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In großer Höhe auseinandergebrochen: Bei der Flugkatastrophe auf der Sinai-Halbinsel kamen alle 224 Menschen an Bord ums Leben.

© dpa

Update

Flugzeugabsturz über dem Sinai: Geheimdienste sollen Hinweise auf Bombe im Frachtraum haben

Was geschah an Bord des Unglücksflugzeugs? Nach dem Absturz der russischen Passagiermaschine über dem Sinai wird über die Ursache spekuliert. Ein Überblick aller Fakten und offenen Fragen.

Noch sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen, die Ursache für den Absturz der russischen Passagiermaschine über dem Sinai ist unklar. Doch in London und Washington hält man eine Bombenexplosion an Bord des Airbus A321 jetzt für wahrscheinlich. Die Maschine sei vermutlich von einem Sprengsatz im Gepäck oder anderswo im Flugzeug zum Absturz gebracht worden, heißt es. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) hatte am Mittwoch bekräftigt, man habe den Absturz herbeigeführt. Als Vorsichtsmaßnahme setzen Großbritannien, Irland und die Niederlande die Flüge nach Scharm el Scheich aus. Russland dagegen fliegt laut dem Luftfahrtamt in Moskau „ohne Veränderungen“. Mutmaßungen über einen Anschlag seien „Spekulation“.

Was ist über den Absturz bisher bekannt?

Der Airbus A321 war am Samstagmorgen kurz nach dem Start im ägyptischen Scharm el Scheich auf dem Weg nach St. Petersburg über der Sinai-Halbinsel abgestürzt. Ein Notruf wurde nicht abgesetzt. Alle 224 Menschen an Bord, zumeist Urlauber, starben. Nach Angaben russischer Ermittler brach die Chartermaschine in 10.000 Metern Höhe auseinander. Die Fluggesellschaft Kogalimawija, die unter dem Namen Metrojet fliegt, macht dafür „mechanische Einwirkung“ verantwortlich.

Menschliches Versagen, etwa ein Pilotenfehler, sei dagegen auszuschließen. Der Airbus war 18 Jahre alt und hatte etwa 56.000 Flugstunden auf fast 21.000 Flügen hinter sich. Aufschluss über die Unglücksursache könnte die Auswertung der „Black Boxes“ geben – des Stimmenrekorders und des Flugdatenschreibers. Diese ist noch nicht abgeschlossen. Und der Stimmenrekorder soll beschädigt sein.

Warum macht Großbritannien den „Islamischen Staat“ für den Absturz verantwortlich?

David Cameron bekräftigte am Donnerstag den Verdacht: „Wir können es noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es sieht immer mehr danach aus, dass eine Terrorbombe den Absturz verursacht hat“, sagte der britische Premier in der BBC. Wie es der diplomatische Zufall wollte, begrüßte Cameron kurz nach der Erklärung den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al Sisi zum Lunch in der Downing Street.

Die Briten hatten Mittwochabend nach einstündiger Sitzung des Sicherheitskabinetts entschieden, alle Flüge nach Scharm el Scheich zu stoppen. Dort halten sich bis zu 20.000 britische Staatsbürger auf, die Hälfte davon Urlauber. Passagiere, die in startbereiten Flugzeugen saßen, mussten aussteigen und in ihre Hotels zurückkehren. Sie sollen möglichst bald ausgeflogen werden.

„Uns liegen Informationen vor, die die Ägypter noch nicht haben“, sagte Außenminister Philip Hammond. Sicherheitskreisen zufolge handelt es sich dabei um Erkenntnisse amerikanischer Geheimdienste. Den Briten liegen aber wohl auch Berichte über Sicherheitsrisiken bei der Abfertigung im Flughafen von Scharm el Scheich vor. Dies deutet darauf hin, dass Hinweise über eine Infiltration des Airport-Personals vorliegen. Großbritannien hat Experten und Diplomaten nach Scharm el Scheich geschickt. Sie versuchen dort mit den ägyptischen Behörden, schnellstmöglich ausreichende Sicherheitskontrollen zu gewährleisten.

Wovon gehen die US-Geheimdienste aus?

Über die Spekulation, dass eine Bombe das Flugzeug zur Erde hat stürzen lassen, berichtete zuerst der TV-Sender CNN. US-Regierungsstellen sollen gestützt auf Geheimdienstinformationen diese Ursache als „höchstwahrscheinlich“ bezeichnet haben. Noch habe man aber keinen endgültigen Befund. Barbara Starr, die als Erste die Regierungsquellen zitiert hat, ist eine erfahrene Verteidigungspolitik-Expertin des Fernsehsenders und in der Regel gut informiert. Man kann also zumindest davon ausgehen, dass im Pentagon die Bomben-These sehr ernst genommen wird.

Trauer in St. Petersburg: Angehörige nehmen Abschied von den Opfern der Flugzeugkatastrophe.
Trauer in St. Petersburg: Angehörige nehmen Abschied von den Opfern der Flugzeugkatastrophe.

© Peter Kovalev/Reuters

Barack Obama äußerte sich ebenfalls am Donnerstag - aber deutlich vorsichtiger als der britische Premier Cameron. „Ich denke, es besteht die Möglichkeit, dass da eine Bombe an Bord war, und wir nehmen das sehr ernst“, sagte der US-Präsident dem Radiosender Kiro.

„Dieser Flughafen hat lasche Sicherheitskontrollen“, sagte ein namentlich nicht genannter Regierungsmitarbeiter. „Es gibt Geheimdiensterkenntnisse, die auf einen Helfer am Flughafen hindeuten.“ Die US-Behörden stützen sich auch auf Satellitenüberwachung. Die habe ergeben, dass ein Lichtblitz in dem Moment zu erkennen sei, als der Jet auseinanderbrach. Sollte eine IS-Gruppe verantwortlich sein, wäre das aus Sicht des Terrorismusexperten Paul Cruickshank „der gravierendste Terrorakt seit den Anschlägen vom 11. September 2001“.

Der Londoner "Times" zufolge soll schließlich ein gemeinsamer Einsatz britischer Agenten und ihrer US-Kollegen die zentralen Erkenntnisse gebracht haben, die auf eine Bombe schließen lassen. Die Agenten hätten Satelliten eingesetzt, um die elektronische Kommunikation zwischen IS-Angehörigen in Syrien und Ägypten abzufangen. "Der Ton und der Inhalt der Mitteilungen überzeugten die Experten, dass eine Bombe von einem Passagier oder von einem Mitglied des Flughafenpersonals an Bord gebracht wurde", hieß es in dem Bericht, der keine Quellen für seine Informationen nennt. Wie die BBC am Freitag berichtete, sollen die abgehörten Gespräche Hinweise darauf erbracht haben, dass eine Bombe im Frachtraum des abgestürzten Flugzeugs war.

Was hält Moskau von der Bombenthese?

„Empört“ reagierte Außenamtssprecherin Maria Sacharowa darauf, dass sich Großbritanniens Premier Cameron den Vermutungen amerikanischer und britischer Geheimdienste angeschlossen hat. Für staatsnahe Blogger ist die Bombentheorie ohnehin vor allem eines: Teil des Informationskrieges, den der Westen gegen Russland führt. Gelassen wies daher Kremlsprecher Dmitri Peskow die Versuche zurück, Absturz und „Islamischen Staat“ miteinander in Verbindung zu bringen.

Nur eine internationale Untersuchungskommission könne Objektivität gewährleisten , glaubt man beim Radiosender Echo Moskwy. An einer Bestätigung des Terrorismusverdachts seien weder Russland noch Ägypten interessiert. Dort machten allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres 1,3 Millionen Russen Urlaub. Nach dem Unglück brachen die Buchungen um teilweise mehr als 30 Prozent ein.

Von welcher Ursache geht Russland aus?

Vor „voreiligen Schlüssen“ warnten Außenamt und staatliche Luftfahrtbehörde gleich nach der Katastrophe. Spekulationen, sagte ein Mitglied der technischen Kommission zur Klärung der Unglücksumstände, würden die Ermittlungen nur behindern. Auch ein Sachverständiger der Regierungskommission zur Klärung der Unglücksursache äußerte sich skeptisch zur Bombenthese. Bei der Detonation einer Sprengladung im Triebwerk würden nur relativ geringe Mengen eines Benzin-Luftgemischs entstehen – zu gering, um den Rumpf eines Airbus A321 so zu beschädigen, dass Druckverlust in der Kabine entsteht und einströmende Luft die Maschine nach unten reißen kann.

Wahrscheinlicher sei ein Motorschaden, bei dem sich die Schaufelblätter von der Turbine lösten, um sich dann mit rasender Geschwindigkeit in Rumpf und Tragflächen zu bohren. Der dadurch ausgelöste freie Fall der Maschine habe 17 Sekunden gedauert. Der Besatzung sei daher keine Zeit geblieben, einen Notruf abzusetzen, schreibt auch die „Rossijskaja Gaseta“, das Amtsblatt der russischen Regierung unter Berufung auf Experten.

Was spricht für die Täterschaft des „Islamischen Staat“ – und was dagegen?

Die Terrormiliz meldete sich schon unmittelbar nach dem Unglück zu Wort. Der IS-Ableger „Provinz Sinai“ übernahm in einer über Twitter verbreiteten Erklärung die Verantwortung. „Soldaten des Kalifats“ hätten die „russischen Kreuzzügler“ getötet – als Vergeltung für Moskaus Luftangriffe in Syrien. Details wurden nicht genannt. Bisher allerdings hat sich der IS nicht zu Anschlägen bekannt, wenn er sie nicht auch verübt hat. Sollte es im Fall der Passagiermaschine anders sein – also technisches oder menschliches Versagen Ursache für das Unglück sein – hätten die Dschihadisten ein Glaubwürdigkeitsproblem, das dem Ansehen der Extremisten in der Terrorszene schaden könnte.

Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass der „Islamische Staat“ nicht über Waffen verfügt, mit denen man ein Flugzeug in großer Höhe treffen könnte. Die Luftabwehrraketen der „Gotteskrieger“ sind nur in der Lage, niedrig fliegende Flugzeuge oder Helikopter zu erreichen. Als Möglichkeit bleibt noch, dass der IS einen Sprengkörper an Bord der Maschine schmuggeln konnte. Oder ein Selbstmordattentäter hat die Explosion verursacht.

Die Extremisten-Gruppe „Provinz Sinai“ hat in der Vergangenheit viele Anschläge in Ägypten verübt – bevorzugt gegen Repräsentanten der Staatsmacht. Sie soll weit mehr als 1000 Kämpfer unter Waffen haben. Bis zu ihrem Treueschwur für IS-Chef Abu Bakr al Baghdadi 2014 nannte sich die sunnitische Miliz „Ansar Bait al Makdis“, was so viel wie „Unterstützer Jerusalems“ heißt.

Welche Folgen hätte eine Bombe an Bord für Ägypten?

Nach wie vor verweisen die Behörden in Kairo darauf, dass es keine Beweise für einen gezielt herbeigeführten Absturz gebe. Sollte aber der IS – oder eine andere islamistische Terrorgruppe – tatsächlich ein Attentat auf das Flugzeug verübt haben, wäre das für das Land ein schwerer Schlag. Zum einen könnte die Tourismusbranche – eine zentrale Säule der Wirtschaft – erheblich darunter leiden. Zum anderen bedeutete dies ein politisches Desaster für Staatspräsident al Sisi. „All die Verlautbarungen der Administration, man hätte die Lage auf dem Sinai vollkommen unter Kontrolle, sind offenkundig Unsinn“, sagt Stephan Roll, Ägypten-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Das Land am Nil hat seit Langem ein massives Sicherheitsproblem. Immer häufiger gibt es Anschläge – nicht nur auf dem Sinai. „Sisi steht momentan mit dem Rücken zur Wand“, glaubt Roll. „Das merkt man auch an seiner Rhetorik, die nach innen in Richtung ,Publikumsbeschimpfung’ geht.“

Inwiefern sind deutsche Touristen betroffen?

Die Teilreisewarnung des Auswärtigen Amtes für Ägypten wurde nicht verschärft. Auch am Flughafen Tegel gab es am Donnerstag nach offiziellen Angaben keine verstärkten Sicherheitsmaßnahmen. Viele europäische Fluggesellschaften haben aber Konsequenzen gezogen: Sie fliegen Scharm el Scheich nicht an. Lufthansa, Air Berlin und Tuifly haben den Urlaubsort ohnehin nicht im Streckennetz. Sie umfliegen den Sinai auf westlicher Seite und folgen damit einer Warnung des Bundesverkehrsministeriums für die ganze Halbinsel.

Die Touristenregion ist unter Deutschen ohnehin ein weniger beliebtes Reiseziel. Derzeit sind laut dem Deutschen Reiseverband rund 2000 Bundesbürger in Scharm el Scheich. Nach Unternehmensangaben verbringen mehr als 90 Prozent der Tui-Kunden ihren Ägyptenurlaub in Hurghada an der Westküste des Roten Meers. Dem Deutschen Reiseverband zufolge belegte Ägypten unter den Auslandsreisezielen 2014 den siebten Platz – rund 900.000 Deutsche besuchten das Land. Die Zahlen waren mit Beginn des Arabischen Frühlings 2011 gesunken, hatten sich 2014 jedoch erholt. (mit AFP, dpa)

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