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Nach einem Luftangriff: Syrische Weißhelme bergen im Jahr 2014 Kinder aus den Trümmern.

© Sultan Kitaz/Reuters

Interview mit syrischen Weißhelmen: "Aleppo ist wohl die gefährlichste Stadt der Welt"

Sie ziehen die Menschen nach den Luftangriffen des Regimes aus den Trümmern. Am Freitag werden die syrischen Weißhelme mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet.

Mit etwa 3000 Helfern haben die Weißhelme inzwischen mehr als 60000 Menschenleben gerettet. Abdul Rahman Al Mawwas ist einer von ihnen. Er ist Sprecher der Weißhelme und arbeitet seit Jahren bei der Organisation. Osama Abo Elezz ist Chirurg und behandelt die von den Weißhelmen geborgenen Opfer. Bis August 2016 hat er in einem der letzten Krankenhäuser in Ost-Aleppo gearbeitet. Seit auch das letzte Krankenhaus im Ostteil der Stadt bei Luftangriffen zerstört wurde, arbeitet er in einem der Vororte der Millionenstadt. Ein Gespräch über den Krieg in Syrien, die letzte Hoffnung der Menschen und die Gefahr bei den Einsätzen zu sterben.

Herr al Mawwas, die syrischen Weißhelme werden am Freitag mit dem Alternativen Nobelpreis geehrt. Was bedeutet die Auszeichnung für Ihre Hilfsorganisation?

Al Mawwas: Keine Frage, das motiviert sehr und gibt uns Kraft, trotz aller Widrigkeiten und Gefahren weiterzumachen. Aber der Preis ist einer, mit dem alle Syrer geehrt werden. Denn er macht deutlich, dass viele Menschen im Land daran interessiert sind, anderen zu helfen – nicht sie zu töten.

Vor allem Aleppo wird seit Monaten fast ununterbrochen bombardiert. Wie ist die Lage in der nordsyrischen Stadt?

Al Mawwas: So schlimm wie derzeit war es noch nie. Aleppo ist vermutlich die gefährlichste Stadt der Welt. Allein in der vergangenen Woche sind 300 Menschen ums Leben gekommen, vor allem durch Luftangriffe auf die östlichen Bezirke. Wir haben fast 500 Bombardements gezählt. Auch das Zentrum der Weißhelme wurde attackiert. Unsere Maschinen und Geräte sind dabei zerstört worden. Und nicht zuletzt: Es wurde auch Chlorgas eingesetzt.

Durch die andauernden Luftschläge gegen Krankenhäuser ist Berichten zufolge die Gesundheitsversorgung im Ostteil der Stadt zusammengebrochen. Was hat das für Folgen?

Abo Elezz: In Ost-Aleppo gibt es keine funktionierende Klinik mehr. Nur wenige Krankenwagen sind noch einsatzfähig, auch weil der Treibstoff fehlt. Dennoch werden die Verletzten von den knapp 30 noch verbliebenen Ärzten so gut wie möglich versorgt. Allerdings oft nur in behelfsmäßigen Räumen, zum Beispiel in Kellern. Da wegen der Belagerung ein großer Mangel an medizinischen Geräten und Arzneien herrscht, muss sehr viel improvisiert werden. Das bedeutet extremen Stress – für Patienten und Ärzte. Und dann ist da noch die Angst. Immer wieder werden medizinische Einrichtungen bombardiert. Deshalb bleiben Kranke und Verletzte häufig lieber zu Hause.

Kliniken und Behandlungsräume werden gezielt angegriffen?

Abo Elezz: Von Anfang an hat das Regime Krankenhäuser ins Visier genommen – obwohl das ein klarer Verstoß gegen die Genfer Konvention ist. Und seit Russland an der Seite von Baschar al Assad in den Krieg eingegriffen hat, sind die Angriffe wesentlich präziser und damit verheerender geworden.

Abdul Rahman Al Mawwas (l.) und Osama Abo Elezz beim Besuch des Tagesspiegel.
Abdul Rahman Al Mawwas (l.) und Osama Abo Elezz beim Besuch des Tagesspiegel.

© Kai-Uwe Heinrich

Herr al Mawwas, Ihre Hilfsorganisation versucht, nach Luftangriffen möglichst schnell an Ort und Stelle zu sein, um Menschenleben zu retten. Was ist dabei die größte Herausforderung?

Al Mawwas: Die sogenannte Doppelschlag-Taktik der Russen: Wenige Minuten nach einer ersten Attacke kehren die Kampfjets zurück, um das gleiche Ziel erneut unter Feuer zu nehmen. Für uns Weißhelme als Rettungskräfte heißt das: Wir müssen einschätzen, wann der nächste Angriff geflogen wird – um am Leben zu bleiben. Aber am Ende ist diese Einschätzung nicht mehr als eine Wette. Fast 150 Weißhelme sind bisher während ihrer Einsätze getötet worden.

Tod und Trauer, Leid und Zerstörung. Und das jeden Tag – wie gehen die Weißhelme damit um?

Al Mawwas: Wir fühlen uns oft sehr schwach, manchmal auch hilflos. Aber das wird verdrängt. Damit die Seele keinen Schaden nimmt. Schließlich geht es darum, Leben zu retten.

Haben Sie schon mal daran gedacht, ihren lebensgefährlichen Job aufzugeben?

Al Mawwas: Ich wurde vor zwei Jahren von meinen Kollegen geradezu gezwungen, Aleppo zu verlassen, um eine Auszeit zu nehmen. Doch es ging einfach nicht. Ich bin nach kurzer Zeit in die Stadt zurückgekehrt. Für viele Menschen sind die Weißhelme die letzte Hoffnung. Das treibt mich und meine Kollegen an.

Das Regime setzt alles daran, ganz Aleppo unter seine Kontrolle zu bekommen. Was hätte dies für Folgen?

Abo Elezz: Alle Bewohner im Ostteil der Stadt würden mit Sicherheit ihr Zuhause verlassen. Denn sie misstrauen der syrischen Regierung zutiefst. Der Machthaber hat von Anfang an darauf gesetzt, die demografische Situation in Aleppo grundlegend zu verändern. Das heißt, nur eine ihm ergebene Bevölkerung soll dort künftig leben.

Al Mawwas: Selbst wenn es dem Regime gelingen sollte, Aleppo zu erobern – damit wäre der Krieg noch lange nicht vorbei.

Wie könnte denn eine Zukunft für Syrien aussehen?

Al Mawwas: Eine mit Assad können sich viele Syrer nicht vorstellen. Sie kämpfen für die Freiheit und gegen eine Diktatur. Aufgeben kommt deshalb nicht infrage. Lieber wählen wir den Tod.

Fühlen Sie sich von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen?

Al Mawwas: Niemand tut etwas, alle schauen nur zu. Deshalb vertrauen wir der Staatengemeinschaft nicht mehr.

Abo Elezz: Ganz ehrlich – die Syrer sind enttäuscht.

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