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Flüchtlinge verlassen am Sonntagnachmittag in Schönefeld den Sonderzug aus München.

© AFP

Flüchtlingspolitik: Die deutsche Generosität und ihre Folgen

Deutschland nimmt jeden auf, diese Nachricht verbreitete sich in Syrien und Irak. Jetzt, wo sich die Kapazitäten erschöpfen, muss Deutschland plötzlich etwas sagen, das unsympathisch klingt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Der Druck wächst. Und mit ihm die Suche nach Sündenböcken. Europa zerstreitet sich, wer Schuld trägt am Anschwellen der Flüchtlingszahlen. Nun erfasst der Streit die Koalition und die CDU/CSU, auch das ein Symptom der nahenden Überforderung. Das ist selbstzerstörerisch. Meistern wird Deutschland, wird Europa die Herausforderung nur, wenn alle zusammenwirken: die Regierungsparteien, Bund und Länder, die EU-Mitglieder beim Ministerrat heute.

Vielerorts in Europa wird das gewohnte Leben eingeschränkt. Der Bahnverkehr kommt zum Erliegen, Autobahnen und Grenzübergänge werden gesperrt. Deutschland darf stolz sein auf seine leistungsfähige Verwaltung und die Willkommenskultur. Aber auch seine Kapazitäten sind nahezu erschöpft. „Vorrevolutionär“ nennt eine Person weit oben im Krisenmanagement die Lage.

Das Wiederzusammenfinden beginnt damit, das eigene Handeln infrage zu stellen und denen zuzuhören, die sich einen ganz anderen Reim auf die Abläufe machen. Die meisten Deutschen meinen: Wir reagieren auf eine Notlage, die ohne unser Zutun entstanden ist. Wir verhalten uns vorbildlich, zeigen die Solidarität und Hilfsbereitschaft, die andere vermissen lassen. Die Lösung ist folglich, dass andere Europäer dasselbe tun.

Mit dieser Sicht stehen die Deutschen ziemlich allein. Die EU-Partner bestreiten nicht, dass Deutschland generös reagiert. Sie werfen uns aber vor, dass wir die Dynamik ausgelöst haben, dass Deutschland uneuropäisch handelt, Absprachen innerhalb der EU bricht, einseitig Regeln wie die des Dublin-Verfahrens außer Kraft setzt. Kurz: Wir hätten es uns selbst zuzuschreiben, wenn unser Land überlaufen wird.

Wenn sich Millionen aufmachen, bricht jedes Aufnahmenetz zusammen

Regierung und Medien haben das Selbstlob verstärkt. Innenpolitisch war das hilfreich, weil es die Hilfsbereiten bestärkte. Die Botschaft wurde aber auch im Ausland gehört. Über digitale Medien verbreitete sich im Irak, in Syrien, in den Flüchtlingslagern der Region: Deutschland nehme jeden auf, stelle Unterkunft und zahle hunderte Euro.

Richtig ist, unabhängig von der Schuldfrage: Die meisten anderen EU-Staaten können und müssen mehr Flüchtlinge nehmen, auch Polen, Tschechien, die Slowakei, die wenig Erfahrung mit Integration haben. Deutschland muss sich aber ebenso Fehler eingestehen, um sie korrigieren zu können, und darauf achten, wie es seine Führungsrolle in der EU ausübt. Eine gemeinsame Strategie kann es nur gemeinsam geben.

Das muss auch gelingen, denn wehe, wenn nicht. Die größte Sorge der Krisenmanager ist, so sagen sie, „dass wir es logistisch nicht mehr schaffen“. Die zweitgrößte ist ein Blick in die Türkei – wo sich zwei Millionen Syrer irgendwie durchschlagen – und in die UN-Lager in der Nachbarschaft mit weiteren Millionen. Wenn auch sie sich auf den Weg machen, bricht jedes Aufnahmenetz zusammen. Europa muss helfen, damit sie dort bleiben.

Und Deutschland muss das tun, was wenig sympathisch klingt: Es muss klarmachen, dass nicht alle kommen können. Muss abgelehnte Asylbewerber zurückführen, damit die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Und das Dublin-System muss wieder funktionieren, damit Verteilung möglich wird. Europäische Solidarität beginnt damit, dass man sich nicht gegenseitig zum Sündenbock macht.

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