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Viele Menschen möchten in ihrer Schau- und Zeigelust die Bilder dieser Welt mitproduzieren.

© Matthias Balk/dpa

Handy-Gaffer bei Unfällen: Die Menschheit im Rausch der Schreckensbilder

Die Handy-Gaffer bei Unglücksfällen überschreiten Grenzen. Damit stehen sie in einer langen Tradition der Lust am Schrecken. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Peter von Becker

Die Lust an Schreck und Graus ist wohl urmenschlich. Sie beginnt im Kindesalter mit oft schaurigen Märchen und Geisterbahn, später folgen Krimis und Katastrophenkino. Auch große Kunst birgt oft Horror, und selbst fromme Heiligenbilder zeigen gerne blutig gepiesackte Märtyrer. Sind diese weiblich, dann bedienten die Entblößten und Geschundenen auch das Bedürfnis nach Sex und Gewalt.

Man muss ein bisschen daran erinnern, wenn wir uns heute völlig zu Recht über eine gerade grassierende neuere Form des öffentlichen Voyeurismus empören. Empören über die Gaffer – zum Beispiel bei Verkehrsunfällen. Es ist rücksichtslos, mitleidlos und hirnverbrannt, auf Autobahnen keine Gasse für Sanitäter, Polizei und Feuerwehr zu bilden und sich gar aggressiv pöbelnd gegenüber den Rettern zu verhalten. So geschehen bei dem Brand eines Reisebusses im Juli in Oberfranken, mit 18 Toten, oder kurz darauf bei einem tödlichen Unfall im Badischen.

Immer häufiger behindern filmende Gaffer Rettungskräfte

Relativ neu ist dabei, dass die gaffenden Zuschauer diese Unfälle und ihre Opfer ohne jede Restscham mit ihren Smartphones filmen. Einer der schlimmsten Fälle aus jüngster Zeit: Im westfälischen Hagen rast ein Volvo frontal in einen Kinderwagen, und die Handy-Voyeure behindern die Rettungskräfte, um ein sterbendes einjähriges Mädchen, ihren schwer verletzten vierjährigen Bruder und die verzweifelte Mutter zu filmen. Schlimmer geht’s nicht, denkt man – bis Anfang August die Meldung kommt, dass im noblen Kurort Baden-Baden eine mit ihren Smartphones bewaffnete Zuschauerschar lautstark einen Mann zum Springen aufforderte, der offenbar mit Selbstmordabsichten auf dem Dach eines Hotels stand. Vor dem eigenen Abgrund und dem der Menge.

All das beweist, wie dünn der zivilisatorische Firnis ist. Einst waren mörderische Gladiatorenkämpfe oder öffentliche Hinrichtungen hochbeliebte Spektakel. Als in Paris Mitte des 18. Jahrhunderts der (gescheiterte) Königsattentäter Damiens auf dem Rathausplatz nach unsäglicher Folter gevierteilt wurde, hatte Casanova für viel Geld ein paar Fensterplätze gebucht und beobachtet, wie mindestens eine der sich über die Brüstung vorbeugenden, vom Horror entzückten Damen dabei von hinten begattet wurde (so nannte man’s da). Es war die gelebte Pornografie, als es noch kein dunkles Internet gab. Und Goya hat Ähnliches in seinen Caprichos von den Schrecken des französisch-spanischen Krieges (zur Mahnung) festgehalten.

Das Unmenschliche gehört zur Menschheitsgeschichte

Eine lange Menschheitsgeschichte des Unmenschlichen. Und wenn Erdogan für die am liebsten öffentlich zu vollziehende, mit seinen Anhängern stadienfüllende Todesstrafe agitiert, dann berührt das kein rein türkisches Phänomen. Sogar einige der im Internet über die Gaffer aktuell so sehr Empörten neigen bei uns gerade zu gewissen Rachefantasien.

Trotzdem, es gibt auch die Geschichte der Aufklärung, die unter anderem zum Verbot der Todesstrafe in Europa und anderen Ländern geführt hat. Und wie die Bilder von Krieg, Verbrechen und Folter nicht nur ans Gefühl appellieren (können), hat Susan Sontag in ihrem Buch „Das Leiden anderer betrachten“ analysiert. Wobei sich sagen lässt, dass das Gefühl nichts Minderes ist gegenüber dem Verstand und mitfühlende Empathie eine Voraussetzung dafür, dass die erwähnte Urlust am symbolischen Schrecken nicht zur realen Mordlust wird.

Behinderung von Rettungskräften sollte strenger geahndet werden

Mordlust aber steckt in der in Baden-Baden nach dem Sprung vom Dach gierenden Moblust. Und: Es wäre inzwischen zu prüfen, ob die Behinderung von Rettungskräften bei Unfällen nicht kriminell ist und also mehr als nur eine mit 20 Euro geahndete Ordnungswidrigkeit. Dahinter aber steht noch ein tieferes, abgründigeres Thema.

Die Welt der Bilder expandiert und wird immer häufiger auch zum Weltersatz. Mit den ersten Videokameras und dann seit einem Jahrzehnt mit den Smartphones wirkt ein wachsender Teil der Menschheit wie im Rausch. Die jederzeitige Verfügbarkeit der selbst gemachten, selbst geladenen Abbilder vermittelt den Eindruck von Allmacht und Allgegenwärtigkeit. Dem folgen Politiker, die bei Kriegen, Katastrophen oder auch Erfolgen gar nicht mehr das reale Ereignis benennen, sondern von „den Bildern“ reden, die sie fürchten oder erhoffen. Und viele Menschen möchten in ihrer Schau- und Zeigelust die Bilder dieser Welt mitproduzieren. Sie werden so zu Exhibitionisten, in schlimmeren Fällen zu Sadisten und Soziopathen. Wie jene, die gaffen und filmen, statt zu helfen.

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