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Europäische Wertegemeinschaft: Leben statt reden

Politiker, Funktionäre, Bischöfe beschwören jetzt wieder "unsere Werte". Doch statt einen diffusen Begriff zu überhöhen, ist es besser, ganz normal den schnöden Alltag zu leben - mit all seinen Widersprüchen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Claudia Keller

Unsere Werte werden am Hindukusch verteidigt, bei Protesten gegen das Handelsabkommen TTIP, mit Grenzzäunen und neuerdings auf Fußballplätzen und Weihnachtsmärkten. Sich bei seinem Handeln auf westliche Werte zu berufen, hatte schon vor dem 13. November Konjunktur. Seit der furchtbaren Terrornacht von Paris ist es inflationär geworden.

Das Beschwören „unserer Werte“ tut gut in diesen angstvollen Tagen, es klingt feierlich, nach Autorität. Menschen in Berlin, Brüssel und Paris sind auf einmal mehr als nur Bürger, Verbraucher oder Verkehrsteilnehmer, die ihren schnöden Alltag leben. Sie sind eine „Wertegemeinschaft“, wehrhaft und stark. Die Rede von den Werten soll zusammenschweißen, zur Selbstvergewisserung beitragen. Jetzt, wo so viel von Krieg gesprochen wird, ist die Wertegemeinschaft aber auch zum Kampfbegriff geworden: gegen islamistischen Terror. Für manche auch zum Kampfbegriff gegen den Islam an sich, gegen Flüchtlinge und alles Fremde.

Die "Wertegemeinschaft" ist zum Kampfbegriff geworden

Plötzlich muss alles dafür herhalten, um auf den einen kämpferisch-erhebenden Nenner gebracht zu werden. Doch beim Fußball geht es um den Spaß, sich mit einer anderen Mannschaft zu messen, auf Weihnachtsmärkten um den Duft der Kindheit, Bratwurst und Glühwein. Mit Grenzzäunen werden Flüchtlinge abgewehrt, auf Anti-TTIP-Demos der vermeintliche amerikanische Raubtierkapitalismus. Und welches Christentum ist gemeint, wenn es um christliche Werte geht: das der deutschen Bischofskonferenz oder christlicher Abtreibungsgegner? Geht es um die Ideale der Französischen Republik: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? wie passt dazu, wie Pariser aus der City mit denen aus den Vorstädten umgehen und umgekehrt?

Die meisten Menschen in Deutschland, Frankreich und den USA denken wohl an Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und einen Lebensstil, der auf Vielfalt inklusive Konsum setzt, wenn sie von den Werten sprechen, die es zu verteidigen gelte. Doch was genau diesen freiheitlichen Lebensstil auszeichnet, wandelt sich ständig. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die jetzt gern gegen „den“ Islam in Stellung gebracht wird, galt nicht nur in der CSU vor wenigen Jahrzehnten noch nicht als zu verteidigender Wert. Und während Politiker in Reden freiheitliche Werte besonders hochhalten, schränken sie die Freiheiten durch Gesetze ein wie lange nicht mehr. Sie sehen sich dabei in Einklang mit den Wählern, denn viel wichtiger als die Freiheit ist den Europäern die Sicherheit. So hat es für Deutschland der „Freiheitsindex 2015“ des John-Stuart-Mill-Institut für Freiheitsforschung und der Allensbacher Demoskopen ergeben.

Was mit den Werten gemeint ist, bleibt diffus

Schutz ist wichtig. Wir sollten uns mithilfe von Polizei und Geheimdiensten vor Terror schützen, so gut es geht. Doch wir sollten rhetorisch abrüsten. Deutschland hat eine sehr gute und stabile Rechtsordnung. Sie garantiert viele Freiheitsrechte und schafft die Grundlage dafür, dass jeder auf seine eigene Art leben, lieben und trauern kann, jeder glauben und zweifeln darf. Denn das Leben ist so vielfältig und widersprüchlich wie jedes einzelne Individuum. Für die Terroristen des „IS“ gilt das Kollektiv alles, das einzelne Leben nichts. Kollektive Werte und Einigkeit zu beschwören, bedeutet, sich bereits ein Stück weit auf ihre Argumentation einzulassen. Besser ist es deshalb, einfach möglichst normal weiterzuleben.

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