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Klaus Bouillon (69) stammt aus dem Saarland und war 32 Jahre lang Bürgermeister der Stadt St. Wendel. 2014 wurde er Innenminister im Saarland.

© dpa

Interview mit Saarlands Innenminister: "Wir sind an unseren Grenzen angekommen“

Saarlands Innenminister Klaus Bouillon über seine Erfahrungen mit Flüchtlingen und die Sorge davor, dass die Willkommensstimmung kippt.

Von
  • Robert Birnbaum
  • Antje Sirleschtov

Herr Bouillon, im vergangenen Herbst haben Sie Ihr Büro in ein Flüchtlingsheim verlegt. Arbeiten Sie dort heute immer noch?

Ich arbeite dort jetzt noch zwei Mal in der Woche.

Was haben Sie in der Erstaufnahmeeinrichtung über die Flüchtlingskrise gelernt?

Die Entscheidung, mit meinem Stab dorthin zu gehen, war goldrichtig. Nur vor Ort konnte ich die Probleme wirklich erfassen und Lösungen finden. Das wahre Leben erreicht einen eben am Schreibtisch einer Ministerialbürokratie nicht immer. Und lassen Sie mich das auch sagen: Meine Beschreibung der Probleme hat anfangs dazu geführt, dass ich auch attackiert wurde. Meine Schilderung der tatsächlichen Situation passte damals nicht in die allgemeine Willkommensstimmung. Heute fühle ich mich bestätigt.

Sie haben damals Deutschland wegen des Flüchtlingszustroms einen "Notstand" attestiert. Herrscht der noch immer?

Als ich seinerzeit vom übergesetzlichen Notstand gesprochen habe, waren viele erschrocken. Heute wissen wir, die Flüchtlingskrise hat die öffentliche Ordnung in Deutschland nachhaltig gestört. Und seit den Vorfällen an Silvester in Köln ist auch klar, dass die öffentliche Sicherheit gefährdet ist, weil eine Minderheit der Flüchtlinge nicht bereit ist, unsere Spielregeln einzuhalten und wir auch damit nicht schnell genug fertig werden. Aber es gibt auch eine Menge Anlass zu Hoffnung. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge macht unter ihrem Chef, Frank-Jürgen Weise, einen wirklich guten Job. In Kürze wird die Registrierung von Flüchtlingen bei uns im Saarland, aber auch anderswo, spürbar beschleunigt und ich erwarte, dass Flüchtlinge innerhalb eines Tages ihre Asylanträge stellen können und im besten Fall noch am gleichen Tag darüber entschieden wird. Dass es in den letzten Monaten so ein Chaos gegeben hat, liegt maßgeblich an unserem föderalen System. Allein im Saarland arbeiten 52 Kommunen mit über 20 unterschiedlichen Computersystemen und die Vereinheitlichung der Technik-Systeme in ganz Deutschland ist ein gewaltiger Kraftakt. Man hört das ja nicht so gern. Aber als Vorsitzender der Innenministerkonferenz sage ich jetzt: Diese Flüchtlingskrise hat uns alle wachgerüttelt, und ich bin sicher, wir werden gestärkt daraus hervorgehen.

Wissen Sie, wie viele Flüchtlinge im Saarland sind?

Das weiß ich. Wir haben 2015 rund 13600 Flüchtlinge aufgenommen, registriert und auf die Kommunen verteilt. Derzeit befinden sich in unserer Erstaufnahmeeinrichtung 1680 Menschen. Mir war sehr früh klar, was da auf uns zukommt und dass schnell gehandelt werden muss. Wir haben bereits im Dezember 2014 ein Wohnraum-Sonderprogramm, unter anderem zur Schaffung von Flüchtlingswohnungen ins Leben gerufen. So haben wir schon vor gut einem Jahr unter anderem auch privaten Bauherren 50000 Euro gegeben, wenn sie Wohnraum für Flüchtlinge bauen. Mit entscheidend war mein Vorschlag an die Kommunen Zehnjahresverträge abzuschließen. Resultierend haben wir es im Saarland geschafft, bis heute keine einzige Halle oder ein Gemeinschaftszentrum zu belegen.

Können Sie 2016 noch einmal so viele Menschen aufnehmen wie voriges Jahr?

Im Saarland wird das zu verkraften sein. Deutschland insgesamt kann das aber meines Erachtens nicht packen. Es scheitert schon an den Unterbringungskapazitäten in größeren Kommunen und den Stadtstaaten. Sehen Sie sich doch mal Ihre Heimat, Berlin, an. Dann wissen Sie: Wir sind in Deutschland an unseren Grenzen angekommen.

Wie viele Flüchtlinge verkraftet Deutschland in diesem Jahr, Herr Bouillon?

Es müssen sehr schnell sehr viel weniger werden als 2015. Noch einmal eine Million schaffen wir nicht. Allein die Unterbringungskapazitäten in den Großstädten sind am Limit angekommen, und es ist nicht einmal absehbar, wann es genügend Wohnungen für die Menschen geben wird, die schon heute in den großen Lagern leben. Kommen noch deutlich mehr Flüchtlinge dazu, dann wird es Unruhen und Gewalt geben und zwar in den Einrichtungen und auch zwischen Flüchtlingen und der Bevölkerung. Das kann niemand wollen.

Glauben Sie an eine europäische Lösung?

Ich sehe die Gefahr, dass die europäische Solidarität scheitert. Und ich sage auch deutlich: Lange kann sich die Diskussion nicht mehr hinschleppen. Und wenn die anderen europäischen Länder nicht einlenken, dann muss man den Dampfhammer herausholen.

Wie soll der aussehen?

Wer die Menschenrechte mit Füßen tritt und Familien nicht aufnimmt, die vor Krieg fliehen, wer seinen finanziellen Verpflichtungen nicht nachkommt, dem würde ich den Geldhahn zudrehen. Es gibt Länder in Europa, die jedes Jahr Milliardenbeträge aus Brüssel erhalten, die wir bezahlen und die jetzt so tun, als ginge sie das alles nichts an. Das kann nicht mehr so weitergehen. Im Moment kommen wegen des Winters zwar nicht ganz so viele Flüchtlinge. Doch ich fürchte, dass der Zustrom spätestens im Frühling wieder zunehmen wird. Dann wird auch der einheimischen Bevölkerung irgendwann der Kragen platzen. Das besorgt mich wirklich. Es muss in den nächsten Wochen eine europäische Lösung geben.

Müssen sonst die deutschen Grenzen geschlossen werden?

Wie soll das funktionieren? Wir können nicht über 3500 Kilometer Grenze sichern. Zäune halten die Menschen nicht auf. Und ich warne vor dem Trugschluss, dass wir zusehen können, wenn Frauen mit Kindern zurückgehalten werden. Solche vermeintlich einfachen Lösungen werden nicht zum Ziel führen.

Nutzen die Länder ihre Möglichkeiten zur Abschiebung?

Die Länder haben ganz unterschiedliche Bedingungen. Uns alle eint aber, dass es viele praktische Probleme gibt, die die Abschiebungen sehr schwer machen. Die Verfahren sind zu lang, werden verschleppt, häufig werden fragwürdige ärztliche Atteste vorgelegt. Klar ist: Es muss den Behörden leichter gemacht werden abzuschieben. Dafür werden weitere gesetzliche Änderungen nötig. Die Innenminister werden dem Bund dafür kurzfristig einen Maßnahmenkatalog vorlegen.

Welche Aufgaben stehen vor den Kommunen bei der Integration der Flüchtlinge?

Zunächst lassen Sie mich sagen: Das wird eine Mammutaufgabe, die unsere Gesellschaft Jahre kostet. Das Wichtigste aber ist: Die Bundesländer und vor allem die Kommunen brauchen mehr Geld. Viel mehr Geld. Wir müssen Wohnungen bauen, Schulen erweitern, Lehrer und Erzieher einstellen. Bis jetzt konnten wir noch improvisieren. Aber wenn der Zustrom der Menschen weiter anhält, dann geht es nicht mehr. Der Bund muss hier seine Verantwortung wahrnehmen. Die Bewältigung der Völkerwanderung liegt eigentlich nicht in der Zuständigkeit der Kommunen und Länder. Das, was derzeit stattfindet, ist eine nationale und internationale Aufgabe.

Kommt der Bund seiner Verantwortung denn nicht nach?

Es ist schon viel geschehen. Die Asylpakete I und II sind richtig und auch Finanzhilfen sind geflossen. Aber das reicht angesichts der Vielzahl der Flüchtlinge definitiv nicht aus. Der Bundeshaushalt weist einen Überschuss von zwölf Milliarden Euro aus, und es gibt auf der anderen Seite viele Länder und Kommunen, die jeden Euro umdrehen, aber die Hauptlast der Flüchtlingsintegration tragen müssen. Dieses Ungleichgewicht sollte schnellstmöglich beseitigt werden.

Um wie viel Geld geht es? Wissenschaftler sprechen von 50 Milliarden Euro...

Das ist die Untergrenze dessen, was auf uns zukommt. Wenn die Integration der Menschen gelingen soll, dann werden wir Milliarden allein in Wohnungen und soziale Infrastruktur investieren müssen, damit es keine gesellschaftlichen Unruhen gibt. Von den Zusatzbelastungen bei der Betreuung von Kindern und Arbeitslosen spreche ich gar nicht. Auch in einem so großen Land wie Deutschland versagen die vorhandenen Strukturen, wenn man Millionen Menschen zusätzlich aufnimmt. Das heißt also: Wir müssen vieles neu bauen und erweitern. Und dazu brauchen wir Geld, und zwar schnell, damit der gesellschaftliche Frieden in unseren Städten nicht gefährdet ist. Was glauben Sie denn, was passiert, wenn so viele Menschen wie jetzt über Monate hinweg in den Hallen wie zum Beispiel auf dem Berliner Flughafen Tempelhof und in vielen Kasernen zusammengepfercht leben müssen? Das kann nicht gutgehen.

Erleben Sie noch die Willkommensstimmung vom letzten Herbst?

Das macht mir Sorgen, die Stimmung ist Großteils gekippt. Ich bin ja viel im Land unterwegs und spreche mit Bürgermeistern und Vereinen. Überall merke ich: Die Menschen sind verunsichert, und sie haben Angst. Und da ist das Problem: Wenn Menschen sich nicht sicher fühlen, wenn sie glauben, dass der Staat handlungsunfähig ist, dann ist das Futter für Rattenfänger am rechten Rand. Ich kann als Vorsitzender der Innenministerkonferenz feststellen: Alle Innenminister in Deutschland kümmern sich intensiv um die Lösung der Probleme und rüsten im Bereich der inneren Sicherheit auf. Wir alle wissen, dass das Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger gestärkt werden muss.

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