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Großbritannien vor dem Brexit: Mays Neuwahlen-Vorstoß ist mutig - und riskant

Die britische Premierministerin will durch vorgezogene Unterhauswahlen ihre Position daheim und in den Brexit-Gesprächen stärken. Das ist mutig - aber birgt auch Risiken. Eine Analyse

Die Überraschung ist Theresa May gelungen. Zwar geisterten Spekulationen über vorgezogene Neuwahlen seit längerem durch die britischen Gazetten. Aber die britische Premierministerin hatte mehrfach davon gesprochen, darauf verzichten zu wollen. Knapp ein Jahr nach dem EU-Austrittsreferendum, dessen Ergebnis ihren Vorgänger David Cameron das Amt kostete und May selbst auf den höchsten Regierungsposten brachte, sollen die Briten nun aber doch ein neues Parlament wählen.

Nur zwei Jahre nach der Wahl, die Cameron relativ klar gewonnen und welche die Tories zur alleinigen Regierungspartei gemacht hatte (zuvor mussten sie in einer Koalition mit den Liberaldemokraten regieren). Die Verlockung der seit Monaten konstanten Umfragewerte war zweifellos groß: Der Vorsprung der Konservativen ist deutlich, sie können derzeit mit 38 bis 46 Prozent rechnen, was im britischen Mehrheitswahlsystem für eine überwältigende Mehrheit der Sitze reichen kann.

2015 kamen sie mit gut 37 Prozent auf 330 der 650 Sitze. Eine knappe Mehrheit. Nun aber könnten es deutlich mehr werden. Nach einer Berechnung des Instituts Electoral Calculus vom März steuern die Tories bei einem Ergebnis von 43,5 Prozent auf 381 Sitze zu.

Starke Mehrheit greifbar

Und die Opposition ist schwach, gespalten und derzeit kaum wahlkampagnenfähig. Das gilt vor allem für Labour. Deren Chef Jeremy Corbyn stimmte am Dienstag dem Wahlterminbegehren von May umgehend zu, obwohl seine Partei derzeit bei nur 25 Prozent dümpelt und damit auf die Parteihochburgen beschränkt ist. 182 Sitze könnten es laut Electoral Calculus werden, 50 weniger als im aktuellen Parlament. Der Linke Corbyn, der in der Partei umstritten ist, dürfte dann nicht mehr lange Partei- und Fraktionschef sein.

Die Liberaldemokraten kommen in den Umfragen allenfalls auf zehn Prozent und blieben damit bei ihren mageren acht Sitzen. Die Rechtsaußenpartei Ukip (deren Ex-Chef Nigel Farage kaum antreten wird) ist für zehn Prozent gut, bliebe aber ohne Sitze. Allein die schottische Nationalpartei von Nicola Sturgeon könnte profitieren und mehr Stimmen holen – da sie aber schon 2015 fast alle Sitze in Schottland gewann, wird sie im Parlament von Westminster kaum stärker sein.

Corbyns Zustimmung, so überraschend sie angesichts der Schwäche seiner Partei ist, macht die Wahl erst möglich. Denn nach dem britischen Wahlgesetz kann eine vorgezogene Wahl nur stattfinden, wenn zwei Drittel der Parlamentarier dafür stimmen. Der zweite Weg wäre ein verlorenes Vertrauensvotum im Unterhaus – May hätte, ein Novum in der britischen Geschichte, also so handeln können wie einst Helmut Kohl und Gerhard Schröder im Bundestag, die trotz vorhandener Mehrheit diesen Weg gingen. Kohl gewann, Schröder verlor und schied aus dem Amt.

Signal an eigene Partei

Dass May die Wahl verlieren könnte, ist angesichts der komfortablen Umfragewerte kaum anzunehmen. Sie hat ihre Partei nach dem Referendum auf Brexit-Kurs gebracht, obwohl die Mehrheit der Tory-Abgeordneten vor einem Jahr den Verbleib in der EU unterstützt hatten. May selbst auch, wenn auch nicht allen voran, sondern eher stumm im Geleitzug von Cameron.

Dass aber die frühere Innenministerin und keiner der prominenteren EU-Gegner unter den Konservativen (etwa Michael Gove oder der jetzige Außenminister Boris Johnson) Premier wurde, hatte den Flügel der Anti-Europäer unter den Konservativen verärgert. Dieser starke und geschlossene Flügel der Partei ist für May trotz ihrer bisher recht souveränen Amtsführung eine Gefahr. Zumal sie nicht über eine Parlamentswahl ins Amt kam, sondern „nur“ durch das Votum der Tory-Fraktion.

So ist die Ankündigung des Wahltermins auch eine Flucht nach vorn, der Versuch, ihre aktuell starke Position durch ein Wählervotum zu festigen. Das hat sie in ihrer Erklärung vor dem Amtssitz in Downing Street 10 am Dienstagmittag um kurz nach zwölf Uhr deutlich anklingen lassen. May will aus der Wahl das Volk direkt anrufen, sie will ein Plebiszit über ihren Brexit-Kurs veranstalten.

Großbritannien brauche diese Wahl jetzt, um die „Starke und stabile Führung zu sichern, die das Land braucht, um uns durch den Brexit zu bringen und darüber hinaus“. Jede Stimme für „Theresa May and the Conservatives“ zähle, um diese Stärkung zu erreichen.

Da May die Oppositionsparteien (mit der regionalen Ausnahme der SNP) derzeit nicht fürchten muss, kann dieser Wunsch zur Absicherung der eigenen Position offenkundig nur so verstanden werden, dass May sich in den eigenen Reihen mehr Freiheit verschaffen will. Wenn der zu erwartende Sieg vor allem einer ist, der von „Theresa May und den Konservativen“ errungen wird, dann kann sie – so ihre Logik - innerparteiliche Kritik leichter abwehren als jetzt.

Dritter Wahlgang in zwei Jahren

Doch ist das Vorhaben nicht ohne Risiko. Denn des Volkes Stimmung ist bisweilen schwankend, und nach der Wahl 2015 und dem Referendum im vorigen Jahr nun zum dritten Mal binnen zwei Jahren zu einer nationalen Abstimmung aufgerufen zu werden, könnte Wähler auch verärgern. Schließlich hat May bisher nicht zu erkennen gegeben, dass sie mit der eigenen Partei, der Opposition oder den EU-Partnern massive Schwierigkeiten hätte. Zudem könnten gerade konservative Brexit-Gegner von ihr abfallen, weil denen ihr Kurs dann doch zu sehr nach einem „harten Brexit“ aussieht. Andererseits: Plädiert May im Wahlkampf für einen besonnenen Weg aus der EU und in eine neue, durchaus enge Partnerschaft mit Europa (was bisher ihre Linie ist), könnte das die ideologischen Europa-Gegner unter den Konservativen verprellen. Zudem riskiert sie, dass die Begrenzung der Zuwanderung – ähnlich wie beim Referendum im vorigen Jahr – zum Mittelpunkt des Wahlkampfes wird und damit stärker polarisiert, als ihr lieb sein kann. Schließlich hat sie die Wahl am Dienstag damit begründet, dass das Land geeint werden müsse. Eine deutlich größere Tory-Fraktion im Unterhaus ist zudem schwerer berechenbar, zumal die Befürworter eines harten Brexit an Stärke gewinnen könnten. Üblicherweise gilt, dass eine Regierung mit einer knappen Mehrheit besser fährt, weil sie dadurch mehr Disziplin in den eigenen Reihen erzwingen kann. Außerdem war May bisher in der Lage, den Brexit-Hardlinern immer entgegenzuhalten, dass mit Rücksicht auf die Mehrheit im Parlament auch das Grüppchen der Brexit-Skeptiker zu berücksichtigen ist. In einer großen Fraktion dagegen könnte es schwieriger werden, ein geschlossenes Bild zu vermitteln – was May zumindest nach außen bisher gelungen ist. Doch war der Druck von der Parteirechten möglicherweise größer als gedacht.  

Hilft das in Brüssel?

Ob ein starkes Wahlergebnis daheim Mays Verhandlungsposition in Brüssel stärken wird, ist fraglich. Allenfalls dürfet in der EU-Zentrale mit einer gewissen Erleichterung registriert worden sein, dass dann bis 2020 keine reguläre Wahl in Großbritannien mehr ansteht – und mutmaßlich auch keine in der entscheidenden Verhandlungsphase Ende 2018. Nach dem EU-Vertrag muss der Austritt binnen zwei Jahren verhandelt werden, also bis März 2019 – May hatte den Austrittsantrag vor drei Wochen gestellt.  Die nunmehr längere Spanne bis zur nächsten Unterhauswahl gibt damit aber ein bisschen Luft, falls man doch länger verhandeln möchte – was im gegenseitigen Einvernehmen durchaus möglich ist. Dieser Aspekt hat in Mays Kalkulation offenkundig auch eine Rolle gespielt und wird ihr von den EU-Partnern angerechnet werden.

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