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Nahe an der Wahrheit? Beim Edinburgher Theater-Festival wird derzeit auch das Stück "Brexit - The Musical" aufgeführt.

© Russell Cheyne/Reuters

Großbritannien und der Brexit: Doppelbödig, aber mit Netz

London spielt ein verlogenes Spiel: Der Brexit bringt Nachteile, doch verantwortlich soll Brüssel sein. Dabei hängt für die Briten vieles vom Wohlwollen der EU ab. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Albert Funk

Den Vogel abgeschossen hat der „Daily Telegraph“, das Leib- und Magenblatt der britischen Europagegner auf der Rechten. Kaum war das Papier der Regierung von Theresa May publiziert, in dem es um die Zukunft der Grenze zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland nach dem EU-Austritt geht, also um die einzige Landgrenze zwischen Großbritannien und der EU, da konnte man diese Schlagzeile lesen: „Britain is fighting to save Ireland from an EU-imposed hard border“. London kämpft also demnach darum, Irland davor zu bewahren, dass die EU der grünen Insel eine harte Grenze aufzwingt. Es ist eine besonders dreiste Form von Faktenverdrehung, aber nicht untypisch für einen Teil der britischen Presse.

Die Zeile bringt allerdings auch auf den Punkt, welche Verwirrung im Brexit-Lager in Großbritannien mittlerweile herrscht. Natürlich wissen die Mitglieder der konservativen Regierung bis hin zu den Brexit-Helden um Außenminister Boris Johnson längst, in welche Malaise das Austrittsvotum einer knappen Mehrheit beim Referendum vor gut einem Jahr das eigene Land gestürzt hat. Aber beschlossen ist beschlossen, Austritt ist Austritt, sie werden gehen. Augen zu und durch. So hat sich in die britische Politik, erkennbar schon im Stimmenkampf zum Referendum vor einem Jahr, eine Form von Verlogenheit geschlichen, die darauf hinausläuft, den Brexit als großen Erfolg zu feiern, obwohl davon auszugehen ist, dass er zu einer schlechteren Stellung des Vereinigten Königreichs in Europa und der Welt führen wird. Um das zu verschleiern, wird nun versucht, die kommenden Beeinträchtigungen und Nachteile den Verhandlungen mit einer angeblich unpartnerschaftlichen EU anzuhängen. Das „blame game“, das Schwarze-Peter-Spiel, es hat begonnen. Die beiden Papiere der britischen Regierung vom Dienstag und Mittwoch, zur Frage der künftigen Zollbeziehungen und der damit eng zusammenhängenden Problematik der inneririschen Grenze, gehören schon dazu. Die Reaktion in Brüssel war entsprechend.

Theater um die Zollunion

Auch nach Ansicht der Briten ist in einer Übergangsphase bis zum endgültigen neuen Handelsvertrag eine Zollunion nötig. Es soll und darf aber nicht die bisherige Zollunion sein (was aus rein pragmatischen Erwägungen naheläge), sondern es soll eine andere Zollunion sein - schließlich tritt man ja aus. Praktisch wird es dennoch darauf hinauslaufen, dass man die bisherigen Regeln informell fortschreibt, was im Briten-Papier auch anklingt. Nur der äußere Eindruck soll eben ein anderer sein. Zwar dürfte die EU London dann zugestehen, in dieser Übergangsphase eigene Handelsverträge mit Drittländern zu besprechen – aber auch abschließen, das wird nicht gehen, solange man eine Zollunion mit der EU hat. Doch in Großbritannien wird der Eindruck vermittelt, es gehe, und allein die EU hindere das Land daran, so früh als möglich seinen neuen Weg als globale Handelsnation auf eigene Faust gehen zu können. 

Diese Drittländer (die zum Teil mit der EU schon Vereinbarungen haben) werden freilich mit London gar keine Handelsvereinbarungen eingehen, bis sie das endgültige Ergebnis der Verhandlungen mit der EU kennen. Insofern macht es gar keinen Sinn, in der Übergangsphase mit Drittländern über allgemeine Vorgespräche hinaus zu verhandeln. Im Übrigen werden sich viele dieser bilateralen Verträge an den Abmachungen der Drittländer mit der EU orientieren, weil das in deren Interesse ist – hier wird die Marktmacht der großen Wirtschaftszone ihre Wirkung entfalten. Ohnehin würden die Briten in ein heilloses Dilemma geraten, sollten sie ihre Handelspolitik nicht mit der EU arrangieren – denn die ist die größte Handelspartnerin des Königreichs und wird es bleiben, und je weiter man sich von ihren Regelungen entfernt, umso größer wird das Risiko, dass dieser Handel darunter leidet. Aber das wird von den Brexitern verschwiegen. Abgesehen davon: Noch ist Großbritannien nicht einmal eigenständiges Mitglied der Welthandelsorganisation WTO.

Welche Lösung für die irische Insel?

Auch die wenig detaillierten, wenn auch entgegenkommend klingenden Vorschläge für eine Zollpartnerschaft nach dem Übergang sind wohl nur dazu da, Brüssel zu einem Nein zu bewegen. Die britische Regierung erweckt den Eindruck, dass sie harte Grenzen mit Kontrollen und Zollkalamitäten vermeiden will – wohl wissend, dass diese die zwangsläufige Folge der Entscheidung sind, aus Binnenmarkt und Zollunion auszutreten. Ziel ist, die heute schon erkennbaren Probleme der Trennung als Folge europäischer Fisimatenten darstellen zu können. Ganz deutlich wird das beim irischen Grenzproblem. Da gibt es nur drei Möglichkeiten einer Lösung. Entweder die nach dem Austritt aus der EU nötige kontrollierte Grenze verläuft zwischen der Republik und der britischen Provinz. Oder es wird die Außengrenze der Republik sein, die EU bekäme damit trotz Binnenmarkt eine interne Grenze. Oder die Grenze liegt in der Irischen See (also praktisch in den britischen See- und Flughäfen). Die erste Lösung will niemand, um den Friedensprozess auf der grünen Insel nicht zu stören, weshalb die Regierung May nun in ihrem Papier die Position der Retterin der offenen Grenze eingenommen hat. Die zweite Lösung wird Dublin nicht akzeptieren (Irland wäre damit EU-Mitglied zweiter Klasse) und sie wird bei allen EU-Partnern auf Widerstand stoßen. Die Seegrenze wiederum will London nicht, weil damit Nordirland langfristig näher an die Republik rücken würde (als Quasi-Teil der EU) und die Bindung zum „Mutterland“ sich lockern könnte. Die Nordiren sind gespalten - Katholiken werden der Dubliner Linie folgen, Protestanten der Londoner. Kommt es zu Lösung eins oder drei, was wahrscheinlich ist, wird die britische Regierung das, siehe oben, ihrer Bevölkerung als Diktat der EU verkaufen.

Verfahrene Debatte

Die Briten haben sich verrannt, das gilt für Konservative wie Labour, indem sie jede Möglichkeit zwischen einem harten Brexit, dem Austritt ohne engere Bindung an die EU, und der weiteren EU-Mitgliedschaft ausgeschlossen haben. Dabei wäre eine Quasi-Mitgliedschaft in der EU, wirtschaftlich drin, politisch draußen, die vernünftigste Lösung. So ähnlich wie Norwegen. Man hätte zwar keine formelle Mitsprache und müsste Geld geben ohne parlamentarische Vertretung, aber dass ein Partner wie Großbritannien in Brüssel in dieser Konstellation gar kein Gehör finden würde, kann nur glauben, wer die Verteufelung der EU durch fanatische Europa-Gegner für Tatsachenberichte hält. Aber die Fanatiker haben die Europa-Debatte in Großbritannien seit Jahren bestimmt, auch deshalb, weil die Gegenstimmen nicht laut genug und nicht kämpferisch genug waren.

In einer Analyse der verfahrenen Debatte über eine Übergangsphase schreiben die beiden Londoner Ökonomen Anand Menon und Jonathan Portes: „Abseits des politischen Rauchs und der Spiegelfechtereien scheint klar zu sein, dass die Regierung die Vorstellung praktisch aufgegeben hat, man könne darüber reden, wie ein neues Post-Brexit-Arrangement mit der EU aussehen kann. Stattdessen konzentriert sie sich auf das Ersinnen von Abmachungen, die ihr die Aussage erlauben sollen, dass wir tatsächlich die EU verlassen haben, während man die Grundlagen der wirtschaftlichen Beziehungen zur EU für eine begrenzte Zeit beibehält, bis eine künftige Handelsvereinbarung ausgehandelt (und vielleicht auch umgesetzt) ist.“ Mit anderen Worten: Es wird zur Täuschung der britischen Bevölkerung (jedenfalls der Austrittsbefürworter) eine Fassade geziommert, hinter der sich der Status Quo verbirgt. Und das möglicherweise nicht nur für die Übergangsphase, sondern darüber hinaus, wenn beide Seiten zum Schluss kommen, dass das politisch und wirtschaftlich sinnvoll ist. Aber zu dieser Verschleierung des Einknickens gehört eben das „blame game“.

So agieren die Briten mit einer unglaublichen Doppelbödigkeit. Dabei wird die Tatsache, dass die Europäische Union an einer machbaren Lösung interessiert ist, schamlos ausgenutzt. Das britische Brexit-Spiel wäre gar nicht möglich, wäre die EU nicht der große, funktionierende Wirtschaftsraum und der alles in allem verlässliche politische Partner, der sie ist. Die EU hat mit dem Binnenmarkt das Problem gelöst, wie gut zwei Dutzend Staaten in enger Nachbarschaft wirtschaftlich miteinander kooperieren können und handelspolitisch miteinander klarkommen, ohne sich in einer Vielzahl von bilateralen Vereinbarungen zu verzetteln. Der Zusammenhalt der EU ist eine Voraussetzung dafür, dass das Brexit-Abenteuer nicht böse endet. Das Interesse der EU an einem vernünftigen Deal ist das Netz, auf das sich die Londoner Hochseilartisten verlassen.

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