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Weltkarte der Protestanten.

© Pew Research Center's Forum on Religion & Public Life, Studie Global Christianity, 2011. Grafi/Montage: Tsp

Evangelische Kirche: Wo leben Luthers Erben?

Die 800 Millionen Protestanten sind auf allen Kontinenten zu Hause. Die meisten leben in Afrika und Nord- und Südamerika. In Europa gibt es nur noch eine Minderheit.

Im deutschen Kernland der Reformation leeren sich die Kirchen, in Afrika, in Lateinamerika und in Asien füllen sie sich. Der Protestantismus ist längst zu einem weltweiten Phänomen mit mehr als 800 Millionen Gläubigen geworden, und er wächst permanent weiter. Allerdings leben nur noch eine Minderheit von knapp 13 Prozent der evangelischen Christen in Europa, 37 Prozent sind im südlichen Afrika zu Hause, 33 Prozent in Süd- und Nordamerika, 18 Prozent in Asien. Die am schnellsten wachsenden evangelischen Gemeinschaften befinden sich in Südkorea und China.

Die Ausbreitung des evangelischen Glaubens geht einher mit einer unüberschaubaren Pluralisierung der Frömmigkeitsstile, organisatorischen Formen, politischen Haltungen und ethisch-moralischen Positionen. Zur bunten Familie der Evangelischen zählen Lutheraner, Reformierte und Unierte, Baptisten, Pietisten und Methodisten, Mennoniten und Quäker, Evangelikale und Pfingstkirchen, auch die Anglikaner gehören dazu – und das sind nur die großen Strömungen. Unter ihnen gibt es politisch Linke und Rechte, es gibt Kriegstreiber und Pazifisten, Diktatorenfreunde und Demokraten, Rassisten und Befreiungstheologen. Es gibt die Bibelfundamentalisten, die alles wortwörtlich nehmen, und diejenigen, die selbst Jesus für eine Erfindung halten, Evangelikale glauben an Wunderheilungen, und Pfingstkirchler reden in Zungen, während andere rein rationale Zugänge zum Glauben suchen. In vielen Teilen des Westens sind Pfarrerinnen und Bischöfinnen selbstverständlich, anderswo sind Frauen in Talaren immer noch unvorstellbar. Evangelische Pfarrer in Deutschland trauen schwule und lesbische Paare und laden zu Trennungsgottesdiensten, Kollegen in Afrika halten Homosexualität für eine Strafe Gottes und Scheidungen für Teufelswerk.

Luther wollte keine neue Kirche gründen

Martin Luther hätte diese Vielfalt wohl nicht gefallen. Er wollte die Kontrolle behalten und reagierte ungehalten, sobald sich Gruppierungen anmaßten, aus seiner Lehre ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Eigentlich wollte er ja auch gar keine eigene Kirche gründen, sondern die katholische reformieren.

Am 31. Oktober 1517, am Tag vor Allerheiligen, veröffentlichte er seine 95 Thesen, weil er den katholischen Ablasshandel für einen Skandal hielt. Papst und Bischöfe versprachen den Gläubigen, sie könnten gegen Zahlung von Geld ihre Zeit im Fegefeuer verkürzen. Die katholische Kirche funktionierte damals – zumindest an der Spitze – mehr nach den weltlichen Gesetzen der frühkapitalistischen Bank- und Handelshäuser als nach christlichen Prinzipien. Wer Geld hatte, konnte sich alles kaufen: kirchliche Ämter, Paläste, Seelenheil. Wer nichts hatte, ging leer aus.

Martin Luther brachte das gut geölte System durcheinander, indem er behauptete, die Menschen könnten sich nicht vom Fegefeuer loskaufen, egal wie viel Geld sie haben. Sie müssten es aber auch gar nicht, denn Gott sei ihnen gnädig, auch den armen Schluckern und den Verbrechern. Sie müssten dafür lediglich fest an ihn glauben und Buße tun.

Luther nahm den Menschen ein Stück weit die Angst vor der Hölle

Auch schon vor Luther hatten Geistliche und Humanisten die Missstände in der Kirche angeprangert. Doch niemand traf den Nerv der Zeitgenossen so wie der Mönch aus Wittenberg. Das hing mit seiner Persönlichkeit zusammen, mit seiner Sprachkraft und seinem ungeheuerlichen Ausstoß an Texten, auch mit dem neu erfundenen Buchdruck und natürlich mit den weltpolitischen Umbrüchen Anfang des 16. Jahrhunderts. Es lag aber auch daran, dass Luther nicht nur an einem kleinen Rädchen drehte, sondern grundsätzlich einen Schalter umlegte – weg von einer Religiosität, die vor allem auf die äußerliche Befolgung von Regeln und die Verehrung von Heiligen und Reliquien abzielte, und hin zu einer neuen Innerlichkeit, der es um die unmittelbare, persönliche Beziehung von Mensch und Gott ging. Luther schwächte die Macht der Kleriker, ermutigte Menschen, selbst die Bibel zu lesen, und befreite viele Zeitgenossen ein Stück weit von ihrer Höllenangst – auch wenn er sich selbst weiterhin vom Teufel verfolgt fühlte.

Nicht nur der Maler Albrecht Dürer dankte dem „Doktor Martinus“, dass er ihm „aus großen Ängsten geholfen hat“. Überall im Deutschen Reich und in allen Bevölkerungsschichten fand er Anhänger. In Wittenberg siedelten sich Druckereien an, die nur davon lebten, dass sie Luthers Schriften verbreiteten, so groß war das Interesse.

Innerhalb weniger Jahre verbreitete sich Luthers Lehre in ganz Europa

Doch Papst und Kaiser wollten davon nichts wissen. 1521 wurde Luther als Ketzer exkommuniziert, der Bruch mit der Kirche, die er reformieren wollte, war unumkehrbar. Das tat Luthers Popularität keinen Abbruch – im Gegenteil. Die Schriften des Rebells, der den höchsten Autoritäten getrotzt hatte, verbreiteten sich in wenigen Jahren auf dem ganzen Kontinent. Ordensbrüder, Kaufleute, Universitätslehrer und Studenten brachten seine Schriften in Umlauf, wie der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann in seinem Buch „Erlöste und Verdammte“ beschreibt. Auch die Humanisten wollten, dass sich die Kritik an der Kirche verbreitete. In Nord- und Osteuropa wirkten die deutschen Bevölkerungsgruppen als Multiplikatoren.

Bereits 1519 diskutierten Professoren an der Pariser Sorbonne seine Thesen, 1520 beschäftigten sich Theologen in Cambridge, in den Niederlanden und in Prag damit. Aus ganz Europa kamen junge Männer an die Universität in Wittenberg, um die neue Lehre an ihren Quellen zu studieren.

Es gab aber auch die anderen, die Luthers Schriften auslegten, ohne den Meister um Erlaubnis zu fragen. Bauern wollten sich nicht länger von Fürsten und Lehnsherren knechten lassen, nachdem Luther von der „Freiheit eines Christenmenschen“gepredigt hatte. Die sogenannten Wiedertäufer lehnten Kindertaufe und Kriegsdienst ab und forderten eine klassenlose Gesellschaft, nachdem sie Luthers Aufforderung zum Bibelstudium gefolgt waren und von Jesu Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeitsvisionen gelesen hatten. Der Reformator schäumte vor Wut über so viel Eigenmächtigkeit und steigerte sich verbal in regelrechte Gewaltorgien hinein. Er verlangte von den Fürsten, die Abweichler, vorneweg die Bauern, „abzustechen, zu erschlagen und zu erdrosseln, wo es geht“. Doch alles Toben, Hetzen und Hassen nützte nichts: Umso erfolgreicher seine Lehre wurde, umso mehr entglitt Luther die Kontrolle.

In der Schweiz entwickelte Johannes Calvin seine asketische, strikt vom Staat getrennte Form des Protestantismus, predigte Fleiß und Arbeitseifer und ging auch beim Abendmahl eigene Wege. Hundert Jahre später entdeckten die Pietisten Luthers Idee vom Priestertum aller Getauften neu und erprobten Formen, wie sich Laien – vor allem auch die Frauen – an der Gemeinde stärker beteiligen können. Europäische Auswanderer und Glaubensflüchtlinge nahmen ihre Religion mit in die Neue Welt, Missionare wie die Herrnhuter Brüder brachten die reformatorische Lehre bis in die Südsee. Die Einheimischen eigneten sich den Glauben auf ihre Weise an und transformierten ihn. Die einst Missionierten senden heute ihrerseits Missionare nach Europa, um die in ihren Augen im Glauben erschlafften Europäer neu zu begeistern.

Luther hatte die Vielfalt zwar nicht beabsichtigt, aber in seiner Lehre vom Priestertum aller Getauften angelegt. Jeder Christ sollte selbst die Bibel lesen und persönlich in Beziehung zu Gott treten. Die Bedeutung der Kirche als Institution und Gemeinschaft trat für seine Erben folgerichtig in den Hintergrund. Der Reformator sah auch keine oberste Lehrinstanz vor, die wie der Papst in der katholischen Kirche bestimmen kann, welche Glaubensinhalte zulässig sind. So interpretiert jede Generation, Nation und Ethnie die reformatorischen Lehren neu und so, dass sie zu den eigenen Bedürfnissen passen. Jetzt sind es vor allem die Chinesen und Koreaner, die Kongolesen und Nigerianer, die Luthers und Calvins Schriften übersetzen und neu rezipieren.

Die Pluralisierung macht die Verständigung schwierig

Einigkeit besteht weltweit lediglich darüber, dass die Predigt im Mittelpunkt des evangelischen Gottesdienstes steht, dass der Gemeindegesang sehr wichtig ist und dass Taufe und Abendmahl die einzigen heiligen Handlungen sind. Für die weltweite Protestantenschar spielt nach wie vor auch die Bildung eine wichtige Rolle, und zumindest theoretisch ist allen klar, dass Laien ein ebenso großes Mitspracherecht haben sollten wie die Geistlichen.

Die Pluralisierung des Glaubens trägt zur großen Dynamik und Lebendigkeit des Christentums bei, sie macht die weltweite Verständigung aber nicht einfach. Vielen Evangelischen in Deutschland stehen die deutschen Katholiken heute näher, was die Frömmigkeit, die politische und die ethisch-moralische Haltung angeht, als die Evangelikalen und Pfingstkirchler aus anderen Teilen der Welt. Und Martin Luther? Wäre der 2017 willkommen beim großen „Christusfest“ in Wittenberg? Christina Aus der Au, Schweizer Theologin und Präsidentin des Evangelischen Kirchentags 2017, hat ihre Zweifel. Denn wer sich rassistisch äußert, habe nichts zu suchen auf den Podien des Christentreffens. „Seine Judenfeindlichkeit hätte Luther wahrscheinlich disqualifiziert“, sagte sie vor einigen Tagen dem Deutschlandfunk.

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