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Verschifft. Ohne sie zu identifizieren, schickte man die 24 Kläger nach Libyen zurück. Wie Hunderte mehr waren auch sie vor Lampedusa aufgegriffen worden.

© AFP

EU-Grenzpolitik: Straßburger Richter geben Bootsflüchtlingen recht

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof gibt 24 Flüchtlingen recht, die gegen ihren Willen nach Libyen abgeschoben wurden. Das Urteil könnte massive Folgen für die EU-Grenzpolitik haben.

Verurteilt wurde Italien, aber die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an diesem Donnerstag dürfte die gesamte, auf Abschottung angelegte europäische Grenzpolitik in Frage stellen: Die Straßburger Richter sprachen im Fall „Hirsi Jamaa und andere gegen Italien“ einstimmig 24 afrikanischen Klägern eine Entschädigung von je 15.000 Euro und Kostenerstattung zu. Italien habe 2009 gleich mehrfach gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, als es sie nach Libyen abschob, befanden die Richter. Zwei der Betroffenen nützt das Urteil nichts mehr: Sie sind inzwischen bei weiteren Versuchen nach Europa zu gelangen, ertrunken.

Die drei Boote der Kläger – elf eritreische und 13 somalische Frauen und Männer – waren am 6. Mai 2009 zusammen mit mehr als 200 anderen von Schiffen der italienischen Küstenwache 35 Meilen südlich der sizilianischen Insel Lampedusa aufgegriffen worden. Ohne sie zu identifizieren, sie anzuhören oder ihnen auch nur zu sagen, wohin man sie bringen würde, waren die Afrikaner, darunter schwangere Frauen und Kinder, nach Libyen verschifft worden. Im Hafen von Tripolis nahm sie sofort die Polizei in Empfang – noch herrschte Muammar al Gaddafi – und verteilte sie auf die Gefängnisse des Landes. Einige wurden dort gefoltert.

Dass es zu dieser Klage überhaupt kam, verdanken sie einem glücklichen Zufall: An Bord eines der Schiffe war der italienische Fotojournalist Enrico Dagnino, der die Operation in seinen Bildern festhielt. Den römischen Rechtsanwälten Anton Giulio Lana und Andrea Saccucci gelang es anschließend, die Spur der Abgeschobenen aufzunehmen und von wenigstens 24 von ihnen Vollmachten zu erhalten, um den Fall schließlich vor den Menschenrechtsgerichtshof zu bringen.

Italiens damaliger Innenminister hatte sich auf ein bilaterales Abkommen berufen, mit dem sich das Gaddafi-Regime verpflichtete, Flüchtlinge zurückzunehmen. Es wurde erst im Februar 2011 wegen des Umbruchs in Libyen ausgesetzt. 2010 hatte die Europäische Union ein vergleichbares Abkommen mit Gaddafi geschlossen. Und erst in dieser Woche sagte der Ministerpräsident der Übergangsregierung, Abdelrahim Al Kib, dem belgischen Außenminister Didier Reynders in Tripolis Unterstützung bei der Abwehr illegaler Einwanderer zu. „Wir wollen unsere Freunde und Partner im Norden schützen, indem wir die illegale Einwanderung bekämpfen“, zitiert ihn die Nachrichtenagentur dpa.

Die 17 Straßburger Richter der Großen Kammer stellten in ihrem Grundsatzurteil fest, dass Italien gegen Artikel 3 der Menschenrechtskonvention verstoßen habe, denn die Abschiebung nach Libyen „in voller Kenntnis der Lage“ habe die Kläger inhumaner und demütigender Behandlung ausgesetzt. „Die italienischen Behörden wussten oder hätten wissen müssen, dass es keine ausreichenden Garantien gab, sie vor der willkürlichen Ausweisung in ihre Herkunftsländer zu schützen.“ Außerdem bekräftigten sie das Verbot kollektiver Abschiebungen, ohne dass zuvor der einzelne Fall geprüft wird.

Von noch grundsätzlicherer Bedeutung dürfte allerdings sein, dass das Gericht zum ersten Mal entscheiden musste, ob dieses Verbot auch für Fälle außerhalb des nationalen Territoriums gilt. Die Richter bejahten: Die Kläger hätten im vorliegenden Falle unter italienischer Hoheit gestanden, wenn auch außerhalb italienischer Gewässer.  Also sei ihre zwangsweise Rückführung nach Libyen einer kollektiven Abschiebung aus Italien gleichgekommen.

Die italienische Beobachtungsstelle „Fortress Europe“ lobte das Urteil als bedeutend. Wichtig sei aber auch das Schicksal der anderen tausend Flüchtlinge zu klären, die wie die Straßburger Kläger allein im Jahr 2009 abgeschoben wurden. Fraglich sei, welche politischen Folgen das Urteil nach dem Regimewechsel in Libyen habe.

Fortress Europe wertet seit Jahren Augenzeugenberichte und Nachrichten in Medien rund ums Mittelmeer aus und dokumentiert so die Todesopfer unter den Flüchtlingen. In den vergangenen 25 Jahren sind demnach mehr als 18.000 Menschen auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen, allein 2011 waren es nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks 1500. Die Anerkennungszahlen derjenigen, die es nach Europa schaffen zeigen jedoch, dass sie mit ihrer Flucht durchaus Aussicht auf Erfolg haben:  Allein auf Lampedusa wurden nach einem Bericht von Human Rights Watch 2008 von Januar bis August fast 80 Prozent aller Asylanträge anerkannt; im Schnitt ist es etwa die Hälfte.

Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte sieht durch das Urteil nicht nur Italien in die Pflicht genommen. Die gesamte EU-Grenzpolitik, die die Außenkontrolle immer weiter von den eigenen Grenzen weg vorverlagere, sei so jetzt nicht mehr zu halten. „Auch Deutschland ist in der Verantwortung und wird sich im Rahmen der europäischen Rechtsetzung dafür einsetzen müssen, das Menschenrechtsstandards eingehalten werden.“ Solange dies etwa für die Einsätze der europäischen Grenzschutzagentur Frontex nicht klar sei, müsse Deutschland „jede Unterstützung und Beteiligung an diesen Einsätzen einstellen“, sagte Cremer.

Das bestehende Regelwerk erlaubt etwa, dass Frontex weitgehend die Kontrollgewalt über Flüchtlingsboote und ihren Kurs auf hoher See übernimmt: „Das geht nach diesem Urteil nicht mehr.“ Im vergangenen Jahr, als nach UNHCR-Angaben 56 000 Flüchtlinge Italien erreichten, hat Deutschland übrigens genau 100 Schwarzafrikaner aus Malta aufgenommen.

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