zum Hauptinhalt
Nach den Anschlägen in Paris gab es eine Razzia im Brüsseler Bezirk Molenbeek.

© dpa

Islamismus in Belgien: "Molenbeek ist harmlos im Vergleich zu anderen Orten"

Dyab Abou Jahjah kam als Flüchtling nach Belgien. Der Schriftsteller sagt im Interview, dass Molenbeek zu Unrecht als "Hauptstadt des Terrors" bezeichnet wird. Und er erklärt, warum sich in Belgien relativ viele Muslime radikalisieren.

Herr Abou Jahjah, nach dem Terror in Paris führen viele Spuren der Attentäter nach Molenbeek. Was läuft dort schief?

So einiges. Ich will aber betonen, dass es verkürzt ist, nun auf Molenbeek mit dem Finger zu zeigen. Molenbeek hat sehr viele Probleme: Armut, Ausgrenzung, kriminelle Banden. Aber auch sehr viele positive, schöne Seiten. Ich gehe zum Beispiel sehr gerne dort einkaufen. Auf dem Markt bekommt man alles, was man will. Meine Frau und ich überlegen, ein Haus zu kaufen. Wir wollen nach Molenbeek ziehen.

Aber nicht nur belgische Medien schreiben, dass Molenbeek die „Hauptstadt des europäischen Terrors“ sei.

Das ist fatal und gefährlich. Molenbeek hat das Profil wie jedes andere Migrantenviertel in Europa. Der Rest der Gesellschaft hat Angst, wenn in Molenbeek viele Muslime und verschleierte Frauen herumlaufen. Dabei haben diese Menschen keine Wahl, sie bekommen anderswo keine Wohnung, werden ausgeschlossen. Molenbeek ist kein Ghetto, man kann da rein. Einige Banlieues von Paris sind da viel stärker vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten.  

Wie viele radikale Dschihadisten, schätzen sie, gibt es in Molenbeek.

Das kann man nicht genau sagen. Allerdings ist bekannt, dass aus Molenbeek rund 40 Menschen nach Syrien gereist sind, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen. In Molenbeek leben 100.000 Menschen. Das muss man in Relation setzen. Außerdem gibt es in Belgien problematischere Orte. Vor allem in Flandern ist es viel schlimmer.

Zum Beispiel.

In Antwerpen – und die Stadt ist viel kleiner als das sowieso kleine Brüssel – hat 100 Dschihadisten hervorgebracht. Die Stadt Vilovoorde ist noch kleiner und dort fühlen sich Radikale eher aufgehoben.

Was läuft falsch in Flandern?

Wenn Du junger Moslem in Flandern bist, ist die Chance sehr hoch, dass Du frühzeitig die Schule verlässt. Dann bist Du auf der Straße. Die Polizisten nennen Dich auf Flämisch konsequent „Makak“ oder „Hond“. Sie kontrollieren dich bei jeder Gelegenheit auf der Straße. Du bekommst keinen Job. Und einige von diesen Gestalten, wenn sie dann 17 oder 18 Jahre alt sind, werden zu leichter Beute für Hassprediger und IS-Rekrutierungsprogramme.

Und warum fühlt sich die Personalabteilung des IS so wohl dort?

Mir erscheint hier ein Vergleich sehr wertvoll. In den Niederlanden, mit 16,5 Millionen Einwohnern, haben sich etwas mehr als 160 Islamisten radikalisiert. In Belgien mit seinen 11 Millionen Einwohnern mehr als 400. Der flämische Rassismus, der auch ganz oben bei den Entscheidungsträgern grassiert, trifft auf die Perspektivlosigkeit junger Muslime und deren Identitätskrise. Dann kommt ein IS-Sympathisant um die Ecke und bietet Dir eine leichte Lösung an. Einige wenige greifen da zu. Belgien pflegt darüber hinaus sehr gute Beziehungen zu Saudi-Arabien. Keinem saudischen Prediger wird das Visum verweigert, die kommen dann hierher und verbreiten ihren Wahabismus. Von dort aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zum IS.

Wie reagieren Muslime in Belgien auf die Attentate in Paris und nun die Anti-Terror-Maßnahmen in Molenbeek?

Erstens lege ich wert darauf, dass wir die Attentäter nicht Muslime nennen. Die Terroristen geben an, dass sie sich zum Islam bekennen. Und der Islam ist eine sehr vielfältige Religion. Dazu gehört auch, dass eine kleine Zahl an Muslimen Gewalt anwendet. Die deutliche Mehrheit, ja fast alle Muslime haben Angst. Wenn jemand mehrfach von dieser Gewalt betroffen ist, dann sind es Muslime. Sie können selbst ganz leicht sterben. Diese Terroristen töten wahllos Menschen auf der Straße. Dann werden Muslime von rechten Parteien angegriffen, von Rechtsradikalen nicht nur verbal. Eine weitere Bedrohung für Leib und Leben. Die Polizei nimmt Muslime und Menschen mit schwarzen Haaren und dunkler Hautfarbe ins Visier. Weil die Polizei natürlich weiß, wie ein Terrorist so aussieht. Und dann müssen sich Muslime noch rechtfertigen, sich entschuldigen, distanzieren. Wenn sie schweigen, sympathisieren sie für viele automatisch mit dem Terror. Das ist alles so verrückt. Ich möchte in diesen Tagen keine Frau mit Kopftuch in Belgien oder Frankreich sein.

François Hollande hat dem Terror den Krieg erklärt.

Das ist genau das richtige Wort. Frankreich bombardiert Stellungen des IS in Syrien. Der IS greift in Paris französische Bürger an. Ich nenne es auch Krieg.

Was macht dieser Krieg mit ihnen ganz persönlich?

Ich muss viele Interviews geben. Journalisten reden mit mir – nur wenn es Gewalt gibt. Sie kommen nach Molenbeek – nur wenn sich ein Terrorist dort verschanzt hat. Und dann gibt es da auch die ganz persönlichen Geschichten. Die Eltern meiner Frau sind aus Marokko nach Belgien gekommen. Sie ist hier aufgewachsen und erzählt mir Geschichten, da sträuben sich mir die Haare. Überall wirst du schräg angeschaut und behandelt, wegen deiner Hautfarbe, wegen deines Namens. Rassismus und Radikalisierung hängen für mich zusammen. Ein Weggefährte von mir driftete zum Beispiel ab. Zunächst wollten wir uns gemeinsam für die Gleichstellung aller Menschen in Belgien einsetzen. Eines Tages sagte er zu mir, dass er sich so fühlt, als würde er gegen Mauern rennen. „Dyab, sie werden uns nie akzeptieren, sie werden uns immer diskriminieren“, waren seine Worte. Ein paar Jahre später hat er die radikale Gruppe „Scharia für Belgien“ gegründet. Du lässt dein ganzes Leben die rassistische Scheiße auf dich prasseln, dann kommt ein Moment in dem Du es nicht mehr erträgst. Ganz wenige Muslime wählen dann den falschen Weg. Wir müssen aus diesem Dilemma irgendwie ausbrechen.

Was können Muslime, was kann die Community dagegen tun?

In Belgien, und auch in Molenbeek, sind die meisten Muslime marokkanischer Abstammung. Ich glaube ganz fest daran, dass man diese Menschen fördern muss. Anstatt die politisch gewollte Verwahrlosung brauchen wir Investitionsprogramme, jetzt. Leider bin ich, was Belgien angeht, weniger optimistisch. Es fehlt der politische Wille. Dabei kann es so simpel sein. Die Imame in den Moscheen müssen zum Beispiel gestärkt werden. Die meisten Imame sagen mir ganz klar, wie sehr sie die Gewalt verabscheuen und ablehnen. Sie sind aber ängstlich und scheuen die Konfrontation mit ihren eigenen Gläubigen. Die Mehrheit der Gesellschaft beäugt sie skeptisch und die Muslime auch. Sie stehen unter enormen Druck. Dann kommt so ein Saudi und nimmt sich die verwirrten, jungen Seelen.

Die aktuellen Ereignisse nach den Anschlägen in Paris in unserem Liveticker.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false