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Aufgekratzt, gereizt: Warum ist die Stimmung im öffentlichen Raum (hier an der S-Bahnstation Warschauer Straße) oft so nah an der Gewalt?

© Kai-Uwe Heinrich

Kolumne: Einträge ins Logbuch: Politische Gewalt in der U-Bahn

Woher kommt die Gewalt im öffentlichen Raum? Es liegt nicht am Behördenversagen, schreibt Deniz Utlu in seiner Kolumne. Und ist dennoch politisch.

Der Verkehr kondensiert die Ungeduld. In U-Bahnhöfen und S-Bahnen, in allen Fahrzeugen verdichtet sich die Gewalt. Wenn nicht die Gewalt, dann die Bereitschaft dazu. Wenn nicht die Bereitschaft, dann die Atmosphäre. Das ist nicht immer der Fall, aber immer scheint es möglich. Eine Gruppe Jugendlicher, die sich sechs Stationen lang lauthals unterhält. Ein Verkäufer von Straßenzeitungen, frustriert, weil niemand kauft. Ein Mann, der sich aufregt über die Akkordeonspieler. Solidarische Blicke, die sich die Gereizten zuwerfen. Jemand brüllt. Das Schmunzeln der Unbetroffenen. Zeigt uns der öffentliche Raum, wie wenig häuslich wir uns eingerichtet haben in unseren Städten?

Die Art, wie eine Stadt gebaut ist, kann zeigen, ob hier jemand an die Menschen denkt - oder sie vergessen hat

Auf einer Reise hat mir einmal jemand gesagt, dass ich an der Höhe der Bordsteinkanten den Entwicklungsgrad eines Landes, einer Stadt erkennen könne. Der Mann wedelte mit der Faust, während er zu unserer Gruppe sprach. Diese Stadt, sagte er, hat die höchsten Bordsteinkanten der Welt, man will sie rausreißen und den Stadtverwaltern ins Gesicht rammen. Am nächsten Tag fiel mir auf, dass die Bürgersteige tatsächlich viel höher lagen als die Straßen. Ich sah einen alten Mann, der auf die Straße fiel. Er stand auf, als wäre ihm das nicht zum ersten Mal passiert. Dann sah ich eine Frau, die ihre Kinder einzeln von der Straße aufs Trottoir hob. Mir wurde klar, niemand denkt hier an die Menschen.

Deniz Utlu ist Schriftsteller. Seiner erster Roman "Die Ungehaltenen" ist bei Graf erschienen. Für den Tagesspiegel schreibt er seit Juni 2017 im wöchentlichen Wechsel mit Pascale Hugues eine Kolumne.
Deniz Utlu ist Schriftsteller. Seiner erster Roman "Die Ungehaltenen" ist bei Graf erschienen. Für den Tagesspiegel schreibt er seit Juni 2017 im wöchentlichen Wechsel mit Pascale Hugues eine Kolumne.

© Kitty Kleist-Heinrich

In Berlin sind die Bürgersteige nicht hoch. Außerdem haben sie Vertiefungen, um das Überqueren der Straße zu erleichtern. Aber da ist diese Gereiztheit im öffentlichen Raum. Da sind diese Videos von Jugendlichen, die jemanden die Stufen der Bahnstation hinuntertreten. Da sind diese Nachrichten: ein alter Mann, der einen Zwanzigjährigen in der Bahn angreift. Der S-Bahn-Verkehr, der zusammenbricht, weil jemand in den Gleisen liegt. Die Infrastruktur funktioniert meist. Über das bisschen Verkehr auf der Potsdamer Straße zum Feierabend freue ich mich, weil ich Freunden aus Mexico City dann beweisen kann, dass auch ich Großstadt zu bieten habe. Es ist etwas anderes und hat wenig mit dem Scheitern der Behörden zu tun. Mit dem Scheitern der Politik?

Die Art, wie wir einander begegnen, was uns frustriert, vor allem, wenn es strukturelle Gründe hat, ist politisch. Die Ungeduld und Gereiztheit hat etwas mit Stereotypen zu tun gegenüber alten Menschen, gegenüber Jugendlichen, etwas mit rassistischem Sehen, mit Sexismus, mit einem Gefühl, zurückgelassen worden zu sein. Die Gewalt ist vielleicht eine Potenzierung dessen. Meistens ist es ja nicht die rohe Gewalt, sondern die Nähe zu ihr, das Wissen, dass sie da ist in den Köpfen, in den Nachrichten, irgendwo da draußen – ein Schnaufen, ein Belächeln, ein herablassender Blick.

"Haben Sie mich gerade gestoßen?" "Ja, das habe ich getan."

Vor einigen Tagen stieß mich jemand mit den Ellenbogen in die Seite. Ich schaute den Mann an, der neben mir saß, aber der guckte vor sich hin. Ich dachte an den Roman „Ellbogen“ von Fatma Aydemir, in dem ein Mädchen im U-Bahnhof gewalttätig wird. „Entschuldigen Sie“, sagte ich, „haben Sie mich eben tatsächlich mit dem Ellenbogen gestoßen?“ Er antwortete: „Ja, das habe ich getan.“ Als ich ihn fragte weshalb, sagte er, ich würde meiner Umgebung gegenüber nicht aufmerksam genug sein. Ich fragte ihn, weshalb er mich denn nicht angesprochen habe. Das hätte er getan, nicht mit Worten – mit seinem Blick, sagte er. Er trug eine Sonnenbrille.

Ich weiß nicht, ob die Höhe der Bordsteinkanten mit dem Entwicklungsniveau der Städte korreliert, aber die Ungeduld in den U-Bahnhöfen sagt etwas aus: über unseren Zugang zum Anderen und zu uns selbst.

Deniz Utlu

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