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Dem Tod entronnen. Flüchtlinge erreichen die Küste Griechenlands.

© picture alliance / dpa

Flüchtlingskrise: Griechenlands Chaos soll die Menschen abschrecken

Überfüllte Sammellager, Gewalt, Bürokratie, keine Perspektive – nichts ist gut für Flüchtlinge in Griechenland. Das ist durchaus gewollt.

Irgendwann wird er auch im Boot sitzen, zurück in die Türkei. Die Statistik der Asylbehörde Griechenlands verheißt nichts Gutes für ihn. Nur 3,4 Prozent der Bangladescher kommen durch. Sohel Miah müsste schon ziemlich viel Glück haben, er kann nur hoffen, dass seine Geschichte bei den Asylrichtern in Athen verfängt. „Ich finde, es ist nicht fair“, sagt der 37-jährige Ingenieur.

Miah ist der Sprecher der Flüchtlinge aus Bangladesch im Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, wo 250 seiner Landsleute leben. Seit einem Jahr sitzt er auf der größten der Flüchtlingsinseln in der Ägäis fest. Zu Hause in Bangladesch hat er Probleme bekommen, so erzählt er. Miahs Vater ist ein Provinzpolitiker mit vielen Feinden; auch der Sohn wird bedroht. Miahs Asylantrag ist im Containerbüro auf Lesbos in erster Instanz abgelehnt worden. Seine Akte liegt jetzt in einem der Berufungskomitees in Athen. Dort wird sie auch noch bleiben.

Knapp 5000 Einsprüche von Flüchtlingen sind allein in diesem Jahr bisher aufgelaufen. Beim jetzigen Tempo brauchen die Asylrichter 100 Wochen oder knapp zwei Jahre, um allein diesen Aktenberg abzuarbeiten. Und dann gibt es noch den mit den Asylanträgen, die in der ersten Instanz liegen. 27.697 waren es zum 30. Juni, den jüngsten verfügbaren Angaben der griechischen Asylbehörde zufolge.

Auch mehr als ein Jahr nach dem EU-Türkei-Abkommen fehlt Personal in den Lagern auf den Inseln. Die europäische Asyl-Hilfsbehörde EASO wartet noch auf 50 Rechtsexperten, die Europas Regierungen zugesagt haben. Bei Frontex, der europäischen Grenzschutztruppe, fehlen für den Einsatz in der Ägäis in den Sommermonaten Juli und August voraussichtlich 43 Polizeibeamte. Auf dem griechischen Festland wiederum sitzen rund 45.000 Flüchtlinge fest. Manche haben eine Zusage für eine Umverteilung auf einen anderen EU-Staat; viele versuchen, illegal weiterzureisen. Die große Flüchtlingskrise von 2015 ist nicht eingedämmt. Es sieht nur so aus.

Wer nach Griechenland kommt, sitzt fest, so lautet die Botschaft

Die vielen gravierenden Mängel und Missstände beim Management der Flüchtlingskrise in Griechenland sind durchaus von der EU gewollt, so sagen unisono die NGOs, die in den Lagern auf dem Festland und auf den Inseln arbeiten: überfüllte Sammellager, tägliche Gewalt, langsame Bürokratie, keine Perspektive. Griechenlands Chaos soll die Flüchtlinge abschrecken, die in der Türkei oder an der Küste Libyens warten. Wer nach Griechenland kommt, sitzt fest, lautet die Botschaft. Und es wird kein angenehmer Aufenthalt.

Noch immer kommen jede Woche einige hundert Flüchtlinge nach Griechenland. 318 waren es allein dieser Tage zwischen Montag und Freitag.
Noch immer kommen jede Woche einige hundert Flüchtlinge nach Griechenland. 318 waren es allein dieser Tage zwischen Montag und Freitag.

© imago/Rene Traut

In Moria gab es dieser Tage wieder eine Revolte. Für 3500 Menschen ist das Lager ausgelegt, 4555 sind derzeit dort zusammengepfercht. Ein anfangs friedlicher Protestzug von 1000 Flüchtlingen, die ihre Freiheit wollen, lief aus dem Ruder. Wieder brannte es im Lager und dieses Mal auch in den Olivenhainen rund um das Areal mit dem hohen Stacheldrahtzaun. 35 Migranten werden vor Gericht gestellt. Die meisten seien wahllos von der Polizei verhaftet worden, berichtet Lorraine Leete, eine Anwältin. Als sich alles wieder beruhigt habe, sei die Polizei ins Lager gelaufen und hätte nach Westafrikanern gesucht. „Alles aufgrund der Rasse“, sagt Leete. Sie leitet das Legal Center Lesbos, eine NGO, die Flüchtlinge in Asylfragen berät.

Es ist nicht das erste Mal, dass Flüchtlinge vor dem Richter in der Inselhauptstadt Mytilini stehen. Diesmal droht eine Verurteilung wegen Brandstiftung. Damit wäre der theoretische Anspruch auf Schutz und Asyl verwirkt. Unter dem Büro von Lorraine Leete, in einer ehemaligen Schule im Zentrum von Mytilini, liegt eine Werkstatt. Zwei junge Schneider aus Pakistan sitzen dort an Maschinen und nähen aus orangefarbenen Rettungswesten Handtaschen und Rucksäcke. Migranten-Design, sozusagen, und auch nicht sonderlich billig. Aber die orangefarbenen Accessoires sind ohnehin nur für die Gutmenschen, die zahlen und sich schaudernd die nächtlichen Fahrten der Flüchtlinge im Schlauchboot von der türkischen Küste auszumalen versuchen. Die zwei Pakistani sind auch schon in der zweiten Runde: Ihr Asylantrag ist in erster Instanz abgelehnt worden.

Fünf Lager haben die Europäer in der Ostägäis errichten lassen, um den Strom von Migranten zu kappen. Die Griechen sollen ihnen die Flüchtlinge aus der Türkei vom Leib halten. Bisher funktioniert das auch halbwegs. Lesbos, Chios, Leros, Samos und Kos sind Gefangeneninseln geworden. Rund 15.000 Flüchtlinge harren dort aus. Jede Woche kommen wenige hundert dazu – 318 waren es diese Woche zwischen Montag und Freitag. Vor dem EU-Türkei-Abkommen landeten mehr als 1000 Flüchtlinge am Tag auf den Inseln.

Die "Rückführung" in die Türkei klappt nicht

Doch die „Rückführung“ der Flüchtlinge in die Türkei – die andere Hälfte des Abkommens zwischen der EU und Ankara vom März 2016 – klappt bisher nicht. Zumindest nicht so, wie es sich die Staats- und Regierungschefs der Union vorgestellt hatten. 801 Migranten fuhr Frontex im vergangenen Jahr von den griechischen Inseln zurück an die türkische Küste. 418 waren es bisher in diesem Jahr. Beim jüngsten Transport von Mytilini zum türkischen Küstenhafen Dikili, am 13. Juli, saßen 17 Flüchtlinge an Bord, neun von ihnen kamen aus Algerien. Was aus den zurückgebrachten Menschen in der Türkei wird, ist nicht sicher. Das Flüchtlingshilfswerk der UN gibt an, den Weg dieser Migranten zu verfolgen.

Geplant war ein schnelles Verfahren: Einige wenige Flüchtlinge würden noch auf den griechischen Inseln landen; jeder hat das Recht, einen Asylantrag zu stellen, doch nur in besonders dringenden Fällen würden Flüchtlinge auch Schutz in Griechenland erhalten. Alle anderen kämen zurück in die Türkei, selbst die syrischen Kriegsflüchtlinge. Diese würden ans Ende der Warteschlange gereiht, als Strafe für die illegale Überfahrt auf die Inseln. Für jeden zurückgebrachten Syrer würde die EU dann einen anderen aus einem Lager in der Türkei aufnehmen. Soweit die Theorie. Tatsächlich aber ist bisher nicht ein einziger syrischer Flüchtling aufgrund eines in Griechenland abgelehnten Asylantrags in die Türkei zurückgebracht worden. Daran ist allerdings nicht nur der langsame Gang der Asylverfahren schuld.

Seit Monaten schon berät sich der Staatsrat in Athen – das höchste Gericht in Griechenland, das einmal Verfassungsgericht, das andere Mal oberstes Verwaltungsgericht sein kann. Die Entscheidung wird immer aufs Neue verschoben – sie ist delikat. Es geht um die Frage, ob die Türkei wirklich als „sicheres Herkunftsland“ eingestuft und ein Flüchtling dorthin zurückgeschickt werden kann. Zwei Syrer haben den griechischen Staat verklagt. Gibt ihnen das Gericht recht, kippt das EU-Türkei-Abkommen.

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