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Turm der Demokratie - Big Ben in London.

© AFP

High Court zum EU-Austritt: Was folgt aus dem Brexit-Urteil in Großbritannien?

Ein hohes englisches Gericht hat entschieden, dass das Unterhaus über den Brexit abstimmen muss. Premierministerin May reagiert verärgert. Europäische Politiker warnen vor Verzögerungen. Fragen und Antworten.

Gina Miller ist nun endgültig eine Berühmtheit in Großbritannien – und erst recht eine Hassfigur für jene, die ihr Land nicht mehr in der Europäischen Union sehen wollen. Die Fondsmanagerin ist das Gesicht der Kläger, die am Donnerstag vor dem High Court in London gegen die konservative Regierung von Premierministerin Theresa May gewonnen haben.

Schon vor dem Urteil war Miller Anfeindungen ausgesetzt. Nachdem das Gericht nun entschied, dass der Austritt nicht ohne parlamentarisches Votum erfolgen kann, dürfte die Wut der Brexit- Hardliner noch stärker angefacht sein (selbst wenn sie zur Kenntnis nehmen müssen, dass ein weiterer Kläger, der Friseur Deir dos Santos, beim Referendum im Juni für den Austritt gestimmt hat). Denn vielfach wird der Richterspruch als Versuch einer EU-freundlichen Lobby interpretiert, das Austrittsvotum im Referendum vom 23. Juni vor Gericht umzubiegen. Die konservative Regierung von Premierministerin Theresa May reagierte verärgert. Eine Sprecherin kündigte an, das Urteil vor dem Supreme Court, dem obersten britischen Gericht, anzufechten.

Was entschied das Gericht, und welche Bedeutung hat das Urteil?

Eine Abkehr vom Brexit bedeutet die Entscheidung des High Court vom Donnerstag nicht. Die Richter haben mit ihrem Spruch jedoch das Verfahren verändert, mit dem die britische Regierung den Austritt einleitet. Und damit möglicherweise auch das weitere Verfahren für den Brexit. Was auch bedeuten kann, dass er eine andere Form annimmt, als sich manche – vor allem im Lager der Brexit-Hardliner – bisher ausgemalt haben. Insofern ist das Urteil fundamental und eine der wichtigsten verfassungsrechtlichen Entscheidungen auf der Insel seit Jahrzehnten.

Der High Court im Londoner Gerichtsviertel ist das oberste Gericht für England und Wales. Hier werden in erster Instanz Fälle von großer juristischer Bedeutung verhandelt – auch solche, welche die (nicht in einem Einzeldokument zusammengefasste und daher etwas unübersichtliche) Verfassung des Königreichs betreffen. Zu den Verfassungsgrundsätzen Großbritanniens gehört die Parlamentssouveränität; andererseits gibt es alte Prärogativrechte der Krone in der Außenpolitik, die auf die Regierung übergegangen sind.

Daraus folgerte die Regierung May, dass sie das Parlament nicht damit befassen muss, wann, wie und mit welchem Ziel das Kabinett den Austritt aus der EU voranbringt. Allerdings hatte May schon vor einigen Wochen auf öffentlichen Druck hin zugestanden, dass das Unterhaus zumindest förmlich über den Austrittsantrag debattieren kann. Lordoberrichter Lord Thomas of Cwmgiedd stellte am Donnerstag bei der Verkündung nun fest, dass die Souveränität des Parlaments über allen anderen Verfassungsgrundsätzen stehe. Und dass daher eine Abstimmung über den Austrittsantrag nötig sei.

Welche Rolle spielt der Artikel 50 des EU-Vertrags?

Der Austrittsantrag Großbritanniens muss nach dem Artikel 50 des EU-Vertrags gestellt werden. Dort ist festgehalten, dass jeder Mitgliedstaat „im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ beschließen kann, aus der Union auszutreten. Genau diese Formulierung, zusammen mit der englischen Gesetzgebung zum EU-Beitritt 1972, machte nun das Urteil möglich. Denn damit war eine Klage gegen das Vorhaben der Regierung May möglich, den Austrittsantrag am Parlament vorbei auf den Weg zu bringen. Europäisches Recht hat damit den Parlamentarismus in Großbritannien gestärkt.

Was folgt daraus für die Brexit-Verhandlungen mit der EU?

Mutmaßlich zunächst eine Verzögerung. Zwar teilte Mays Sprecherin mit, der Zeitplan für den Austritt gerate nicht durcheinander. Aber wenn das Oberste Gericht die Entscheidung vom Donnerstag teilt, dann wird dieser Plan kaum zu halten sein. Der Supreme Court behandelt die Berufung Anfang Dezember, das Urteil wird für Januar erwartet. Eine formelle Befassung von Unterhaus und Oberhaus dürfte danach mindestens einige Wochen dauern, und das lässt es unwahrscheinlich werden, dass May ihren EU-Kollegen wirklich Ende März den Austrittsantrag präsentiert. Zudem lässt sich aus dem Urteil mehr Mitsprache des Parlaments herleiten. Nicht nur beim Austrittantrag, sondern bei den weiteren Verhandlungen.

Damit ist May möglicherweise weniger frei in den Gesprächen mit Brüssel und den EU-Staaten. Andererseits könnte sie die Situation aber auch nutzen – um sich innerhalb ihrer Regierung und Partei freier zu machen von den Wünschen der Brexit-Hardliner. In jedem Fall aber ist ihre bisher verfolgte Strategie, nicht mit einem fixen Drehbuch in die Verhandlungen zu gehen, um sich von Fall zu Fall neu entscheiden zu können, geschwächt.

Denn die parlamentarische Beteiligung dürfte bedeuten, dass die Abgeordneten permanent Rechenschaft fordern und damit May zu mehr Offenheit zwingen, als ihr lieb ist. Und zwar von zwei Seiten: aus der Opposition heraus (Labour, Liberaldemokraten und schottische Nationalisten) und auch aus der eigenen Truppe, falls dort das Misstrauen wächst, May könnte einen zu „weichen“ Brexit und damit eine zu enge Anbindung an die EU anstreben. Aus Sicht der EU ist das potenzielle Mehr an Transparenz dagegen von Vorteil.

Welche Folgen kann das Urteil für die Form des Brexits haben?

Sollte das Urteil bestätigt werden, wird eine moderatere Form des Austritts wahrscheinlicher. Im Parlament haben über alle Fraktionen hinweg die Befürworter einer weiteren Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU eine Mehrheit. Nicht wenige dieser Abgeordneten finden sich derzeit in einer überparteilichen Organisation namens Open Britain zusammen. Deren Ziel ist es, den Brexit möglichst so zu gestalten, dass die wirtschaftlichen Folgen nicht zu negativ sind und Großbritannien weiterhin möglichst eng an Europa gebunden bleibt. Die Stimmen derer, die sogar eine Umkehr des Brexit-Votums beim Referendum am 23. Juni fordern oder für möglich halten, werden zudem seit einigen Wochen wieder lauter.

Entscheidend ist aber die Fraktion der Konservativen. Auch unter deren Abgeordneten befürworteten viele eine weitere EU-Mitgliedschaft, darunter auch May. Doch mussten sie im Juni häufig erleben, dass die Bürger im eigenen Wahlkreis sich, zum Teil mit sehr deutlichen Mehrheiten über 60 Prozent, für den Austritt entschieden. Wer also weiter im Parlament bleiben will (auch wenn vorerst keine Neuwahl vor der Tür steht), wird sich am Votum der Wählerbasis orientieren – und jedenfalls nicht gegen den Brexit votieren.

Dennoch sind die Hardliner in der Fraktion um Außenminister Boris Johnson, Austrittsminister David Davis und Handelsminister Liam Fox durch das Gerichtsurteil geschwächt. Bisher konnte man den Eindruck gewinnen, dass sie May im Verein mit einer europafeindlichen Parteibasis treiben wollen. Nun aber bekommt die kleine Gruppe der Pro-Europäer um die frühere Industrieministerin Anna Soubry Oberwasser. Denn die Mehrheit der Tories im Unterhaus ist nicht üppig, es sind nur 15 Mandate. Schon eine kleine Rebellengruppe kann damit etwas bewegen, wenn nun Abstimmungen zwingend sind. Der frühere Chef der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party, Nigel Farage, witterte am Donnerstag schon eine neue Verschwörung, um das austrittswillige britische Volk zu betrügen.

Wie sind die Reaktionen in Brüssel und Berlin?

Die EU-Kommission in Brüssel äußerte sich nicht zu dem Urteil. Behördenchef Jean-Claude Juncker will jedoch am Freitagmorgen auf Bitten Mays die Lage am Telefon mit ihr erörtern. Inhaltlich wollte sich Juncker nicht äußern. „Es ist nicht an der Kommission, jetzt mit dem Spekulieren zu beginnen“, sagte ein Sprecher. Es könne noch viel passieren.

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnte jedoch vor weiteren Verzögerungen bei der Umsetzung des britischen Austrittsbegehrens. Er machte am Donnerstag deutlich, dass die Bundesregierung weiterhin mit dem angekündigten Termin für das offizielle britische Austrittsgesuch rechnet. „Ich denke, wir dürfen erwarten, dass das Anfang des Jahres stattfindet. Dann müssen die Verhandlungen zügig aufgenommen werden.“ An diesem Freitag kommt der britische Außenminister Boris Johnson zum Antrittsbesuch nach Berlin und trifft Steinmeier im Auswärtigen Amt.

Der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Bundestag, Gunther Krichbaum (CDU), erwartet keine Kursänderung in Großbritannien. „Es ist absolut wünschenswert, dass wir bis März Klarheit haben, was Großbritannien nun will.“ Ansonsten drohe das vom früheren britischen Premierminister David Cameron angerichtete Chaos, sich auch noch auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 auszuwirken.

Auch SPD-Fraktionsvize Axel Schäfer warnte vor weiteren Verzögerungen im Austrittsprozess: „Was auf keinen Fall passieren darf: dass die Regierung die neue Situation nun als weiteren Vorwand nimmt, um den Artikel-50-Antrag zu verzögern. Wir müssen bis Ende März Klarheit haben.“ Freilich schwingt in manchen Reaktionen eine gewisse Genugtuung mit. Schäfer etwa sagte: „Der Ignoranz der britischen Brexit-Regierung um Theresa May ist nun ein Riegel vorgeschoben worden.“

Eher skeptisch äußerte sich der Berliner Politikwissenschaftler Henrik Scheller. Er sagte dem Tagesspiegel: „Die Entscheidung des High Courts wird das ganze Brexit-Verfahren noch komplizierter gestalten.“ Er fürchtet, dass die politische und gesellschaftliche Spaltung des Königreichs befördert werde. Nicht nur das Miteinander der Verfassungsorgane in Großbritannien werde belastet. „Auch die Austrittsverhandlungen mit der EU stehen in der Gefahr, durch permanente Uneinigkeit und Unentschiedenheit auf britischer Seite torpediert zu werden“, sagte Scheller. Am Ende stünde die EU einmal mehr als unfähige Institution da, „die nicht in der Lage ist, ihre inneren Konflikte zu lösen“.

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