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Flüchtlinge aus Syrien gehen am 06.10.2015 im österreichischen Julbach nahe der deutschen Grenze an einem Schild mit der Aufschrift "Germany" und der Abbildung einer deutschen Flagge vorbei.

© dpa

Flüchtlinge in Deutschland: Wir können die Einwanderung gar nicht steuern

Auch die Quotenregelung wird nur den Schleppern nutzen. Flüchtlinge sollten ihre Aufnahmestaaten selbst wählen dürfen. Denn wir stehen in der Flüchtlingskrise vor einem viel größeren Dilemma. Ein Debattenbeitrag

"Ja, mach nur einen Plan

sei nur ein großes Licht

und mach dann noch ´nen zweiten Plan

gehn tun sie beide nicht."

(Bertolt Brecht, Dreigroschenoper)

Ja, Pläne gab und gibt es viele. Etwa die Verunstaltung des Artikels 16 zum 16a im Grundgesetz. Dieses sicherte politisch Verfolgten zuerst Asyl zu, um die Zusicherung dann hinter einem Wall aus bürokratischen Worten unsichtbar und unbrauchbar zu machen. Das schien etwa zwanzig Jahre lang zu funktionieren. Jetzt kommen mehr Flüchtlinge denn je. Weil aber Deutschland sich mit seinem neuen Asylrecht so gut gegen Flüchtlinge abgeschirmt glaubte, hat es den Ausbau seiner Infrastruktur, etwa des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, versäumt. Unsere Schwierigkeit, alle Flüchtlinge menschenwürdig unterzubringen und ihnen ein rasches und faires Verfahren zu bieten, ist auch die Folge einer fehlgeschlagenen Planung.

Oder Dublin I, II und III: Jeder Flüchtling, der in der EU ankommt, muss seinen Antrag in dem Land stellen, in dem er zuerst angekommen ist. Normalerweise, und praktischerweise für Deutschland, sind dies die Länder an den südlichen Außengrenzen: Malta, Italien, Griechenland, Spanien, außerdem Ungarn. Das gibt diesen einen starken Anreiz, die Grenzen martialisch zu sichern, und wenn sie dabei versagen, müssen sie die Flüchtlinge eben versorgen. Inzwischen versagt aber für alle sichtbar das Dublin-System selbst.

Zurückweisungen von Flüchtlingen nach Griechenland sind seit 2011 ausgesetzt, zu offenbar sind die dortigen Behörden überfordert. Jetzt sieht die Bundesregierung für sämtliche Syrer von Ausweisungen ab. Dem zynischen Spiel des Viktor Orbán, die Flüchtlinge auf Bahnhöfen sich selbst zu überlassen oder am Grenzzaun mit Tränengas zu traktieren, konnte sie bei Strafe unerträglicher Fernsehbilder nicht länger zusehen. Daher geht Seehofers Gezeter vielleicht nicht an der Wählerstimmung, doch an der Sache vorbei: Merkels Entscheidung, die Flüchtlinge von Ungarn nach Deutschland weiterziehen zu lassen, verdient ausnahmsweise wirklich die Bezeichnung "alternativlos".

Gewiss, die freie Weiterreise war nur als Notlösung gedacht. Darum existiert schon ein neuer Plan: die Quotenregelung. Die künftigen Flüchtlinge sollten möglichst nahe an ihrer Herkunftsregion, etwa in der Türkei, registriert und gegebenenfalls nach eine im vereinbarten Schlüssel auf die EU-Länder verteilt werden. Die europäischen Innenminister haben sich mehrheitlich, gegen die Stimmen einiger osteuropäischer Amtskollegen, auf die Um- und Neuverteilung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen geeinigt. Allein für Deutschland werden aber bis zum Jahresende mehr als eine Million Flüchtlinge vorausgesagt. Die Quote wird also schon quantitativ nicht viel bringen. Kann sie überhaupt funktionieren?

Die Schengen-Staaten stehen bis auf weiteres für sehr ungleiche Aufnahmebedingungen und Verfahren von verschiedener Güte. Die Flüchtlinge, die ja Handys haben, werden dies wissen. Ebenso werden sie sich informieren, wer aus ihrer Herkunftsgruppe bereits wo und wie lebt. Sie werden also, rationalerweise, in die Länder weiterziehen wollen, wo ihnen eine Auslandsgemeinde das Zurechtfinden erleichtert und erste wirtschaftliche Chancen verspricht. Warum sollten sie sich die Zuweisung zu Ländern gefallen lassen, in denen kaum einer ihre Sprache spricht, die lokale Bevölkerung sie überwiegend nicht will und die Behörden auf sie schlecht eingestellt sind?

Flüchtlinge sollten ihre Aufnahmestaaten selbst wählen dürfen

Wer dabei gewinnen wird, ist abzusehen: die Schlepper, die Gelegenheiten zur "Sekundärwanderung" anbieten werden. Wollten wir denen nicht die Geschäftsgrundlage entziehen? Die Quote wird ihnen eine neue verschaffen. Intelligenter wäre es daher, wir würden, wie etwa vom Paritätischen Wohlfahrtsverband empfohlen, die Flüchtlinge ihre Aufnahmestaaten frei wählen lassen und den besonders belasteten Ländern einen Geldausgleich gewähren.

Die vielen Pläne finden eine scheinbare Rechtfertigung in der gedanklichen Sortierung der Menschen, die kommen und kommen wollen. Manche sehen wir als politisch Verfolgte an, weil ihr Feind der "eigene" Staat ist; denen geben wir Asyl. Andere sind Bürgerkriegsflüchtlinge oder solche, die sekundären Schutz  verdienen, weil ihnen Folter oder Todesstrafe drohen. Wieder andere nennen wir Wirtschaftsflüchtlinge, obwohl wir auch sagen könnten, sie machen von dem klassischen Menschenrecht Gebrauch, nach ihrem Glück zu streben. Warum schließlich sollten sie sich im Herkunftsland elende Bedingungen bieten lassen, wenn sie anderswo viel freier und produktiver sein könnten?

Ökonomen sehen ohnehin nicht ein, warum nur die Bewegung von Waren und Kapital, nicht aber auch die der Menschen von der Aussicht auf bestmögliche Verwertung bestimmt sein sollte. Man mag sagen, dies sei ein "kaltes" Kalkül. Aber es ist der Nachbar des "warmen" Gedankens, dass jeder Mensch auch wirtschaftliche Menschenrechte hat. Zu ihnen gehört die Aussicht auf eine Ausbildung, auf eine anständig bezahlte Arbeit, auf Gelegenheiten zur Selbständigkeit. Leider sind sie in einer von Ungleichheit zerfurchten Welt nicht überall etwas wert. Und das Wissen oder doch die Ahnung, wo sie es am ehesten sind, lässt sich sowieso nicht begrenzen.

Die Bewegungsfreiheit ist ein menschenrechtliches Gut

Ein Schild mit der Aufschrift "Asyl ist Menschenrecht" auf dem Landesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Dresden (Sachsen).
Ein Schild mit der Aufschrift "Asyl ist Menschenrecht" auf dem Landesparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Dresden (Sachsen).

© dpa

Der Realismus der Pläneschmiede ist also keiner, er ist im schlechten Sinne utopisch. In der globalisierten und in Bewegung gekommenen Welt können wir Einwanderung normativ und tatsächlich nicht steuern. Tatsächlich nicht, weil die wirtschaftlichen und politischen Ungleichheiten riesengroß sind, zugleich aber immer mehr Familien genügend Geld haben, um ihren jüngeren und robusteren Mitgliedern die riskante Reise zu ermöglichen. Normativ nicht, weil Europa für seine Außengrenzen keine Schießbefehle erteilen könnte, ohne den letzten Rest an menschenrechtlicher Glaubwürdigkeit zu verlieren. Wem das zu idealistisch ist, dem sei gesagt: Auch Tote an den Grenzen schrecken Menschen, die wenig zu verlieren und viel zu gewinnen haben, nicht ab. Jedes Jahr gelangen 350.000 Lateinamerikaner illegal in die USA, einem sensorbewehrten Grenzzaun zum Trotz, an dem jährlich bis zu 500 Menschen sterben.

Dies mag uns motivieren, einen Gedanken ernst zu nehmen, der nicht nur unter Ökonomen, sondern auch in meinem Arbeitsgebiet, der politischen Philosophie, viele Anhänger hat: Menschen haben ein grundsätzliches Recht auf grenzüberschreitende Freizügigkeit. Dafür sprechen zwei einfache Gründe. Erstens erkennen wir die Bewegungsfreiheit als menschenrechtliches Grundgut schon an – innerhalb der einzelnen Staaten. Und wir verurteilen diese, wenn sie Menschen mit Gewalt an der Ausreise hindern. Zweitens hat es keiner verdient, in einem ganz bestimmten Staat, ob arm oder reich, demokratisch oder diktatorisch oder gar nicht regiert, auf die Welt gekommen zu sein.

Wir glauben das Feudalsystem mit seinen angeborenen Vorrechten überwunden zu haben. Aber bis heute verurteilt der Geburtsort viele Millionen Menschen ohne eigenes Verschulden zu einem armseligen und bedrückenden Dasein. Wir müssen uns nur vorstellen, wir wüssten nicht, auf welcher Seite welcher Grenze wir selbst zur Welt kommen: Würden wir hinter einem solchen "Schleier des Nichtwissens" nicht klugerweise offene Grenzen wählen?

Sie mögen einwenden, wir sollten stattdessen für bessere politische und wirtschaftliche Institutionen überall auf der Welt sorgen. Dazu kann ich nur viel Glück wünschen! Die bisherigen Ergebnisse eines von außen angestoßenen Nation Building sind nicht ermutigend. Und bis dahin sollen ganze Generationen in der vergeblichen Hoffnung auf bessere Verhältnisse im Land ihrer Herkunft ausharren?

Die moralischen Gründe für offene Grenzen sind stark – unangenehm stark, betrachtet man sie vom Standpunkt der westlichen Wohlstandsgesellschaften, auf die noch viel mehr Wandernde zukommen könnten. Aber selbst angenommen, wir könnten diese stoppen: Wir bräuchten dazu Gründe, die unparteiisch und für alle akzeptabel wären, für die Bewohner der westlichen Staaten wie für die, die zu ihnen stoßen möchten. Da die Bewegungsfreiheit ein menschenrechtliches Gut ist, müssten auch die Gründe für ihre Beschränkung menschenrechtlich bedeutsam sein.

Das Dilemma, vor dem wir stehen: Wessen Recht wiegt schwerer?

Es gibt solche Gründe. Kein Staat muss Kriminelle bei sich einlassen oder Menschen, die eine rechtstaatliche Demokratie in einen Gottesstaat verwandeln wollen. Wer schon im Land lebt, hat auch Anrecht auf ein funktionierendes Bildungs- und Gesundheitswesen. In gewissem Sinne trägt die Tatsache, dass wir nicht irgendeinen Staat, sondern einen demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat haben, zur Verknappung der Aufnahmekapazitäten bei. Ein solcher  Staat kann nicht zulassen, dass Flüchtlinge im Winter in Zelten frieren, dass ihre Kinder nicht zur Schule gehen und die Gesundheitsversorgung lebensgefährliche Lücken aufweist.

Ein demokratischer Wohlfahrtsstaat muss daran interessiert sein, dass seine Bürger, die alten wie die neuen, eine gemeinsame Sprache sprechen. Er muss auf vertrauensvolle Beziehungen Wert legen, ohne die ein solidarisches Sozialsystem nicht lebensfähig bliebe. Er muss aufpassen, dass die Ärmeren unter den Einheimischen nicht die Hauptleidtragenden der Aufnahme werden: durch sinkende Löhne, steigende Mieten, schlechtere staatliche Schulen. Ökonomen neigen dazu, dies alles zu übersehen, weil sie den Wohlfahrtsstaat sowieso nicht schätzen und deregulierte Arbeitsbeziehungen vorzögen. Aber eine menschenrechtliche und gerechtigkeitsbezogene Betrachtung muss beide Gesichtspunkte ernst nehmen: den der individuellen Freizügigkeit und den der gesellschaftlichen Grundordnung.

Damit aber könnte uns die Realität schier unaufhaltsamer Wanderung vor ein Dilemma stellen. Vielleicht können wir nicht gleichzeitig immer mehr Menschen in immer kürzerer Zeit einlassen und unsere anspruchsvollen Standards gesellschaftlicher Integration bewahren. Sollte das wahr sein, so ist schwer zu sagen, wessen Standpunkt schwerer wiegt: der eines Menschen, der aus einem deutlich ärmeren Land kommt und für den eine weniger soziale Bundesrepublik immer noch eine recht wohnliche Gesellschaft wäre; oder der eines Menschen, der schon hier lebt und nun mit weniger Vertrauen und schwindender Sicherheit leben soll. Vielleicht gibt es darauf keine definitive Antwort. Aber ganz sicher würden wir beides, die Menschenrechte und unsere Demokratie, zerstören, würden wir auf Menschen, die in Not sind, unsere Waffen richten.

Bernd Ladwig ist Professor für politische Theorie und Philosophie an der Freien Universität Berlin.

Bernd Ladwig

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