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Um den "Zauberbann" nicht zu brechen, müssen totalitäre Systeme wie der Nationalsozialismus immer sensationellere "Piècen" in Szene setzen, schrieb Wilhelm Röpke 1947.

© Bundesarchiv, Bild 183-H12148 / CC-BY-SA 3.0

Tagesspiegel vor 70 Jahren: Soziologie des Totalitarismus

Über den Weg von Bismarck zu Hitler und was danach kommen sollte, schrieb der Ökonom und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke am 20. Juli 1947 im Tagesspiegel.

Ich fürchte, viele werden mir Ungerechtigkeit vorwerfen, wenn ich behaupte, daß Bismarcks Genie nur in der Fähigkeit bestand, unangenehme Lagen, die er selbst geschaffen hatte, zu meistern. Das ist zumindest eine sehr relative Größe, und da er im übrigen Zyniker und moralischer Nihilist war, konnte seine Herrschaft nur böse Folgen haben. Wenn man ihn nach seinen moralischen Eigenschaften und nach den eigentlichen Früchten seines Regimes beurteilt, erkennt man, daß er seinen Zeitgenossen Gladstone und Cavour weit unterlegen war. Man muß sich stets vergegenwärtigen, daß die Einigung Deutschlands, die Bismarck im Jahre 1866 mit "Blut und Eisen" begann und 1871 mit' der gleichen abstoßenden Methode vollendete, nicht die Grundlage geschaffen hat, auf der das deutsche Problem in Zukunft in der richtigen und für alle Teile sicheren Weise gelöst werden könnte. Im Gegenteil hat dieses vielgerühmte Einigungswerk über die einzelnen Etappen 1914, 1933 und 1939 zur größten aller Katastrophen geführt. Da man jetzt weiß, daß der Weg, den Bismarck das deutsche Volk geführt hat, mitsamt seinem Ausgangspunkt verhängnisvoll falsch war, bleibt nichts anderes übrig, als von vorn anzufangen und in entgegengesetzter Richtung zu gehen. Das heißt, man muß versuchen, all die Kräfte wiederzuerwecken, die von 1866 an auf die brutalste Weise von Bismarck unterdrückt worden sind, also die Kräfte des Föderalismus, des regionalen Patriotismus, des Liberalismus und der Demokratie.

Man darf ruhig sagen, Deutschland hat unter dem Druck der ihm vom Stil des Bismarckreiches aufgezwungenen neuen Lebensform seine Seele verloren. Je weiter der Prozeß der politischen und wirtschaftlichen Verpreußung fortschritt, desto beherrschender wurde die Mentalität des Typs, den man den "Bismarck-Deutschen" nennen könnte. Diesem Typ war aufgegangen, daß "geschickt inszenierte Handstreiche wirksam sind", und wenn er auch in der Minderzahl war, so hat er doch in der Zeit von Bismarck bis Hitler den Ton angegeben. Man darf nicht vergessen, daß die meisten von denen, die später passive oder aktive Gegner oder Anführer der Revolte gegen Hitler wurden - Pastor Niemöller und die an dem mißlungenen Putsch vom 20. Juli 1944 Beteiligten nicht ausgenommen -, "Bismarck-Deutsche" sind, deren Charakterschwäche zu Beginn des Hitlerregimes die spätere Katastrophe verschuldet hat. Zu spät erkannten sie ihren furchtbaren Irrtum, und wenn ihnen bis heute noch nicht klar geworden ist, daß sie die Verantwortung hatten, muß man ihnen diese Tatsache nachdrücklich vor Augen führen. Das entscheidende Moment allerdings bleibt, daß aus diesen Männern tatsächlich Gegner des Nationalsozialismus geworden sind, zum Teil äußerst mutige und erbitterte Gegner, denen in den meisten Fällen irgendwelche opportunistischen Gründe fernlagen. Bei der überwiegenden Mehrzahl forderten die vorübergehend verschüttet gewesenen christlichen und humanitären Überzeugungen ihr Recht. Sie erkannten, daß diese Forderungen ihres Gewissens den preußischen Wertmaßstäben, denen sie bis dahin gehuldigt hatten, überlegen waren, ja im feindlichen Gegensatz zu ihnen standen. Wenn man die traurige Liste der Opfer nationalsozialistischer Henker und Konzentrationslager durchgeht, muß man feststellen, daß viele dieser Männer - so der frühere Botschafter von Hassell, der preußische Finanzminister Popitz und hundert andere, die in bestialischen Exekutionen ihr Leben verloren - durch ihre heroische Haltung ihre früheren Verfehlungen ehrlich gesühnt haben. Ihr Schicksal zeigt deutlicher als alles andere, wie brüchig und verderblich der Patriotismus des Bismarck-Deutschen war. Der Preis, den Deutschland dafür zu zahlen hat, daß es sich seit 1933 immer mehr in den Preußenkomplex verrannte, ist so ungeheuerlich, daß man hoffen kann, der Schlag werde diesmal gesessen haben. Sehen die Deutschen jetzt endlich ein, daß die sogenannte "Realpolitik", mit der ihre Führung soviel geprahlt hat, nicht nur gegen die Gebote der Moral verstößt, sondern auch ausgesprochen unklug ist? Begreifen sie, daß das großartige Bismarckreich ein katastrophaler Irrtum und das Einigungswerk dieses Mannes ein Schwindelgebäude war, das nur durch Wahnsinnstaten vor dem Einsturz bewahrt werden konnte? Daß Deutschland sich ohne preußische Führung, ohne geeinten Staat, mit demokratischen, regionalen Staatsgebilden zu einem echten Deutschen Bund entwickeln muß?

Aber neben der "deutschen Komponente" des "Dritten Reiches" bleiben die allgemeinen Ursachen des Nationalsozialismus, bleibt seine "universelle Komponente". Das Hitlerregime ist als eine Abart jener kollektivistischen tyrannischen Massenregime zu betrachten, von denen der französische Historiker und Soziologe E. Halévy in seinem Buche "L'Ere des Tyrannies" - "Die Aera der, Gewaltherrschaften" (1938) - spricht, und die er, gleichgültig ob sie unter dem Namen "Faschismus", "Kommunismus" oder "Nationalsozialismus" die Welt zu verführen suchen, als für unser Zeitalter typisch erklärt. In allen Fällen hat eine aus den Massen aufgestandene und sich mit den Mitteln der Schmeichelei und der Einschüchterung auf diese Massen stützende Minorität rücksichtslos und gewalttätig die Funktionen des Staates an sich gerissen. An ihrer Spitze steht immer und überall ein "charismatischer Führer", um mit Max Weber zu sprechen, und im Gegensatz zur echten Diktatur betrachtet sie ihre Gewaltherrschaft nicht als vorübergehendes, durch die Not der Verhältnisse gerechtfertigtes Mandat, das unter normalen Umständen wieder an den legitimen Bevollmächtigten des Volkes zurückgehen muß, sondern als normale, für die Dauer gültige Staatsform. Und sie ist stets in einer hierarchischen, das gesamte politische Leben monopolisierenden und sich mit dem Staate identifizierenden Partei organisiert. Alle diese Systeme haben die gleichen Charakteristika: alle machen marktschreierisch für sich selber Reklame, alle suchen dauernd nach neuen Mitteln und Wegen, die Massen in Bewegung zu halten, um zu verhüten, daß sie zu einem ausgeglichenen, normalen, stetigen Gemeinschaftsleben zurückkehren. Alle diese kollektivistischen Systeme werden von Massenbewegungen getragen, ohne die sie nicht existieren könnten. Sie wenden all ihre Tatkraft ihren Erfindungsgeist und ihre Propagandakunst auf, um sich den Massen in günstigem Lichte, zu zeigen, und sie verhindern jede Information über die Außenwelt, die zu unbequemen Vergleichen verführen könnte. Jedes Wort und jede Geste ist auf die Massen berechnet, und die Wirkung auf die Massen wird genauestens registriert und kontrolliert.

Durch dieses Massenelement unterscheidet sich die moderne totalitäre Tyrannei am auffallendsten von allen sonstigen Formen des Despotismus, der Diktatur und des Absolutismus. Da der moderne Totalitarismus keinerlei Rechtsanspruch besitzt, muß er seine ganze Regierungskunst darauf verwenden, irgendeinen Ersatz für diesen Rechtsanspruch und für die fehlende Macht über Herzen und Gemüter der Regierten zu finden. Daher die Notwendigkeit, die Meinung zu uniformieren und dem Volke den Willen des Staates aufzuzwingen. Daher der nervöse Eifer zu gefallen, das unaufhörliche Verlangen nach sensationellem Erfolge und das ängstliche Schielen nach den Massen, um festzustellen, ob sie auch einverstanden sind. Die Vertreter eines solchen Systems entbehren eben der inneren Gelassenheit, die die selbstverständliche Apanage einer legitimen Regierung ist, und sind darum doppelt empfänglich für Beifall und überempfindlich gegen Kritik. Sie leiden an Minderwertigkeitskomplexen, die sie unter bombastischem Auftreten zu verstecken suchen. Ein typisches Charakteristikum all dieser Gewaltsysteme ist ferner die Schwäche, den illegitimen, ephemeren Charakter ihrer Macht durch pompöse Monumente zu verdecken, die mit ihrer in eine grandiose Zukunft weisenden Architektur über die gähnende Leere in der Gegenwart hinwegtäuschen sollen. Daraus erklärt sich auch die Angst dieser Regime vor der Ruhe des alltäglichen Gleichmaßes; die Unsicherheit ihrer Struktur duldet keine Ruhe, sie müssen dauernd mit neuen "Coups", neuen Stimulantien aufwarten, um zu verhindern, daß die absichtlich in einen Dauerzustand der Erregung versetzte Bevölkerung sich abkühlt und die Dinge mit den nüchternen Augen der Vernunft ansieht.

Verhängnisvoller aber als alles andere an diesen totalitären Gewaltherrschaften der Moderne ist das völlige Fehlen jeder Norm, die Auflösung aller Grundwerte, ohne die keine Gesellschaft lange existieren kann, und ohne die vor allem keine wirkliche internationale Ordnung möglich ist, die perniziöse Anämie der Moral und der Zynismus in der Wahl der Mittel, die in Ermangelung echter Ziele zum Selbstzweck erhoben werden, der Nihilismus, der Satanismus. Dem nackten Machttrieb werden alle moralischen Prinzipien, alle Versprechungen, Verträge, Garantien und Ideale geopfert. Die Gefühle, die Ideale, an die appelliert wird, und die je nach Bedarf soziale Gerechtigkeit, nationale Solidarität, Friede, Religion, Familie, Wohlstand der Massen, internationales Recht, Schutz des kleinen Mannes gegen Industrie und Monopol, Unterstützung des Bauern und des Handwerkers oder Pflege von Kunst, Wissenschaft und Literatur heißen, dienen ausschließlich dem Effekt. Wenn man diese Erscheinungen in Verbindung mit der Geschichte soziologisch betrachtet, ist ohne weiteres zu ersehen, warum gerade eine solche aus der modernen Massengesellschaft erwachsene kollektivistische Tyrannis zum unersättlichen Imperialismus tendiert. Wie die Nächstenliebe beginnt der Imperialismus zu Hause. Von einem Regime, das sich keinen Deut um die Freiheiten und Rechte seiner eigenen Untertanen kümmert, kann man keinen Respekt vor den Freiheiten und Rechten anderer Nationen erwarten; und eine Regierung, die bei der Eroberung des eigenen Landes skrupellos bis zum äußersten vorgegangen ist, wird anderen Staaten gegenüber bestimmt keine Rücksicht walten lassen. Daß ein Herrscher, der sich durch Aufpeitschung der Masseninstinkte zur Macht gebracht hat, und der diese Macht ohne die dauernde Unterstützung der Massen nicht behaupten kann, versuchen wird, die ungeheuerlichen Leidenschaften des Nationalismus zu entfesseln, und daß er, um den Zauberbann nicht zu brechen, immer sensationellere "Piècen" in Szene setzen muß, deren unausbleibliche Folge schließlich Krieg, Raub und Plünderung sind, liegt ebenfalls auf der Hand. "Heute gehört uns Deutschland, morgen gehört uns die Welt", sang die Hitlerjugend. Der Impuls, die Macht, nachdem sie vertikal (national) gesichert war, horizontal (international) auszudehnen, wird noch verstärkt durch den Vampircharakter eines solchen Regimes. Denn wenn es im Inneren gierig alle verfügbaren Reserven an Geld und Menschenkraft aufgesogen hat, wird es naturnotwendig seine begehrlichen Augen auf die Reserven anderer Nationen richten; das Schlagwort vom "Lebensraum" wartet nur auf diesen "historischen" Moment, der unfehlbar eintreten wird, wenn, wie es bei Deutschland der Fall war, den Möglichkeiten kollektivistischer Autonomie durch die mangelnden nationalen Reserven eine Beschränkung droht. Es ist hierbei natürlich völlig ohne Belang, ob diese Begierde als Irredentismus, als legitimer Hunger der "Habenichtse" oder als defensives Streben nach "Sicherheit" getarnt wird.

Schon diese flüchtige Analyse der totalitären Tyrannis hat wohl ziemlich klar gezeigt, daß das Hitlerregime seinem ganzen Charakter nach für unser gegenwärtiges "Zeitalter der Gewaltherrschaften" typisch ist; mit der deutschen Geschichte Friedrichs des Großen, Bismarcks und Wilhelms II. hat es zwar geschichtlich, nicht aber soziologisch zu tun. Wir haben festgestellt, daß die moderne Massengesellschaft uind die moralische Auflösung die Hauptvoraussetzungen für die soziale Katastrophe sind, die sich in der Struktur der totalitären' Gewaltherrschaft manifestiert. Alle Länder der zivilisierten Welt sind mehr oder weniger von dem Prozeß soziologischer und moralischer Entartung in Mitleidenschaft gezogen worden, wobei der Grad des Mehr oder Weniger von den Reserven gesunder Vernunft bestimmt wird, die eine Nation gegen den Feind ins Feld zu führen hat. Der Totalitarismus ist das Endergebnis der zerstörerischen Wirkungen dieses Auflösungsprozesses, ein Kulminationspunkt, der unvermeidlich ist, sobald die Vernunftreserven sich als zu schwach erwiesen haben. Das Schicksal der Gesellschaft läßt sich mit dem eines amerikanischen Landstriches im mittleren Westen vergleichen, der jetzt nur der "Mülleimer" genannt wird. Der Boden dieses an sich fruchtbaren Gebietes ist von gierigen, nur auf Gewinn bedachten Elementen so rücksichtslos ausgebeutet worden, daß eines Tages auch die letzten Kraftreserven der geschändeten Erde versagten. Genau so ist der gesellschaftliche "Humus" von zerstörerischen Kräften zerfressen, worden, bis die kunstvolle Struktur der Gesellschaft wie der Boden im mittelwestlichen "Mülleimer" zu Staub und Asche zerfiel. Die Gesellschaft hat sich in einen gestaltlosen Haufen Sand verwandelt, der von den Stürmen der Massenhysterie bis zum Himmel emporgewirbelt werden und alles unter sich begraben kann. Wenn nun einerseits die deutsche Katastrophe als letzte Phase in dem Prozeß sozialer Erosion anzusehen ist, so bleibt andererseits durch die deutsche Geschichte, die Konstitution der deutschen Gesellschaft und den Nationalcharakter der Deutschen zu erklären, warum Deutschland zum Hauptopfer dieses Vernichtungsprozesses geworden ist.

In der Hauptsache sind es drei Gruppen von Deutschen, mit denen wir uns zu befassen haben: die kleine Kategorie der Hauptschuldigen, ob sie Parteimitglieder waren oder nicht; die ebenso kleine Kategorie der erwiesenen Anti-Nationalsozialisten, gleichgültig, ob sie im Konzentrationslager gesessen haben oder nicht; die überwältigende Majorität der mehr oder minder willigen, mehr oder minder unwissenden, mehr oder weniger fügsamen, mehr oder weniger dummen Elemente, mit anderen Worten die große Masse des menschlichen Durchschnitts, die weder Verbrecher noch Heilige oder gar Helden sind. Innerhalb dieser drei Hauptgruppen gibt es viele Untergruppen. Gerechtigkeit und Vernunft verlangen, daß die erste der drei Hauptgruppen mit äußerster Strenge bestraft wird, daß wir vor den Mitgliedern der zweiten den Hut abnehmen und ihnen die leitenden Funktionen im Lande übertragen, und daß wir dem überwiegenden Rest des deutschen Volkes die Chance geben, sich unter der gemeinsamen Führung von deutschen Anti-Nationalsozialisten und Persönlichkeiten der Aliierten bewähren zu können.

Tweets aus der Nachkriegszeit mit Zitaten und Beiträgen des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger und anderer Tagesspiegel-Autoren aus jener Zeit finden Sie hier.

Wilhelm Röpke

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