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EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger.

© Julien Warnand/dpa

EU und der Brexit: "Großbritannien hat bis 2020 finanzielle Verpflichtungen"

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger sieht keine Chance, dass sich Großbritannien nach dem Brexit besser als Norwegen oder die Schweiz stellen kann.

Herr Oettinger, der britische Brexit-Minister David Davis hat für die EU-Austrittsgespräche in Brüssel das Motto der „kreativen Ambiguität“ ausgegeben. Was halten Sie von diesem Ansatz?

Wir begrüßen jede Bereitschaft unserer britischen Partner, jetzt mit hoher Geschwindigkeit Lösungen zu finden, die auf klaren Rechtsgrundsätzen beruhen. Wir haben schon zu viel Zeit verloren. Ich bin sehr gespannt, wie sich die Regierung in London nach dem Parteitag der Tories Anfang Oktober bei den weiteren Verhandlungen verhält.

Wie schnell müssen dann beide Seiten eine Einigung über die britische Austrittsrechnung herbeiführen?

Die vom EU-Chefverhandler Michel Barnier erarbeitete Tagesordnung bei den Brexit-Gesprächen, die von den Briten akzeptiert wurde, sieht vor, dass wir Fortschritte oder Lösungen bei drei Fragen brauchen: Erstens die Regelung des Grenzverkehrs zwischen Irland und Nordirland. Zweitens muss es Klarheit bei den Rechten der 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien und der 1,2 Millionen Briten in den verbleibenden 27 EU-Ländern geben. Und drittens geht es um die finanzielle Gesamtrechnung. In diesem Punkt ist aus unserer Sicht die Rechtslage klar: Großbritannien ist im Rahmen des EU-Finanzrahmens bis Ende 2020 Verpflichtungen eingegangen. Diese Verpflichtungen muss London erfüllen – und zwar bis zum Ausscheiden im März 2019, aber auch danach, wenn bereits beschlossene Programme dann umgesetzt werden.

Wie muss die Lösung bei der Austrittsrechnung aussehen, so dass man zum nächsten Schritt der Verhandlungen übergehen kann – nämlich den Gesprächen über die künftigen Handelsbeziehungen?

Wir müssen erreichen, dass die Systematik bei der Austrittsrechnung akzeptiert wird. Das bedeutet: Großbritannien ist bis zum Ausscheiden aus der EU im März 2019 Vollmitglied mit allen Rechten und Pflichten. Aber der Haushaltsrahmen, der von den Briten mitbeschlossen wurde, reicht noch 21 Monate weiter. Dies muss London zunächst einmal akzeptieren. Über den letzten Euro und Cent kann man dann noch lange verhandeln.

Hat London auch über Ende 2020 hinaus finanzielle Verpflichtungen?

Ja. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für nachwirkenden Verpflichtungen, die über das Jahr 2020 hinausreichen: Wenn man jetzt im ersten Halbjahr 2018 für den Bau einer Schnellbahntrasse entlang der Donau die Ko-Finanzierung durch die Europäische Union zusagt, dann heißt das: Die Trasse wird geplant, gebaut, in Betrieb genommen und dann abgerechnet. Das kann dann weit in das nächste Jahrzehnt hineinreichen. Alles was man gemeinsam beschließt, muss dann auch gemeinsam bezahlt werden.

Einige Wortmeldungen aus London lassen darauf schließen, dass London eine Trennungszahlung von mehreren Dutzend Milliarden Euro leisten will. Damit sollen aber möglicherweise auch gleich eventuelle Zahlungen in die EU-Kasse, die während einer Übergangsphase bei einer weiteren Mitgliedschaft im europäischen Binnenmarkt denkbar wären, abgegolten sein. Könnte so eine Lösung funktionieren?

Unsere Rechnungen beziehen sich auf die Gegenwart. Und diese Rechnungen müssen anerkannt werden. Wenn das der Fall ist, gibt es eine Grundlage, auf der die europäischen Staats- und Regierungschefs der EU-Kommission ein Mandat erteilen, um über die Zukunft zu sprechen. Aber einen Deal, bei dem Gegenwart und künftige Beziehungen vermengt werden, halte ich nicht für denkbar.

Das heißt: Falls Großbritannien für eine Übergangszeit über 2019 hinaus im Binnenmarkt bliebe, müsste London auch erneut EU-Beiträge zahlen?

Wir haben mit Nicht-Mitgliedstaaten intensive Binnenmarkt-Beziehungen – denken Sie an Norwegen oder die Schweiz. Wir können die britischen Freunde gleichstellen, aber nicht besserstellen.

Bedeutet Londons Ausscheiden aus der Zollunion, dass es eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland geben muss?

Das Problem lässt sich nicht leicht lösen. Natürlich ist die Freizügigkeit und der offene Grenzverkehr ein sehr großer Vorteil, den ich aus Baden-Württemberg und dem Elsass kenne. Andererseits: Wenn man die Freizügigkeit schon einschränken muss, dann kommt man auch an Kontrollen nicht vorbei. Zunächst müssen die Briten darlegen, wie sie das Problem lösen wollen, das mit dem Austritt aus der Zollunion entsteht. Und wir werden dann die Interessen Irlands in den Verhandlungen vertreten.

Wie groß ist die Gefahr, dass die EU und Großbritannien im März 2019 ganz ohne Vereinbarung dastehen?

Wir arbeiten auf eine ausgewogene Lösung hin, die auf klaren Rechtsgrundsätzen beruht. Ausschließen kann man nichts. Es ist nur eines relativ klar: Am 29. März 2019 verlässt Großbritannien die EU. Bis Oktober nächsten Jahres müssen wir ein Gesamtpaket haben. Da es sich dabei um ein gemischtes Abkommen handelt, müssen alle Parlamente in der EU zustimmen, auch der Bundestag. Die Abgeordneten brauchen Zeit, um zu diskutieren und öffentlich zu beraten. Deshalb besteht die Gefahr, dass uns am Ende die Zeit davonläuft. Aber um es klar zu sagen: Für beide Seiten besteht die schlechteste Lösung darin, dass es gar keine Einigung gibt.

Der Brexit dürfte auch in der Rede zur Lage der Union eine Rolle spielen, die EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker an diesem Mittwoch hält. Sehen Sie eigentlich noch die Möglichkeit eines „Exit vom Brexit“?

Das müssen die Briten entscheiden. Laut Umfragen ist eine Mehrheit der Briten nach wie vor für den Brexit. Angesichts der nachteiligen Entwicklung im Vereinigten Königreich wie dem sinkenden Pfund-Kurs und dem geringeren Wirtschaftswachstum kann man aber auch ein Umdenken nicht ausschließen. Die Entscheidung liegt aber beim Unterhaus, der Regierung und der britischen Bevölkerung.

Welche Folgen hat Großbritanniens Austritt für die Euro-Zone? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will ja ein eigenes Budget für die Euro-Zone.

Wenn die Briten die EU verlassen, werden die 19 Euro-Staaten 85 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung umfassen. Und nur 15 Prozent werden von den acht Mitgliedstaaten erbracht, die nicht Mitglied in der Währungsunion sind. Ich gehe davon aus, dass der bulgarische Ministerpräsident Boyko Borissow bei der Übernahme der EU-Präsidentschaft durch Sofia Anfang 2018 erklären wird, dass sein Land dem Euro beitreten will. Wir sollten nicht einen neuen Haushalt für die Euro-Zone aufbauen, der sich angesichts der Erweiterung der Währungsunion in wenigen Jahren erledigen wird. Es wäre besser, wenn wir während der nächsten EU-Haushaltsperiode alle Instrumente für sämtliche Mitgliedstaaten zur Verfügung haben.

Das Gespräch führte Albrecht Meier.

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