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Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel.

© imago/Belga

EU-Gipfel: Merkel will Kürzung der EU-Hilfen für die Türkei

Beim EU-Gipfel will sich Kanzlerin Angela Merkel wegen der bedenklichen rechtsstaatlichen Entwicklung in der Türkei dafür einsetzen, dass die EU-Vorbeitrittshilfen für Ankara eingeschränkt werden.

Europa bleibt eine Baustelle. Man kann es als Sinnbild sehen, dass die Teilnehmer des zweitägigen EU-Gipfels am Donnerstag nicht im futuristischen Neubau im Brüsseler Europaviertel tagen. Wegen giftiger Küchendämpfe musste der Gipfel in das benachbarte Justus-Lipsius-Gebäude verlegt werden. Der groß angelegte Umbau der Europäischen Union, den Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anstrebt, soll beim zweiten Gipfeltag zum Thema werden. Für das Arbeitsfrühstück am Freitag hat EU-Ratschef Donald Tusk eine Diskussion über einen Fahrplan für Entscheidungen, etwa über die Reform der Euro-Zone, auf die Agenda gesetzt. Bevor aber die Konturen einer erneuerten EU sichtbar werden, dürften noch etliche Monate ins Land gehen – Monate, die auch in Deutschland zur Regierungsbildung benötigt werden.

Einen Nachhall fand in Brüssel die Ankündigung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) aus Wahlkampfzeiten, sie werde im Kreis der Staats- und Regierungschefs beim Oktober-Gipfel darüber beraten, ob man die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei abbrechen könne. Zum Auftakt des Gipfels erklärte Merkel am Donnerstag in Brüssel, sie habe wegen der Verhaftung zahlreicher deutscher Staatsbürger und der negativen Entwicklung des Rechtsstaats in dem Land am Bosporus darum gebeten, dass über die Türkei diskutiert werde. Allerdings war schon im Wahlkampf beim TV-Duell mit ihrem SPD-Herausforderer Martin Schulz, als Merkel ihre Ankündigung zur Türkei machte, klar gewesen, dass es für einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit Ankara auf EU-Ebene keine Mehrheit gibt. Ein entsprechender Beschluss würde die Einstimmigkeit sämtlicher 28 EU-Staaten erfordern.

Deshalb wollen sich Merkel und Co. beim Gipfel auch nicht mit der großen Drohung eines Abbruchs der Beitrittsgespräche beschäftigen, sondern eher mit dem Kleingedruckten im Verhältnis zwischen der EU und der Türkei. Dabei geht es um die so genannten EU-Vorbeitrittshilfen, mit denen die Beitrittsfähigkeit der Türkei unterstützt werden soll. Zwischen 2014 und 2020 sind für diese Hilfen im EU-Haushalt 4,45 Milliarden Euro eingeplant. Bislang wurden davon allerdings nur 260 Millionen Euro ausgezahlt. Merkel sagte in Brüssel, sie werde sich beim Gipfel dafür einsetzen, dass die Vorbeitrittshilfen weiter eingeschränkt werden. Allerdings müsse der Gipfel in dieser Frage geschlossen vorgehen, betonte Merkel.

Gleichzeitig würdigte Merkel die Rolle der Türkei bei der Hilfe für Flüchtlinge. Ankara leiste „Außergewöhnliches“ für die Flüchtlinge im Land, erklärte die Kanzlerin. Deshalb solle die EU ihr Versprechen einhalten, Ankara insgesamt sechs Milliarden Euro im Rahmen der EU-Türkei-Vereinbarung zur Verfügung zu stellen.

Zuvor hatte es aus Regierungskreisen in Berlin zudem geheißen, dass es auch Heranführungshilfen gebe, welche die Bundesregierung als sinnvoll erachte. Seit es nach dem Putschversuch vom Juli 2016 zu einer massiven Einschränkung der demokratischen Freiheiten gekommen ist, kommt die EU-Hilfe nach Angaben der Brüsseler Kommission hauptsächlich der Zivilgesellschaft und rechtsstaatlichen Projekten zu Gute.

Macron tritt bei Freihandelsverträgen auf die Bremse

Während sich Merkel in Brüssel wegen der laufenden Sondierungen über eine Jamaika-Koalition Zurückhaltung auferlegen muss, kann Macron als neue europäische Führungsfigur deutlich offensiver auftreten. Frankreichs Präsident, der im vergangenen Monat bei seiner Rede an der Sorbonne eine „Neugründung“ der EU vorgeschlagen hatte, nutzte die Bühne des Gipfels am Donnerstag zur Symbolpolitik. Er bekräftigte die „Verbundenheit“ Frankreichs mit der Europaflagge und Beethovens „Ode an die Freude“ als Symbole der EU. Macron durchkreuzt damit das Ansinnen des französischen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, die Europaflagge aus der Pariser Nationalversammlung zu verbannen.

Dass die EU den Franzosen allerdings nicht in allen Punkten Freude bereitet, möchte Macron in Brüssel aber ebenfalls verdeutlichen. Beim Abendessen will sich Frankreichs Staatschef dafür aussprechen, dass die EU bei ihren gegenwärtigen Verhandlungen über Freihandelsabkommen mit Lateinamerika, Australien und Neuseeland auf die Bremse tritt. In der vergangenen Woche hatte Macron bei einem Besuch auf dem Großmarkt Rungis bei Paris erklärt, dass das geplante EU-Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Mercosur-Bund den französischen Landwirten Nachteile bringen könne. Er sei dagegen, die EU-Gespräche mit den Mercosur-Staaten bereits Ende dieses Jahres abzuschließen, hatte Macron erklärt.

Theresa Mays Charme-Offensive beim Brexit

Unterdessen richtete sich die britische Regierungschefin Theresa May unmittelbar vor dem Gipfel in einem offenen Brief an die rund drei Millionen EU-Bürger in Großbritannien. „Die EU-Bürger, die ihr Leben hier aufgebaut haben, haben einen großen Beitrag zu unserem Land geleistet. Und wir wollen, dass sie mit ihren Familien hier bleiben“, schrieb May. Sie sei zuversichtlich, dass es in den kommenden Wochen bei den Brexit-Gesprächen eine Einigung über die künftigen Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und der Briten auf dem Kontinent geben werde, erklärte May in dem Schreiben. Sie sicherte zu, dass die geplante Austrittsvereinbarung Sicherheit beim Aufenthaltsrecht, bei der Gesundheitsversorgung sowie bei Renten und andere Sozialleistungen bringen werde. „EU-Bürger, die in das britische System eingezahlt haben, und Briten, die in das System eines EU-27-Landes eingezahlt haben, werden den Nutzen aus ihrem Beitrag ziehen können“, schrieb die Regierungschefin.

Trotz Mays Charme-Offensive wurde beim Gipfel mit Blick auf die Brexit-Verhandlungen allerdings nicht mit einem Durchbruch gerechnet. Vor allem wegen des schleppenden Verlaufs bei den Gesprächen über die finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens beim EU-Austritt wird nicht vor dem nächsten EU-Gipfel im Dezember eine Entscheidung darüber erwartet, ob die nächste Verhandlungsphase beginnen kann. London dringt darauf, möglichst rasch über die künftigen Handelsbeziehungen zwischen den verbleibenden 27 EU-Staaten und Großbritannien zu reden. Immerhin möchten die Staats- und Regierungschefs der EU-27 den Briten beim Gipfel ein kleines Stück entgegenkommen: Laut dem Entwurf der Schlusserklärung wollen die EU-Staaten ohne Großbritannien schon einmal intern mit ihren Beratungen über die Handelsbeziehungen zum Vereinigten Königreich beginnen.

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