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Globalisierung und Anti-Terror-Gesetze: Flugreisen im Wandel der Zeit: Auf Gottes Flugrouten oder: Was Airportkaplane erleben

Immer mehr Menschen fliegen immer öfter, auch das ist Globalisierung. Aber heute ist Fliegen keine Freude mehr, sondern Beklemmung. Sagt Chester Cook und wird es wissen. Er ist Kaplan in Atlanta, am größten Airport der Welt.

Als wollten sie ewigen Tribut dafür zahlen, dass sie sich in ein Element vorwagen, das nicht ihres ist, machen die Menschen ihre Flughäfen zu universell unwirtlichen Orten. Zu Transitland mit grellem Neonlicht, metallischer Lautsprecherbeschallung und Duftschwaden aus billigem Essen und Industriereiniger. Von hier aus steigen sie in die Luft, Menschen aus allen Ländern, Klassen und Altersgruppen. Der rasant zunehmende Flugverkehr ist ein Bild für die Globalisierung geworden. Die Flughäfen wuchern den Anforderungen mehr oder weniger termingerecht hinterher, und trotzdem wird der Takt aus Ankunft, Umsteigen, Abflug immer hektischer – und es fällt auf, dass hier und da Menschen dem Tempo nicht mehr standhalten. Chester Cook jedenfalls fällt es auf.

Eben hat er noch ungeduldig auf den Aufzugknopf gehämmert, dass der Fahrstuhl mal endlich komme; im Terminal F hat es einen Unfall mit einem Gepäckkarren an der Laderampe gegeben, da muss er hin. Dann kommt der Aufzug endlich, bringt ihn ins Erdgeschoss, und als er sich dort den Weg durch die Menge bahnt, sieht er an der Rolltreppe eine Frau und hält inne.

Die Frau ist mittelalt, mittelgroß und nahezu unsichtbar. Sie steht da, die Schultern hochgezogen, die Augen blicken hin und her, der Menschenstrom fließt um sie herum. Sie rührt sich nicht mehr.

Chester Cook geht zu ihr. „Kann ich Ihnen helfen?“

Die Frau schaut ihn an. „Reverend Dr. Chester Cook“ steht auf seinem Namensschild aus poliertem Messing. Er trägt eine hellbraune Baseballkappe, unter der quellen graue Locken vor. Sein Blick unter den dichten Brauen erscheint grimmig, doch wenn er zu sprechen beginnt, reißt er seine Augen auf, die hell sind und warm.

Die Frau zeigt ihm wortlos ihr Ticket, ihre Eintrittskarte in die Transitwelt, die ihr Feind geworden ist, als sie die Orientierung verlor und sich verlief. Cook kann ihr helfen. Er bringt die Frau da hin, wo sie hin muss. Die Starre fällt auf dem Weg ein wenig von ihr ab. „God bless you“, murmelt sie, als sie ihr Ziel erreicht haben. Gott segne Sie.

Cook ist ein ordinierter Priester der Methodistenkirche. 56 Jahre alt und ein untersetzter Mann; seine Bewegungen sind flink und seine Hände ständig in Bewegung. Er arbeitet seit 2002 als Chefkaplan auf dem Hartsfield-Jackson International Airport in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia, dem größten Passagierdrehkreuz der Welt. Chester Cook ist so etwas wie ein Schutzengel für die Gestrandeten der Globalisierung.

„Fliegen ist keine Freude mehr“, sagt er. „Fliegen bedeutet Stress und Beklemmung.“

Mehr als 95 Millionen Passagiere starten oder landen jedes Jahr in Atlanta. 260 000 Menschen am Tag. Und fast alle im Laufschritt. Cook sagt: „Reisende nehmen immer weniger wahr, was um sie herum passiert. Sie sehen keine anderen Menschen mehr.“ Als wären sie Roboter – oder wünschten, welche zu sein, damit sie besser hineinpassen in diese durchorganisierte Welt aus klackernden Anzeigetafeln und langen Gängen.

Cooks Mobiltelefon piept. Die Flughafenmitarbeiter werden mit einem internen SMS-System über alle außergewöhnlichen Vorfälle auf dem Laufenden gehalten. Die aktuelle Meldung gibt Entwarnung: keine Verletzten beim Unfall des Gepäckkarrens an der Laderampe. Chester Cook macht sich auf den Rückweg.

Nach 9/11 gingen die Besucherzahlen nach oben

1951 wurde in Boston die erste Flughafenkapelle in den USA eröffnet, es folgte New York. Seit den 1950er Jahren hat sich die Zahl der geflogenen Kilometer im Personen- und im Frachtverkehr mehr als verhundertfacht. 1982 – da wurde der Begriff „Globalisierung“ gerade populär – bekam Atlanta seine Kapelle. Da war die dortige Airport-Kapazität bereits auf 55 Millionen Passagiere pro Jahr erhöht worden. Zwei Jahre darauf entstand eine vierte Start- und Landebahn, die Zahlen wuchsen weiter. 2010 wurden weltweit 2,5 Milliarden Passagiere auf In- oder Auslandsflügen befördert. Inzwischen bieten mehr als 100 Flughafenkapellen rund um den Globus den Reisenden einen Raum für Meditation, Ruhe und Gebet; die meisten sind interreligiös und verzichten auf jegliche spirituelle Symbolik. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zog die Zahl der Besucher von Flughafenkapellen massiv an – und fiel seither kaum ab.

Für Chester Cook bedeutet das, dass er anders als seine Vorgänger, die etwa zehn Kaplane managten, Chef von 40 Seelsorgern ist. Imame sind dabei, Rabbis, katholische Dekane, außerdem Episkopale, Methodisten, Baptisten, Pfingstler und Vertreter der Heilsarmee. Ein Inder ist im Team, eine Schweizerin, ein Ägypter und mehrere Südamerikaner. Pro Tag sind etwa sechs Kaplane im Einsatz, einige arbeiten mit Teilzeitverträgen, andere als Freiwillige.

Cook hat sein Büro erreicht. Es befindet sich neben der größten der drei Kapellen am 2000 Hektar großen Flughafen und damit außerhalb der Sicherheitskontrollen. In der Kapelle stehen 30 Stühle mit dezentem blauem Bezug. Ein Tisch mit Blumengebinde dient als Multifunktionsaltar. Es ist ganz still hier, beunruhigend still nach dem Trubel draußen, als sei der Ton plötzlich abgeschaltet.

Cook lässt sich in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch fallen. Die Regale in seinem kleinen, fensterlosen Büro sind vollgepackt mit Büchern, Fotos, Magazinen und religiösem Nepp, kleinen Geschenken von Kollegen aus aller Welt. Bevor er als Flughafenseelsorger in Atlanta anheuerte, arbeitete er elf Jahre lang als Gemeindepfarrer in vier verschiedenen Kirchen. „Ich mache mir nicht viel aus Religion“, sagt Cook aber jetzt mit einem kleinen, ketzerischen Lächeln. „Beziehungen zwischen Menschen sind wichtiger.“

Das kann er am Flughafen Tag für Tag lernen. Die Beziehungen müssen stimmen. Stress und Beklemmung beim Fliegen verschlimmerten sich dramatisch nach 9/11, dem letzten großen Ausbruch zutiefst gestörter Beziehungen,

schwollen manchmal bis ins Hysterische an. Der permanente Aufruf zu Wachsamkeit und Misstrauen wirke aufreibend wie auch einschüchternd, was besonders für die weniger Wehrhaften gelte, die unerfahrenen Reisenden, die ganz Jungen, die Alten, die Angeschlagenen. „Wenn dann noch eine persönliche Krise dazukommt“, sagt Cook, „Trennung, Krankheit oder ein Todesfall in der Familie, dann sind die Menschen einfach überfordert.“

Er hat einen Blick für diese Überforderten entwickelt. Man müsse auf die Augen achten und auf die Körpersprache. Bei der verlorenen Frau an der Rolltreppe zum Beispiel. Oder bei dem Herrn im zu weiten Anzug, der auf einer Bank kauert. Der aus Wolgograd kommt und nach Vermont will, der seit 40 Stunden unterwegs ist und dessen Anschlussflüge so oft verspätet waren und umgebucht wurden, dass er jetzt nicht mehr weiterwill. Der Kaplan geht mit ihm zum Transferschalter, verhandelt mit der Fluglinie, sorgt schließlich dafür, dass der Mann in der nächsten Maschine mitfliegen kann. Das sind seine einfachen Fälle.

Manchmal sind die Probleme der Menschen aber größer als die Möglichkeiten des Kaplans. Da waren die drei Geschwister, die von einem Schüleraustausch in Deutschland zurückkamen. Die Eltern wollten sie abholen und starben auf dem Weg zum Flughafen bei einem Autounfall. Da war der Geschäftsmann, der in der Flughafenbahn zwischen zwei Terminals einen Herzinfarkt erlitt und starb. Cook war bei ihm bis zum Ende. Da ist die kleine Ehrenwache am Flugzeug, wenn die Särge von Soldaten, eingehüllt in eine US-amerikanische Flagge, in Atlanta ankommen oder umgeladen werden.

Cook erinnert sich auch an eine Familie, die eines Tages vor der Flughafenkapelle stand, Vater, Mutter, drei Kinder. Sie waren nach Atlanta gekommen ohne alles, auf der Suche nach Arbeit und einem neuen Leben. Kurz vor der Stadtgrenze blieb ihr Auto liegen. „Ich weiß nicht, wie manche Leute zum Flughafen kommen“, sagt der Kaplan. „Sie sind plötzlich einfach da.“ Weil Flughäfen eine Infrastruktur bieten und ein Stück Sicherheit. Cook konnte nichts für sie tun, außer ihnen etwas zu Essen zu kaufen. Am nächsten Tag waren sie immer noch da und auch am Tag danach. Dann waren sie verschwunden.

Die Airportseelsorger treffen sich jährlich - 2013 in Atlanta

Anders als viele Flughafenseelsorger hat Cook ein kleines aus Spenden finanziertes Budget – für ein Ticket, eine Umbuchungsgebühr oder eine warme Mahlzeit. Es würden natürlich auch immer wieder Leute versuchen, die Kaplane auszunehmen. Deshalb stellt Cook Fragen. Viele Fragen. Lässt sich die Geschichten erzählen, von Anfang bis Ende und mit Details. „Ich habe feine Antennen dafür entwickelt, wer ehrlich ist und wer nicht“, sagt er.

In diesem September ist Cook Gastgeber der internationalen Konferenz der Flughafenseelsorger. Etwa 100 Kaplane aus aller Welt kommen nach Atlanta und tauschen sich über ihre Arbeit aus. Auch vier Seelsorger aus Deutschland sind dabei. Es gebe durchaus regionale Unterschiede bei den Themen, die die Kaplane bewegen, sagt Cook. Bei dem Treffen in Australien 2012 sei es vor allem um Menschenhandel gegangen, in Südafrika um Aids, in Schottland um die Arbeiter auf den Ölplattformen. Viele europäische Kaplane berichten von Asylsuchenden, deren Endstation der Flughafen ist.

Sein Mobiltelefon schrillt, Cook wirft einen kurzen Blick auf das Display, winkt ab. Jedenfalls sei der Flughafen überall auf der Welt der falsche Ort für Mission und Bibelexegese. Da hat Religion ein pragmatisches Gesicht. „Die Bedürfnisse der Menschen sind meistens sehr praktisch“, sagt der Kaplan.

Nicht nur und nicht immer, findet dagegen Claudette Curtas. Sie ist Hilfskaplanin in Cooks Team, stammt aus der Schweiz und wanderte als junge Frau in die USA aus. Ursprünglich wollte sie Stewardess werden, „aber dann kam es immer wieder anders“. Curtas ist Anfang 50, eine hoch gewachsene Frau mit auffallend großen und glitzernden Augen. Damit scannt sie die Menschen, während sie ihre Runden durch die Terminals macht. Ihr Gang ist federnd, ihre leuchtend rote Tasche baumelt über der Schulter.

„Ich dränge den Leuten die Religion nicht auf“, sagt Curtas. „Manchmal erwähne ich nicht einmal, dass ich Seelsorgerin bin.“ Doch sie erlebe bisweilen, dass Menschen sie ansprechen und in ein Gespräch verwickeln – „über das Leben, über die Suche, über Glauben und Gott“. Besonders oft sei das in der Zeit nach 9/11 passiert. „Die Reisenden waren damals sehr offen für spirituellen Einfluss. Mehr als je zuvor.“ Die akute Angst sei seither abgeflacht, aber Beklemmung und Stress seien geblieben als ständige, latente Begleiter im Flugbetrieb, das sieht sie wie Chester Cook.

Claudette Curtas leitet mit ihrem Mann Paul die Gemeinschaft des christlichen Flugpersonals, eine internationale Non-Profit-Organisation mit Sitz nahe Atlanta. Ihre besondere Zielgruppe: Flugbegleiter, Piloten, Bodenpersonal.

An diesem Nachmittag macht Curtas Stopp in der Lounge für die Flugbegleiter von Delta Airlines, deren Heimatflughafen Atlanta ist. Ein kühler Keller, in helles Licht getaucht; schwarze Koffer lehnen an Betonpfeilern und vor den Schließfächern aus Blech. Die Flugbegleiter kommen und gehen, manche sitzen in schwarzen Sesseln, essen hastig Mitgebrachtes aus Plastikbechern. Einige unterhalten sich; die meisten schweigen.

Curtas macht eine Ansage per Lautsprecher: Wer Gesprächsbedarf habe oder ein Gebet sagen wolle, der möge in Raum C kommen. „Manchmal kommt keiner, manchmal kommen 20.“ An diesem Tag kommt eine einzelne Flugbegleiterin. Behutsam betritt sie den kargen Konferenzraum mit einem Tisch und vier Stühlen. Sie setzt sich, lacht, streicht sich ein paar dunkle Haarsträhnen aus dem hageren Gesicht und zupft an ihrem roten Halstuch. Sie beginnt zu reden, atemlos, sie kennt die Seelsorgerin, seit sie vor drei Jahren an Brustkrebs erkrankt ist, aber jetzt sei sie krebsfrei, berichtet sie, gerade war sie wieder zur Nachsorge, und alles ist in Ordnung. Sie streckt ihre Fäuste zu einer klitzekleinen Jubelgeste.

Aber ihrer Schwester gehe es schlecht, die leide unter Depressionen. Sie habe gestern Abend noch mit ihr telefoniert, sagt sie, aber jetzt müsse sie fliegen und könne gar nichts tun. „Das bedrückt mich. Sehr.“ Dann lacht sie wieder, wie zur Entschuldigung, ihr Make-up wirkt schwer in dem fahlen Licht, ihre Augenlider flackern. Curtas hört zu, liest ein paar Bibelverse, spricht ein kurzes Gebet für die Flugbegleiterin und die Schwester. Die Flugbegleiterin nickt, steht auf. Danke, sagt sie. Und: Bis zum nächsten Mal dann.

Bei den meisten Begegnungen auf dem Flughafen gibt es kein nächstes Mal. Nur selten sehen die Seelsorger die Menschen wieder, mit denen sie gesprochen oder denen sie geholfen haben. Manchmal kommt Wochen später eine Postkarte, „aber das ist wirklich eine Ausnahme“, sagt Chester Cook. Und darum gehe es ja auch gar nicht, um Dankbarkeit. „Wir können die Menschen ohnehin nicht auf ihrer ganzen Reise begleiten. Aber manchmal können wir ihnen mit dem nächsten Schritt helfen.“

Katja Ridderbusch

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