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Extremisten haben eine russische Suchoi mithhilfe einer Flugabwehrrakete zerstört. Moskau macht Washington für den Verlust des Piloten mitveranwortlich.

© Omar Haj Kadour/AFP

Konfliktregion: Großmächte sind in Nordsyrien im Angriffsmodus

Russland fliegt nach dem Abschuss eines Kampfjets Vergeltungsangriffe, die Türkei warnt Amerika – in Nordsyrien droht eine massive Konfrontation.

Die Reaktion kam prompt. Unmittelbar nach dem Abschuss eines ihrer Kampfflugzeuge über Nordsyrien und dem Tod des Piloten attackierte Russlands Armee Stellungen der Aufständischen. Berichten zufolge gab es heftige Luftschläge gegen mehrere Ziele in der Provinz Idlib.

Dabei wurde auch der Ort attackiert, von dem aus Kämpfer der Dschihadistenmiliz Hayat Tahrir al Scham eine Flugabwehrrakete auf den Suchoi-Bomber abgefeuert haben sollen. Mehr als 30 Terroristen seien durch „Hochpräzisionswaffen vernichtet“ worden, teilte das Verteidigungsministerium mit.

Dass die Vergeltung so heftig ausfällt, kommt nicht von ungefähr. Der Zorn in Moskau über den Verlust des „heldenhaften“ Majors ist ebenso groß wie die Verunsicherung. Denn zum ersten Mal wurde ein russischer Jet offenbar mit Hilfe eines schultergestützten, also mobilen Flugabwehrsystems vom Himmel geholt. Was für Russland, das über Syrien die Lufthoheit besitzt, eine neue Form der Bedrohung darstellt.

Woher stammen die Flugabwehrraketen?

Denn die sogenannten Manpads besitzen eine Reichweite von mehreren Kilometern. Deshalb haben die Piloten jetzt den Befehl bekommen, über dem Kriegsgebiet in einer Höhe von mindestens 5000 Metern zu fliegen, um vor einem Beschuss geschützt zu sein, berichtet die Zeitung „Iswestia“. Allerdings ist nach wie vor unklar, aus welchen Arsenalen diese Militärtechnik stammt.

Die Führung in Moskau hat allerdings bereits den Schuldigen ausgemacht – die USA. Aus deren Beständen soll die Boden-Luft-Rakete stammen. Doch die amerikanische Regierung weist die Anschuldigung vehement zurück. Man habe die Opposition in Syrien nicht mit derartigen Waffen aufgerüstet, teilte das Außenministerium in Washington mit.

In der Tat hatte es der damalige Präsident Barack Obama immer wieder abgelehnt, den Gegnern von Machthaber Baschar al Assad Flugabwehrsysteme zur Verfügung zu stellen. Obamas Nachfolger Donald Trump verzichtet nach eigenem Bekunden sogar auf jede Art Unterstützung für die Feinde des syrischen Regimes und konzentriert sich allein auf den Kampf gegen den „Islamischen Staat“.

Dennoch ist es nicht völlig auszuschließen, dass Flugabwehrsysteme amerikanischer Bauart in die Hände der Aufständischen geraten sind. Die Golfstaaten als Abnehmer von US-Rüstungsgütern sollen in den vergangenen Jahren mehrfach derartige Waffen an sunnitische Extremisten geliefert haben, um ihnen so im Krieg gegen Assad zu helfen.

Riss zwischen den Nato-Partnern

Auch Syriens Herrscher selbst kommt indirekt als Verantwortlicher infrage. Denn bereits vor einigen Jahren brüsteten sich Rebellengruppen mit Manpads, die aus den Depots der syrischen Armee stammten. Und die wiederum dürften vermutlich Teil einer jahrelangen Moskauer Waffenhilfe gewesen sein. Träfe dies zu, wäre somit der Suchoi-Bomber pikanterweise letztendlich von einer russischen Waffe abgeschossen worden.

So unklar die Antwort auf die Frage nach der Herkunft der Flugabwehrrakete bisher sein mag, so klar ist, dass die Situation in Nordsyrien mehr und mehr eskaliert. Das gilt auch für den Streit zwischen der Türkei und den USA in der Region. Der Riss zwischen den Nato-Verbündeten wird immer größer.

Die regierungsnahe türkische Presse gibt den Amerikanern die Schuld am Tod von fünf Soldaten, deren Leopard-Panzer am Wochenende bei der türkischen Intervention im syrischen Afrin von einer Rakete der kurdisch-syrischen Miliz YPG getroffen worden war. Das Geschoss soll aus amerikanischen Waffenlieferungen an die YPG stammen. Nach einem Bericht der Tageszeitung „Yeni Safak“ wurden zudem im Norden Syriens mehrere Lastwagen mit Waffen-Nachschub für die Kurden von der YPG gestoppt.

Auf Russlands Wohlwollen angewiesen

Bemerkenswert an den Vorwürfen ist die Tatsache, dass mehrere türkische Medien melden, der Panzer sei von einer Panzerfaust des russischen Typs „Konkurs“ zerstört worden. Trotz dieses Verdachts gab es in der regierungsnahen türkischen Presse am Montag keinerlei Vorwürfe gegen Moskau – wohl aber heftige Attacken gegen Washington. Diese Rücksichtnahme könnte daran liegen, dass die Türkei bei ihrer derzeitigen Syrien-Intervention auf die Zustimmung Russlands angewiesen ist.

Die YPG wird von der Türkei als Terrororganisation und syrischer Ableger der kurdischen PKK bekämpft, spielt jedoch in der Syrien-Strategie der USA eine Schlüsselrolle. Washington betrachtet die Kurdenmiliz als schlagkräftigsten Partner im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) und als Kern einer künftigen, 30000 Mann starken Schutztruppe, die vom IS befreite Gebiete sichern soll. Diese neue Truppe und die dort stationierten 2000 US-Soldaten sollen darüber hinaus die Machterweiterung des Iran in Syrien stoppen.

In Manbidsch, rund 100 Kilometer östlich vom heftig umkämpften Afrin entfernt, könnten die beiden Nato-Verbündeten sogar bald aneinander geraten. Ankara will die YPG nämlich auch aus Manbidsch vertreiben und fordert den Abzug der dort stationierten amerikanischen Soldaten. Washington lehnt dies jedoch ab.

Erdogans Kalkül

Noch sei genug Zeit, um eine direkte Konfrontation zu vermeiden, sagte Robert Pearson, ein früherer US-Botschafter in der Türkei, dem Tagesspiegel. Doch sollten Soldaten der Türkei oder den USA durch Beschuss der jeweils anderen Seite ums Leben kommen, sei es zu spät, so Pearson, der für das Middle East Institute in Washington arbeitet.

In Amerika wird der Grund für die wachsenden Spannungen in wahltaktischen Überlegungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gesehen. Vor Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr will Erdogan demnach die nationalistische Stimmung im Land anheizen. Inzwischen machen Spekulationen die Runde, wonach Erdogan die Wahlen auf diesen Sommer vorziehen könnte, um die erhofften Stimmenzugewinne zu maximieren.

Selbst wenn eine direkte Konfrontation in Syrien vermieden werden kann, sollten die USA über eine Neubewertung ihres Verhältnisses zur Türkei nachdenken, sagt Tally Helfont, Nahost-Expertin an der Denkfabrik Foreign Policy Research Institute in Philadelphia. Letztendlich basierten enge Beziehungen zwischen zwei Staaten auf gemeinsamen Interessen und gemeinsamen Bedrohungs-Szenarien. Da lägen Washington und Ankara weit auseinander.

Verbreiteter Anti-Amerikanismus

Eine dauerhafte Kluft zwischen beiden Ländern würde die Nato erschüttern, die Türkei weiter vom Westen entfernen und den Einfluss Russlands auf Ankara vergrößern. Zumindest kurzfristig erscheint eine Wiederannäherung unwahrscheinlich. So hat der von der Regierung angeheizte Anti-Amerikanismus in der Türkei solche Ausmaße erreicht, dass eine rasche Kehrtwende für Erdogan ohne Glaubwürdigkeitsverlust nur schwer zu bewerkstelligen wäre.

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