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Helgoland: Weil der Wind sich dreht

Das Riesenwindrad auf Helgoland floppte und die Insulaner hatten die Nase voll von Ökoenergie. Aber die lässt sich nicht abhalten.

Auf dem Weg von der Unterstadt zur Oberstadt pfeift einem der Wind um die Ohren. Er zerrt an den Haaren, bläst Jacken und Hosen auf. Kommt er von hinten, beschleunigt sich der Schritt automatisch, kommt er von vorn, kämpft man sich mühsam voran. Der Wind bläst auf Helgoland fast immer. In der Unterstadt lässt sich das zwischendurch vergessen, weil die eng stehenden denkmalgeschützten Häuser ihn aufhalten. Aber in der Oberstadt, wo die Buntsandsteinfelsen aus dem frühen Erdmittelalter steil ins Meer abfallen, nicht. Da ist der Wind allgegenwärtig. Man sollte also meinen, dass Helgoland, Deutschlands einzige Hochseeinsel, etwa 60 Kilometer von der Küste entfernt in der Nordsee gelegen, der ideale Ort für eine Windkraftanlage sei. Aber damit hätte man sich total vertan.

Vielmehr zeigt sich am Beispiel Helgoland, was für die ganze Energiewende gilt, die die Bundesregierung derzeit in Schweiß hält: dass eine gute Theorie noch lange keine gute Praxis ergibt. Und dass der Mensch unleidlich wird, wenn ihm einer Idee wegen plötzlich der Strom wegbleibt.

Es ist das Jahr 1990. An der Südwestspitze der Insel dreht sich Growian zwei. Ein dreiflügeliger Rotor auf einem 44 Meter hohen Turm. Das größte Windrad der Welt. Growian ist die Abkürzung für Große Windkraftanlage, die technische Bezeichnung lautet WKA 60. Das Rad ist Hoffnungsträger einer frühen Generation von Energieexperten; gefördert von der EU und vom Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber, der mit der Fliege, quasi Rotor am Hals. Es soll die rund 1300 Einwohner der 1,7 Quadratkilometer großen Insel mit Energie versorgen – und dann dies: In der Nordseehalle rotiert der Filmprojektor, es ist Kinoabend auf dem Eiland, draußen tobt ein Gewitter, drinnen ist es kuschelig, und dann schlägt der Blitz in Growians Flügel ein, und der Projektor steht still. Mitten im Film. Da fluchten die Helgoländer und rollten mit den Augen. Und die Versicherungen auch. Drei Mal passierte das: Drei Mal schlug ein Blitz in die Rotoren ein, und auf Helgoland gingen Lichter aus, dann war alle Geduld der Bürger aufgebraucht, und auch die Versicherungen streikten. Growian zwei wurde 1995 abgebaut, und wenn die Insulaner fortan ein Motto hatten, das sie einte, hieß das: Windkraft, nein danke! Da hatte die frühe bundesrepublikanische Windenergieförderung ganze Arbeit geleistet. Und wohl mit Absicht. Growian sollte zeigen, „dass es nicht geht“, soll ein beteiligter Unternehmenssprecher damals gesagt haben.

Auch Jörg Singer erinnert sich, dass die beiden Growiane vor allem dazu dienen sollten, die Windenergie unmöglich erscheinen zu lassen. Die beiden: Growian eins und zwei. Growian eins war ein Zweiflügler, 102 Meter hoch, ein gigantischer Misserfolg. Das technisch nicht beherrschbare und überdimensionierte Monstrum produzierte zwischen Aufbau (1983) und Abriss (1987) genau 17 Tage lang Strom. Das Versuchsgelände im Kaiser-Wilhelm-Koog, auf dem es stand, wurde aber doch noch zur Initialzündung der deutschen Windkraftrenaissance, als dort 1987 mit vielen kleinen Windrädern der erste kommerziell genutzte Windpark in Betrieb ging.

Singer, heute 46, hat seine Jugend auf Helgoland verbracht, ging zum Studieren aufs Festland und schließlich in die USA. 2010 kehrte er – inzwischen mit einer Helgoländerin verheiratet und Vater geworden – auf die Insel zurück. Er ist ein smarter Typ, schicker Haarschnitt, moderne Hornbrille, dynamisches Auftreten. Als @meermann hat er schon 2009 begonnen zu twittern – allerdings hat er seither erst 20 Nachrichten abgesetzt. Eine davon hieß: „Einen Offshorewindpark um Helgoland planen – hier ist Deine Chance! Ingenieur/in als Projektplaner“ und ist vom Juni 2010. Drei Monate später wurde er zum parteilosen Bürgermeister gewählt. Mit dem erklärten Ziel, die Energiewende doch noch nach Helgoland zu holen. Ein erstaunlicher Wandel? Singer sagt, die hohen Energiepreise hätten bei den Helgoländern ein Umdenken erzwungen. Denn Energie brauchen sie auf der Insel. Mehr, als man vielleicht zunächst annehmen würde.

Die Insel, die im Ersten Weltkrieg eine Festung war und im Zweiten Weltkrieg massiv bombardiert wurde, 1947 sogar teilweise gesprengt worden war, hat Probleme zu lösen, die auf dem Festland gar nicht existieren. Helgoland ist ein Felsen. Nichts, rein gar nichts lässt sich dort anbauen. Alle Nahrungsmittel müssen gebracht werden, seit die Fischerei kaum noch etwas einbringt. Süßwasser gibt es auch keines. Das Regenwasser wird mühsam aufgefangen und in Wasserspeichern gelagert. Zusätzlich muss über einen Osmoseprozess Salzwasser zu Trinkwasser aufbereitet werden. Jede Flasche Schnaps, die auf Helgoland zollfrei verkauft wird, muss vorher erst dorthingebracht werden. Jeder Liter Schweröl für die Börteboote, mit denen aus alter Tradition die Gäste von den Schiffen an Land gebracht werden, muss die Insel erst einmal erreichen, bevor die Boote getankt werden können. Der Müll der Insulaner und der jährlich rund 300 000 Tagesgäste, die zollfrei einkaufen oder Robben fotografieren wollen, muss ans Festland geschafft werden, sofern er auf der Insel nicht verwertet werden kann. Nichts ist einfach auf der Insel. Dass dort nach dem Zweiten Weltkrieg überhaupt wieder Menschen siedelten, ist also ein ein unerhörter Luxus – oder auch ein großer Unsinn. Auf jeden Fall war es eine politische Entscheidung. Helgoland ist unser!, bedeutete die der Welt. Inselökonomische Probleme wurden großzügig ignoriert.

Nach dem Scheitern von Growian zwei wurde die Energiegewinnung wieder ausschließlich mit Heizöl gestemmt. Durch ein Blockheizkraftwerk, das auch die Wärme für die Insulaner herstellte. Auch dieses Heizöl musste natürlich zunächst nach Helgoland gebracht werden. Den Einwohnern war zwar lange klar, dass es so nicht ewig weitergehen könne, aber in den Debatten über eine Alternative waren die alternativen Energien zunächst einmal gar kein Thema mehr. Auf Helgoland war der Zorn über das nichtsnutzige Windrad lang anhaltend und so groß, dass die Insulaner nur noch eins wollten: ans Festlandstromnetz angeschlossen werden.

Alles ist auf der Insel schwierig

Und sie wurden. Ende 2009 ließ der norddeutsche Energieversorger Eon Hanse in nur zwölf Tagen ein 53 Kilometer langes Seekabel von St. Peter Ording aus nach Helgoland verlegen. Seither bezieht die Insel ihren Strom aus dem Festlandstrommix. Wobei Eon Hanse behauptet, der meiste Strom für Helgoland komme aus Windparks in Dithmarschen. Gelegentlich kommt er aber wohl auch aus dem Atomkraftwerk Brokdorf, nämlich dann, wenn es in Schleswig-Holstein windstill ist.

Die Kabellösung fiel in die Amtszeit von Singers Vorgänger im Bürgermeisteramt, Frank Botter. Und gefiel dem. Der gebürtige Helgoländer hielt nicht allzu viel von erneuerbaren Energien. Doch nach seiner Ablösung als Bürgermeister fand er einen neuen Job bei der Firma Schramm Group, die auf Helgoland gerade zwei Appartementhäuser für das Wartungspersonal des Energieriesen RWE baut. Nun sieht also auch Frank Botter seine Zukunft in der Windkraft – zumindest indirekt.

Dass RWE auf der Insel zu tun hat, liegt indes am Nachfolger, an Jörg Singer und den Offshore-Visionen, die die Energiebranche beflügeln. Drei Konzerne, RWE, Eon und Wind MW, hinter dem der Investmentfonds Blackstone steckt, wollen Helgoland zu ihrem Service- und Wartungsstandort ausbauen. Die drei Windparks, Nordsee Ost (RWE), Amrumbank West (Eon) und Meerwind (Wind MW) sollen von Helgoland aus betreut werden. Bürgermeister Singer ist überzeugt davon, dass dieses Geschäft auch die Inselkasse füllen wird. Jedenfalls wird seit Juli der neue Offshore-Hafen gebaut, und manches Hotel freut sich über belegte Betten in Herbst und Winter.

Und da Helgoland nicht nur mit der Stromversorgung ein Problem hat, sondern auch mit der Wärmeversorgung, könnten schon bald am Hafen in Helgoland doch wieder zwei Windräder errichtet werden. Mit einer Leistung von jeweils 2,5 Megawatt sollen sie Strom erzeugen, der dann über einen Elektrokessel warmes Wasser für das Fernwärmenetz produziert, sagt Singer.

Seit März fördert das Bundesumweltministerium mit knapp 34 000 Euro ein neues Klimaschutzkonzept für Helgoland. Singer schwebt vor, die Insel kohlendioxidfrei zu machen. Allerdings sind das Beratungsbüro und die Ortsverwaltung sich noch nicht einig darüber, ob die CO2-Emissionen der Tages- und Übernachtungstouristen und der Schiffe oder Flugzeuge, mit denen sie anreisen, in die eigene Kalkulation einbezogen werden oder nicht. Das Thema dürfte auch in den Bürgerversammlungen über den aktuell erarbeiteten Regionalentwicklungsplan für die Insel zur Sprache kommen.

In diesem Sommer sind jedenfalls tagtäglich sechs Mal schwarze Rauchsäulen auf die Insel zugesteuert. Sechs Schiffsverbindungen täglich bringen die Touristen auf die Insel und nehmen sie oft am selben Tag wieder mit zurück aufs Festland. Und die Fähren tanken nach wie vor Schweröl, die schmutzigste Variante eines Treibstoffs. Singer hofft, dass die Bemühungen anderer Häfen, mit Emissionsvorgaben einen Umstieg auf Gas-Elektromotoren anzuregen, „erfolgreich sind“. Jedenfalls wäre das „für ein sauberes Image von Helgoland“ von Vorteil.

Das sehen auch die Insulaner so, die fast alle mehr oder weniger direkt vom Tourismus leben. Oder davon, dass sie ihre freien Zimmer an Angestellte der Technologiekonzerne vermieten. Oder von der Wissenschaft. Etwa der Biologischen Anstalt Helgoland (BAH) des Alfred-Wegener-Instituts für Meeresforschung, die hier mitten im Meer nach Antworten auf Klimafragen sucht.

Die BAH, nicht die Verwaltung, war es auch, die den ersten zarten Versuch einer Wiederannäherung an die Windenergie machte. Das liegt an Karen Wiltshire, Jahrgang 1962, einer Irin, die auf Helgoland lebt und Chefin der BAH ist. Sie möchte jedenfalls nicht nur den Klimawandel erforschen, sondern auch Vorbild sein. Dafür will sie ihre Forschungseinrichtungen klimaneutral sanieren und dafür fünf Millionen Euro investieren. Noch bevor sie sich aber an die kostenträchtigen Sanierungen wagte, brachte sie 2011 das erste Windrad seit Growian zwei auf die Insel. Das 15 Meter hohe Mikrowindrad hat vertikale Rotoren, die sich quer zum Mast drehen. Es ist besonders leise und kann auch dann Strom produzieren, wenn der Wind sich zum Sturm wandelt. Rund 35 000 Euro hat die BAH in das Windrad investiert, das nun den Strombedarf für das Gästehaus deckt, in dem knapp 50 Studenten untergebracht sind.

Wiltshire hat das Windrad absichtlich ganz in der Nähe ihrer eigenen Wohnung errichten lassen, um bei den Helgoländern keine Zweifel an dessen Verträglichkeit aufkommen zu lassen. Und Vögel haben sich bisher auch von der Anlage ferngehalten. „Hier sterben mehr Vögel, weil sie gegen große Glasscheiben fliegen“, sagt Wiltshire. Und so hat wohl auch sie ihren Anteil daran, dass sich gegen die geplanten neuen Windräder bisher kein Widerstand auf der Insel regt.

Dabei ist es nicht so, dass die alt und grau gewordenen Helgoländer einfach nur des Widerspruchs überdrüssig geworden sind. Als ihr neu gewählter Bürgermeister ihnen den kühnen Plan des Hamburger Unternehmers Arne Weber nahelegte, Helgoland mit seiner vorgelagerten Düne über eine Landaufschüttung zu verbinden und damit Fläche zu gewinnen, und sie dafür begeistern wollte, sagten die in einem Volksentscheid deutlich Nein, danke. Der Bürgermeister war darüber ziemlich enttäuscht. Denn Platz gibt es auf Helgoland nicht allzu viel, und mehr Platz wäre die Voraussetzung für jegliches Mehr: mehr Touristen, mehr Einwohner, mehr los.

Die Einzigen, die sich mit Vergnügen vom Wind beflügeln lassen und sich auch an der Unzugänglichkeit der Insel und ihrem mangelnden Platzangebot nicht stören, sind die Robben und die Vögel. Die Robben haben sich inzwischen an die vorrückenden Touristen derart gewöhnt, dass sie für Fotos freundlich regungslos im Sand liegen bleiben. Und die Vögel?

Seit nunmehr 100 Jahren gibt es das Institut für Vogelforschung „Vogelwarte Helgoland“ auf der Insel. Die Tiere nisten auf der Langen Anna, dem schmalen Felsen im Nordwesten, und an den anderen Felswänden. Riesige Brutkolonien finden sich dort im Sommer. Früher war die hier vorherrschende Art die der Trottellumme, heute haben dort die Tölpel das Sagen. Aber beide Namen klingen natürlich kaum so, als wolle man sich bei den so Bezeichneten etwas fürs Überleben auf dem Eiland abgucken.

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