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Letzte Vorbereitungen für die konstituierende Sitzung des Bundestages.

© imago/Metodi Popow

Konstituierende Sitzung am Dienstag: Der Bundestag muss Signale des Aufbruchs senden

Die AfD wird in der kommenden Legislaturperiode eine Herausforderung. Aber nicht die einzige. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Politik braucht Helden. Sagt Emmanuel Macron, Frankreichs Staatspräsident, aber das tut nichts zur Sache. Oder sagen wir so: Dass er es sagt, ändert nichts an der Tatsache. Politik braucht Helden des Alltags, jeden Tag. Warum das gerade jetzt hierzulande ein Thema sein soll? Weil sich der nächste Deutsche Bundestag konstituiert, und weil mit jeder Konstituierung auch immer Signale des Aufbruchs verbunden sein sollten.

Im vorliegenden Fall gilt das ganz besonders. 709 Abgeordnete, so viele wie nie, mussten im Reichsbundestagsgebäude Platz finden. Platz finden ist sogar ganz wörtlich gemeint, wo doch nur schon die zusätzliche Bestuhlung und die Platzierung der Fraktionen ein politischer Akt war. Wo soll die Alternative für Deutschland sitzen? Als wäre das die wichtigste Frage. Sie ist beantwortet, außen, aber ganz gleich, wo sie gelandet wäre: Die AfD ist gewählt. Sie hat ihren Platz im Bundestag garantiert, für vier Jahre. Damit gilt es umzugehen.

Sacharbeit ist Pflicht

Was die erste, aber nicht die einzige Herausforderung ist. Die AfD zieht ein als Protestpartei; Protest gegen die Verhältnisse, wie sie sie beschreibt, hat die Partei stark gemacht. Ihr nun zusätzlich den Protest im Parlament zu ermöglichen, und zwar wegen geringschätziger Behandlung, hieße, ihr die Opferrolle zu geben. Das darf ihr keiner gestatten, der es gut mit dem Parlamentarismus meint. Allerdings müssen sich alle anderen daran halten. Das wird die Nerven in einer Weise beanspruchen, wie es viele im sogenannten Hohen Haus noch nicht erlebt haben. Es wartet eine harte Zeit. Den Ton zu halten; sich nicht auf Kabale und Hiebe einzulassen; allen Machenschaften entgegenzutreten; penible, präzise Sacharbeit unter allen Umständen voranzustellen – das ist Pflicht.

Rechte haben die Abgeordneten aber auch. Keiner ist Vasall. Danach zu handeln, ist schwer. Es hat sich eingebürgert, das Selbstbewusstsein der Fraktionen und des einzelnen Mitglieds nicht zu fördern. Im Gegenteil, wie oft hören Volksvertreter – wohlgemerkt: Vertreter des Wahlvolks, des Souveräns – bei der Vertretung ihrer Anliegen, dass sie Partikularinteressen über das große Ganze stellen? Disziplinierung findet statt, Fraktionsdisziplin wird zu einem hohen Wert, manchmal dem obersten. In dieser Legislaturperiode muss das (wieder) anders werden. Das gehört zum lastenden Erbe der vergangenen vier Jahre.

Demokratie ist, wenn man sie praktiziert. Innerparteiliche oder innerfraktionelle ist davon nicht ausgenommen. Damit ist nicht gemeint, nur das Eigene für wichtig zu halten, wenn die Mehrheit gute Argumente hat. Doch Widerspruch fordert dazu heraus, eine noch bessere Lösung zu suchen und einen noch besseren Kompromiss zu finden, ohne den Koalitionen nicht funktionieren. Das ist für keinen zum Schaden, auch nicht für diejenigen in der Exekutive, vulgo Regierung.

Ein bisschen Demut tut gut

Zumal die Regierung dann (wieder) lernt, dass sich ein Parlament sehr wohl eine neue Exekutive wählen könnte, nicht aber umgekehrt. Und die Exekutive schon gar nicht ein neues Volk. Ein bisschen Demut tut den Regierenden in jedem Fall gut. Die lassen sie dann vermissen, wenn sie sich sicher sein können, dass doch alle ihr Haupt neigen und ihr Knie beugen werden, wenn die Herrschaft es verlangt. Kanzlerthrone aber gibt es nicht.

Und auch keine Gewähr auf Wiederwahl. Den Abgeordneten ist deshalb nicht zuletzt aufgetragen, über sich selbst hinaus zu denken. Eine Reform, die ihre Zahl reduziert, sie auf 630 begrenzt, ist in der vergangenen Legislaturperiode gescheitert. Jetzt sollte der neue Bundestag diese Herausforderung annehmen. Denn es gibt etwas, das größer ist als die eigene Amtszeit als Parlamentarier. Nachruhm ist kein guter Antrieb. Viel eher ist es heldenhaft, Veränderungen zum Besseren anzugehen. Und zum Helden wird, wer sie auch durchsetzt. Die Abgeordneten des 19. Deutschen Bundestags haben die Wahl.

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