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Fußball-Diplomatie: Türkei gegen Armenien: Es geht um nichts – und um alles

Das türkisch-armenische Verhältnis ist ein zartes Pflänzchen. Die Nachbarn setzen die Annäherung mit "Fußball-Diplomatie" fort.

Sportlich gesehen ist das Spiel bedeutungslos – aber politisch ist es eine Sensation. Weder die Türkei noch Armenien können sich bei der Begegnung ihrer Fußball-Nationalmannschaften an diesem Mittwoch im nordwesttürkischen Bursa noch für die Fußball-WM im kommenden Jahr qualifizieren. Doch wenige Tage nach der Unterzeichnung der armenisch-türkischen Grundlagenverträge in Zürich will der armenische Präsident Serge Sarkisyan erstmals in die Türkei kommen, um sich das Spiel anzusehen. Die armenischen Fußballer sind schon da. Sie wurden bei der Ankunft beim türkischen Erbfeind mit Blumen begrüßt.

Auch sonst ist die Türkei entschlossen, sich an dem denkwürdigen Abend in Bursa von ihrer gastfreundschaftlichsten Seite zu zeigen. Dem armenischen Präsidenten soll ein „Iskender-Kebap“ serviert werden, ein Kebap-Gericht aus Bursa, das in der ganzen Türkei beliebt ist. Zum Nachtisch darf Sakrisyan eine süße Kastanienspeise kosten.

Großes Polizeiaufgebot

Damit Sarkisyan und sein türkischer Kollege Abdullah Gül im Atatürk-Stadion von Bursa keine unschönen Szenen auf den Rängen ansehen müssen, werden rund 3000 Polizisten während des Spiels im Dienst sein. Alle Zuschauer müssen Metalldetektoren passieren, bevor sie ins Stadion dürfen, nicht einmal Filzstifte sind auf den Rängen erlaubt, weil sie als potenzielle Wurfgeschosse gelten. Zivilpolizisten werden sich unter die Fans auf den Rängen mischen, um eventuelle Provokationen sofort unterbinden zu können. Nur türkische und armenische Fahnen sind im Stadion erlaubt – die Flagge des türkischen Verbündeten und armenischen Kriegsgegners Aserbaidschan darf nicht gezeigt werden.

Die akribischen Vorbereitungen zeigen, wie anfällig für Störungen die türkisch-armenische Annäherung noch ist. In Zürich unterzeichneten beide Seiten mehrere Protokolle, die unter anderem die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die Öffnung der geschlossenen Grenze und die Bildung einer gemeinsamen Historiker-Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der türkischen Massaker an den Armeniern im Jahr 1915 vorsehen. Kommende Woche will die türkische Regierung die Protokolle dem Parlament in Ankara zuleiten – wo sie allerdings nicht sofort zur Abstimmung gestellt werden. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündigt, dass dies erst geschehen soll, wenn sich im Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan etwas tut.

Schwindender Schwung

Der Streit um die von den Armeniern seit mehr als zehn Jahren besetzte Enklave auf dem Territorium Aserbaidschans bildet derzeit das größte Hindernis für weitere Fortschritte zwischen Ankara und Eriwan. Gül hatte die türkisch-armenische „Fußball-Diplomatie“ vor einem Jahr mit einem historischen Besuch in Eriwan beim Hinspiel der Fußball-Nationalmannschaft seines Landes angestoßen. Nach Sarkisyans Besuch wird in den kommenden Monaten die Hauptaufgabe beider Seiten darin bestehen, den in den vergangenen Monaten gesammelten Schwung nicht verpuffen zu lassen.

Seit der Unterzeichnung der Protokolle in Zürich melden sich auf beiden Seiten der Grenze starke Kräfte zu Wort, die für weitere Schritte werben. Dazu gehören Wirtschaftsvertreter. Lediglich 150 Millionen Dollar im Jahr ist der türkisch-armenische Handel derzeit wert, weil er über Georgien abgewickelt werden muss. Sollte die türkisch-armenische Grenze geöffnet werden, könne das Handelsvolumen auf 500 Millionen Dollar im Jahr ansteigen, schätzt die türkische Wirtschaftszeitung „Referans“. Die Türkei könne dann zudem das Bahnnetz nutzen, um Güter über Armenien nach Zentralasien zu exportieren. Eine Delegation armenischer Geschäftsleute hält sich derzeit zu Gesprächen in der Türkei auf.

Nicht jeder stellt sich allerdings so bereitwillig auf die neue Ära ein. Vor dem Spiel in Bursa entbrannte eine heftige Debatte um das Verbot, im Stadion die aserbaidschanische Flagge zu entrollen. Türkische Nationalisten stellten einen Eilantrag bei Gericht, um das Verbot wieder zu kippen. Die „nationalen Gefühle“ der Türken seien mit der Absage an die Flagge des aserbaidschanischen Partnerstaates verletzt worden, argumentierten die Kläger. Über Fußball redet in Bursa niemand.

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