal gesinnte Serben eine mögliche Anerkennung mit gemischten Gefühlen. Minja Bogavac, die in Belgrad als Dramaturgin arbeitet, erklärt: „Unter Milosevic sind wir alle in einer hypernationalistischen Atmosphäre aufgewachsen. Wir wurden überall mit dem Kosovo-Mythos bombardiert. 2008 dachte ich dann, dass die kosovo-albanische Jugend in eine glänzende Zukunft voranschreitet, während wir Serben auf dem Abstellgleis der Geschichte stehen.“ Heute, zehn Jahre und viele Besuche im Kosovo später, sieht sie die Sache pragmatisch: „Meiner Ansicht nach wäre es in unserem Interesse, dass wir den Kosovo anerkennen, dann wäre es viel leichter, sich für unsere Interessen einzusetzen, im Kosovo und bei der EU.“ Als Schritt aufeinander zu würde sie es begrüßen, wenn „möglichst viele Serben auch Albanisch lernen“. Das freilich bleibt bisher hehres Wunschdenken.

Das albanische Dessert löst im Restaurant einen Zwischenfall aus

Die Realität sorgt dagegen für skurrile Blüten. Der Kampf um den Kosovo wird sogar in den Küchen Belgrads geführt. Das Restaurant „Pavle Korcagin“ serviert Essen aus den 52 Staaten, die den Kosovo nicht anerkennen, darunter die EU-Mitglieder Spanien und Griechenland sowie die UN-Vetomächte Russland und China. Im Restaurant Reset gab es dagegen zuletzt einen Disput, weil „ein Gast eine Szene gemacht hat, da wir auch ein albanisches Dessert servieren, Trilece, ein Kuchen, der mit drei Sorten Milch getränkt ist“, wie der Koch Dragan Ilic erklärt. „Und das 2018, mitten in Belgrad! Die Leute brauchen endlich Perspektiven, sonst drehen sie noch alle durch!“

Dušan Reljić, Südosteuropaexperte der „Stiftung Wissenschaft und Politik“, hält die sozioökonomische Situation im Kosovo für „schlimmer als vor zehn Jahren“. Das Wirtschaftswachstum beruhe vor allem auf Überweisungen der Ausgewanderten, die Situation sei „weder wirtschaftlich noch politisch stabil“. Deshalb würden die Kosovo-Albaner schon heute massenhaft „mit den Füßen“ gegen ihren Staat stimmen, indem sie mit allen Mitteln versuchen, sich ins Ausland abzusetzen. Etwa sieben Prozent der albanischen Bevölkerung Kosovos ist in den letzten Jahren allein nach Deutschland ausgewandert. Wichtig wäre es seiner Ansicht nach, die „zirkulare Migration“ zu ermöglichen. So sollen Menschen, die im Kosovo leben, visumfrei Arbeit in den Westen suchen – und mit Know-How im Gepäck leichter wieder zurückkommen dürfen.

Die Menschen in Serbien wie Kosovo eint, dass sich schnell etwas ändern soll

Falls nichts passiere, drohe entweder weiteres „langsames Dahinsiechen“ – oder gar politische Radikalisierung, möglicherweise unter einer „großalbanischen“ Fahne. Reljić verweist darauf, dass der kosovarische Premier Haradinaj kürzlich die albanische Staatsbürgerschaft verliehen bekommen habe. „Dass ein Premierminister Bürger eines anderen Staates wird, ist in Europa schon sehr ungewöhnlich.“

Gewaltig scheint der Widerspruch zwischen dem Wunsch der Menschen in Serbien ebenso wie im Kosovo, dass sich wirtschaftlich sowie gesellschaftlich zügig etwas tut – und den aus Brüssel angedeuteten Perspektiven. Der Kosovo wird nur als „potentieller Beitrittskandidat“ bewertet. Serbien sei zwar deutlich weiter, wie die Kommission in ihrem gerade erneuerten Strategiepapier zur Erweiterung festgestellt hat. Aber eine Mitgliedschaft wäre selbst im allerbesten Fall erst 2025 drin.

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