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Flüchtlingskinder in Mainz spielen mit gespendeten Spielsachen.

© dpa

Flüchtlinge, Pegida und Demographie: Warum Zuwanderung? Nicht nur aus Nächstenliebe

Gestern Abend gingen auch in Berlin Leute für das Abendland und gegen den Islam auf die Straße. Dabei heißt christliches Abendland, den Nächsten zu lieben. Und das hat Deutschland aus verschiedenen Gründen nötig. Ein Gastkommentar.

Einer der bekanntesten Sätze der Bibel stammt aus dem Buch Levitikus: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Lev 19,18). Man muss kein Christ sein, um zu begreifen, dass es sich hierbei um eine Goldene Regel für das Zusammenleben von Menschen handelt. Dass diese Lebensregel nicht nur für die eigenen Verwandten, Parteifreunde oder Landsleute gelten darf, sondern auch für Fremde, bringt uns ebenfalls das Buch Levitikus nahe: "Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten..." (Lev 19,34). Diese alttestamentliche Weisheit ist mehr als 3000 Jahre alt. Sie ist aktuell wie nie.

Auf der Suche nach einer sicheren Bleibe sind in diesen Tagen weltweit über 50 Millionen Menschen unterwegs. Nur ein Bruchteil hat Europa zum Ziel. Wir müssen uns also nicht sorgen, dass ein Großteil dieser Flüchtlinge nach Deutschland kommen wird. Auch von den syrischen und irakischen Flüchtlingen, die bei uns in Deutschland Schutz vor dem Bürgerkrieg und den Gräueltaten der Terrororganisation "Islamischer Staat" suchen, haben viele die Hoffnung, nach einiger Zeit wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können und dabei zu helfen, ihr Land neu aufzubauen.

Deutschland ist heute ein Einwanderungsland. In Nordrhein-Westfalen hat nunmehr jeder Vierte eine Zuwanderungsgeschichte, wie das Statistische Landesamt unlängst mitgeteilt hat.

Viel zu lang haben wir nicht erkennen wollen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Viel zu lang haben wir Fähigkeiten von Menschen nicht wahrgenommen. Viel zu lang haben wir darauf verzichtet, diese Fähigkeiten für unser Land zu nutzen, weil wir Arbeitsverbote erlassen und die Anerkennung von beruflichen Qualifikationen verweigert haben.

In Deutschland wird schon viel zu lange Potenzial verschenkt

Dabei ist erfolgreiche Integration auch eine volkswirtschaftliche Frage. Arbeitgeber verschiedener Branchen suchen schon heute in dem tiefgreifenden demografischen Wandel Auszubildende und Fachkräfte. Wir haben noch Menschen in unserem Land, die in Schule und Beruf hinter ihren Möglichkeiten bleiben, weil sie die notwendigen Anstöße nicht erhalten und die Weichenstellungen, die sie gebraucht hätten, nicht erhielten. Diese Potenziale zu noch weiter zu verschenken, können wir uns nicht nur aus Gründen der Nächstenliebe, sondern auch aus volkswirtschaftlichen Erwägungen nicht länger erlauben.

Um den Trend umzukehren bedarf es an erster Stelle bester Bildungsinstitutionen. Entlang der gesamten Bildungskette brauchen wir Institutionen, die allen dieselben Chancen zum Aufstieg ermöglichen. Wenn aufgrund des demografischen Wandels die Zahl der künftigen Auszubildenden, Facharbeiter und Akademiker immer kleiner wird, müssen wir dafür sorgen, dass alle die bestmögliche Ausbildung genießen. Das beginnt damit, dass alle gut Deutsch sprechen. Das ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Schullaufbahn, für Erfolg im Beruf und vor allem auch für die Integration in die deutsche Gesellschaft.

Etwa 437.000 Menschen sind 2013 nach Deutschland gekommen, die dauerhaft zum Gemeinwohl unseres Landes beitragen wollen. Nicht nur aus den Krisenstaaten Südeuropas, aus Spanien, Portugal und Griechenland etwa, kommen gut ausgebildete Frauen und Männer zu uns, um hier ihr Glück zu suchen. Das sind Fachkräfte, die von vielen Arbeitgebern angesichts weitgehend leergefegter Arbeitsmärkte dringend gesucht werden. Aber weil wir im Ausland erworbene Qualifikationen nicht anerkennen oder unnötige Hürden aufbauen, gibt es hochqualifizierte Feststoffphysiker, die Taxi fahren oder kellnern. Das ist schlecht für die Menschen, die in unser Land gekommen sind, es ist aber auch schlecht für unsere Gesellschaft und Wirtschaft. Wir müssen aufhören, Potentiale zu verschenken und Menschen die Möglichkeit geben, sich hier mit ihrem Können zu entwickeln und zu entfalten.

Ohne Zuwanderung werden wir unseren Lebensstandard nicht halten können

Zugleich müssen wir deutlich machen: Wir wollen nicht die billigsten Arbeiter, sondern die besten Köpfe. Ebenso sollten wir klarmachen, dass wir keine Parallelgesellschaften zulassen und dass wir jeder Form von Extremismus und Fanatismus entschieden entgegen treten. Diese Feststellungen sind wichtig, aber sie treffen nicht den Wesenskern der Zuwanderung. Sie gelten generell in unserer Gesellschaft.

Kluge Einwanderungspolitik ist keine Frage der Quantitäten. Sie bedarf einer differenzierten Betrachtung und einem klaren Blick auf die Realitäten. Wer mit Emotionalisierungen arbeitet und mit Ängsten spielt, wird den Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht.

Armin Laschet, CDU-Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen.
Armin Laschet ist Vorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen.

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Ohne Zuwanderung wird Deutschland seinen Lebensstandard und seinen Wohlstand nicht halten können. Deutschland muss seine Attraktivität für qualifizierte Zuwanderer deutlich steigern, weil wir mehr und gezieltere Zuwanderung brauchen. Diese Einsicht muss sich nicht nur in den Zuwanderungsregelungen widerspiegeln, sondern auch in der Haltung, mit der wir den neuen Mitbürgern, Nachbarn und Kollegen begegnen.

Auf Demonstrationen beginnen jetzt Leute davon zu reden, sie würden Fremde im eigenen Land. Man darf demonstrieren und Sorgen artikulieren. Aber gerade diejenigen, die vorgeben, das christliche Abendland verteidigen zu wollen, müssen sich an der christlichen Botschaft messen lassen. Menschen sollen sich mit Nächstenliebe begegnen unabhängig von Nationalität und Herkunft. Gegen andere Religionen zu hetzen ist jedenfalls weder christlich noch abendländisch.

Armin Laschet ist Landesvorsitzender der CDU in Nordrhein-Westfalen. Der Kommentar führt die Demographie-Diskussion weiter, die auf Tagesspiegel.de im Zusammenhang mit dem Demographie-Kongress der Konrad-Adenauer-Stiftung begonnen wurde.

Armin Laschet

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