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Die britische Premierministerin Theresa May.

© Dylan Martinez/Reuters

Großbritannien: Brexit im Guten - oder Sturz über die Klippe?

Der Weg ist frei für den EU-Austrittsantrag - Premierministerin Theresa May wird ihn bald stellen. Doch verhandelt sie aus einer Position der Stärke? Oder segelt Großbritannien unsicheren Zeiten entgegen?

Monty Pythons „Der Sinn des Lebens“ hat einen herrlich spaßigen Vorspann, in dem ältere Angestellte der Crimson Permanent Assurance Company ihr hartes Los als abhängig Beschäftigte nicht mehr ertragen, das marode Bürogebäude in London zum Piratenschiff umdeuten und als Freibeuter-Crew hinaussegeln auf die offene See, um es besser zu haben.

Der Film von 1983 ist eine Satire auf den damals durchstartenden Finanzkapitalismus, und die Altherrentruppe der britischen Versicherungsgesellschaft macht sich mit ihrem alten Kahn auf, es den Geldpalästen an der Wall Street und überall auf der Welt zu zeigen. Es war vielleicht auch ein Seitenhieb auf das generationenalte Selbstverständnis der Briten, die in Not und großer Gefahr (und gern auch ohne Not) die Rolle des eigenen Landes in der Welt und in Europa auf den Satz „very well alone“ reduziert.

Ein bisschen erinnert die Filmszenerie an die Vorstellungen der eifrigen Brexiter, nur dass die Austrittspiraten aus der Gefangenschaft in der Europäischen Union ausbrechen wollen, die das eigene Land niederhält und in den Strudel ihres Niedergangs hineinzuziehen droht. Dass der Kontinent mal wieder am Sinken ist, das ist für viele „Leave“-Anhänger eine gar nicht erst hinterfragte Glaubensgewissheit. Also segeln sie, lauter echte Swashbucklers, auf das offene Meer hinaus, auf der Suche nach neuen Handelsverträgen mit allen und jedem in der globalisierten Welt. Unter dem Banner des Freihandels verlässt Großbritannien die größte Freihandelszone der Welt, um sich und allen zu beweisen, dass das von Vorteil ist.

Die Uhr beginnt zu ticken

Nach der zweiten Runde des Gesetzes zum EU-Austrittsantrag im Unterhaus und dem Einlenken des Oberhauses, das nicht mehr auf Ergänzungen zum Gesetz insistierte, kann Premierministerin Theresa May nun den Noch-Partnern in der EU das Gesuch übermitteln. Formell wird sie das erst Ende des Monats tun. Freilich laufen die Vorbereitungen für die Austrittsgespräche in London, Brüssel und in den EU-Hauptstädten seit Monaten. Im April treffen sich die EU-Regierungschefs ohne May, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Zwei Jahre hat man Zeit, um den Austritt zu verhandeln.

May will in der Zeit am liebsten auch eine neue Partnerschaft aushandeln, doch dürfte das schwierig werden – eher laufen die Gespräche auf eine Übergangslösung hinaus, in der Großbritannien noch für einige Zeit eine Art geduldetes Mitglied im Binnenmarkt ist, mit Zugangsrechten, aber auch Zahlungspflichten. Ein neues Handelsabkommen wird längere Zeit in Anspruch nehmen.

Die Monty-Python-Satire endet damit, dass die Fregatte den Rand der Welt erreicht (die Vorstellungen der Piraten über die Gestalt der Erde hatten sich als „disastrously wrong“ erwiesen) und über die Kante stürzt. „Falling off the edge“ ist auch eine Befürchtung, die in der Brexit-Debatte eine Rolle spielt. Sie bezieht sich darauf, dass die Verhandlungen mit der EU ganz ohne Ergebnis enden könnten, also ohne Vereinbarung über die künftigen Handelsbeziehungen.

Eine Zollunion mit der EU als Ziel

May würde ihr Land gern in einer Zollunion mit der EU verbinden. Freilich ist nicht sicher, ob und wie weit sie das erreichen kann. Der Minister für den EU-Austritt, David Davis, hat daher gerade erst darauf hingewiesen, dass ein Ende der Verhandlungen mit der EU ohne Ergebnis zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich sei und dass man sich daher darauf einstellen müsse. Außenminister Boris Johnson meint, das wäre „perfectly o.k.“ May selbst sagt seit längerem, „kein Deal ist besser als ein schlechter Deal“ – was ihr am Dienstag im Unterhaus die Entgegnung von Labour-Chef Jeremy Corbyn eintrug, „kein Deal ist ein schlechter Deal“.

Der Linke Corbyn ist damit nah an der Einschätzung des britischen Arbeitgeberverbands, der ein No-Deal-Szenario als „Rezeptur für Chaos an mehreren Fronten“ bezeichnet. Ohne einen Deal, ob nun Handelsvertrag oder Übergangsvereinbarung, wäre Großbritannien auf die Regeln der Welthandelsorganisation zurückgeworfen. Die würden den Handel zwischen der Insel und dem Kontinent zwar nicht stoppen, drastische Zölle drohten damit nicht. Aber es gäbe eben Zollschranken, die den Handel wegen der aufwendigen Formalitäten behindern. Insbesondere Unternehmen, die europaweite Liefer- und Produktionsketten nutzen, könnten dann Großbritannien als Produktionsstandort infrage stellen.

May hat bisher wenig Fehler gemacht. Ihre Tory-Partei, der nach dem EU-Referendum im vorigen Juni die Spaltung drohte, hat sie erfolgreich hinter sich gebracht, auch dank einer stärker nationalen Rhetorik. May hat die Konservativen zur Partei der 52 Prozent gemacht - das war der Leave-Anteil beim Referendum. Zudem vermittelte sie den Eindruck, die Zuwanderung aus der EU stoppen zu können - ein wichtiger Punkt in der Kampagne der Austrittsbefürworter, zu denen May nicht gehört hatten.

Doch ob der Eindruck lange anhält, ist unklar. Denn selbst Brexit-Minister Davis musste unlängst eingestehen, dass es schwierig werden wird, die Arbeitsplätze, die mit EU-Ausländern besetzt sind, in kurzer Zeit mit Briten zu füllen. Wie es aussieht, ist Großbritannien noch auf Jahre hinaus auf Zuwanderung angewiesen. Das Eingeständnis, Zuwanderung gar nicht stoppen zu können, ohne die britische Wirtschaft zu lähmen, dürfte bei eingefleischten Europa- und Migrationsgegnern nicht gut ankommen.

In Schottland bahnt sich Opposition an

Dass Labour sich nicht als Partei der 48 Prozent positionieren will, weil gerade in der nordenglischen Arbeiterschaft der Anteil der Brexit-Befürworter groß ist, und die pro-europäischen Liberaldemokraten vorerst nicht punkten, kommt May bisher entgegen. Es gibt keine kräftige Opposition gegen ihre Austrittspolitik, es gibt keine kräftige Bewegung, die für ein Verbleiben in der EU streitet. Das könnte sich aber ändern.

Dass die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon nun ein zweites Unabhängigkeitsreferendum noch vor Abschluss der Austrittsgespräche ins Auge fasst, bringt May unter innenpolitischen Druck: Zeichnet sich ein Deal ab, der ungünstig ist für Schottland, riskiert die Premierministerin den Zusammenhalt der Union, den sie immer als eines ihrer Hauptanliegen bezeichnet. In Nordirland ist die Lage durch das gute Abschneiden der katholischen Sinn-Fein-Partei bei der Wahl vor zwei Wochen für May nicht günstiger geworden.

Was May ihren kräftigen Auftritt zudem erleichtert hat, ist das Florieren der britischen Wirtschaft. Wachstum und Binnennachfrage sind nach dem Brexit-Referendum nicht eingebrochen, was manche Austrittsgegner im vorigen Jahr prophezeit hatten. Auch die hohen Hauspreise, im Eigentümerland Großbritannien ein gravierender Faktor, sind kaum geringer als vor einem Jahr. Das ist für die Stimmung im Land insofern wichtig, als viele Hauskäufer auf steigende Preise setzen, um weiterverkaufen zu können. Dass das Pfund sich seit dem Absturz unmittelbar nach dem Referendum kaum erholt hat (und zuletzt wieder stärker schwächelte), scheint im Land selbst keine große Rolle zu spielen – noch schlagen die höheren Importpreise nicht allzu sehr auf den Konsum durch.

Abhängig von Kapitalzufuhr

Nach mehr als zwei Dekaden wachsender Prosperität, jedenfalls in der Mitte und vor allem bei den Gutverdienern, ist der Wirtschaftsoptimismus immer noch kräftig. Das Land fühlt sich stark. Die Krisenjahre in den Siebzigern, als das Königreich beim Internationalen Währungsfonds anklopfen musste, sind längst verdrängt.

Großbritannien hat sich seither allerdings immer stärker von der Finanzbranche abhängig gemacht. Seit Jahren strömen Milliardensummen aus aller Welt ins Land, stützen den Konsum und verhindern einen Einbruch am überteuerten Immobilienmarkt. Daher ist es von zentraler Bedeutung für May, dass der Finanzsektor in Großbritannien in den Verhandlungen mit der EU nicht nachhaltig geschwächt wird. Dass Banken und Finanzinstitute Geschäfte und Firmensitze in die EU verlagern müssen, ist wohl unumgänglich, wenn Großbritannien aus dem Binnenmarkt ausschert. In Grenzen ist das verkraftbar, doch wenn der Exodus größere Ausmaße annimmt, wird es gefährlich für May.

Das Centrum für Europäische Politik in Freiburg sieht zudem klare ökonomische Warnsignale. Die Kreditfähigkeit des Landes verfalle fast kontinuierlich seit 2008, heißt es in einer Analyse vom Dienstag. Seit 2012 würden mehr als hundert Prozent der verfügbaren Einkommen in den Konsum gesteckt – anders gesagt: Die Briten leben über ihre Verhältnisse. Dabei nehme die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft weiter ab. Der zur Deckung nötige Kapitalimport wächst.

Das Fazit von CEP-Chef Lüder Gerken lautet: „Die Erosion der Kreditfähigkeit schwächt die Verhandlungsposition der Briten gegenüber der EU.“ Das Finanzieren von Konsum über Kapitalzufuhr aus dem Ausland „funktioniert nur eine bestimmte Zeit“. Eine Wirtschaftskrise während der Austrittsverhandlungen aber würde die Gespräche für die Briten kaum einfacher gestalten.

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